17. Kapitel

»Hilf mir«, rief Jutta von irgendwo her, aber ich konnte sie nicht sehen. Ich blickte in einen schwarzen Brunnen, der unendlich tief zu sein schien. Jutta war da unten, ich wusste es genau. Aber was sollte ich tun? Ihr Gesicht erschien, und sie streckte mir den Arm entgegen. »Hilf mir«, rief sie immer wieder; ihr Gesichtsausdruck war verzweifelt, und ich beugte mich über die Steinmauer, die das Brunnenloch umfasste, und versuchte, ihre Hand zu packen. Es fehlten nur wenige Zentimeter, und ich schob mich langsam weiter nach vorn, Stück für Stück. Jeden Moment drohte ich das Gleichgewicht zu verlieren. Jutta nickte mir zu. »Los, nur noch ein kleines Stückchen. Du schaffst es.« Auf einmal war sie weg. Ich richtete mich auf und sah mich um. Ich war in Mölichs Wohnzimmer und betrachtete die Poster von den kaffeebraunen Mädchen. Leise Musik erfüllte den Raum.

Ich wollte die Augen aufschlagen, aber es ging nicht. Sie waren schon geöffnet.

Mölich saß in einem der Sessel, ein Bein über das andere geschlagen. In der rechten Hand hielt er meine Beretta und sah mich aufmerksam an. Er wirkte ganz entspannt und rauchte einen dünnen, braunen Zigarillo. Die Musik im Hintergrund, die ich durch das Dröhnen in meinem Kopf als rhythmisches Gerassel wahrnahm, war Samba.

»Mögen Sie die Musik?«, sagte er.

Ich lag auf dem Boden. Als ich mich bewegen wollte, spürte ich, dass meine Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Etwas schnitt in meine Handgelenke, wahrscheinlich Handschellen.

Vorsichtig versuchte ich, meinen Oberkörper aufzurichten. Mölich sah mir unbeteiligt dabei zu. Ab und zu nahm er einen Schluck aus einem Glas, das neben ihm auf einem Tischchen stand. Als ich es schließlich geschafft hatte, mich hinzusetzen, wäre ich beinahe wieder umgekippt. Ich brauchte dringend was zum Anlehnen. Hinter mir erhob sich eins der turmhohen Regale.

Millimeterweise rutschte ich zurück. Als ich es erreicht hatte und mich an das Metall lehnte, wurde mir wieder schwarz vor Augen. Ich verharrte in der unbequemen Stellung, bis der Blick auf Mölich wieder klar geworden war.

Als ich Mölich wieder ins Blickfeld bekam, saß er immer noch da bei Tabak und Schnaps. Er schien das Ganze ziemlich unterhaltend zu finden.

»Was glotzen Sie so?«, sagte ich. »Erzählen Sie mir lieber was. Zum Beispiel, wie Sie Ratnik kennen gelernt haben. Oder was mit seiner Frau passiert ist. Und dem Kind.«

Ich hatte gedacht, ich könnte Mölich provozieren, aber das funktionierte nicht. Er saß nur da und lauschte der Musik. Immer wieder griff er zu seinem Glas, und dabei bemerkte ich wieder das bunte Bändchen an seiner Hand, das mir schon aufgefallen war, als ich mit ihm in seinem Büro gesprochen hatte.

»Ist das auch was Brasilianisches, was Sie da an der Hand tragen?«, fragte ich.

Mölich leerte das Glas. »Sind Sie schon mal in Brasilien gewesen?«, fragte er, als hätten wir uns gerade auf einer Stehparty getroffen.

Ich schüttelte den Kopf. Er hob die Hand.

»Die Dinger heißen fitinhas do bonfim. Es ist ein Glücksbringer. Sehen Sie hier die Knoten? Jeder Knoten bedeutet einen Wunsch. Und wenn man das Bändchen trägt, dann werden einem die Wünsche erfüllt.«

»Und was haben Sie sich gewünscht?«

»Etwas, das Ihnen bestimmt nicht gefällt.«

Jetzt war auch sein Zigarillo am Ende, und er drückte ihn aus. Ein paar bläuliche Schwaden hingen noch in der Luft. Die Musik dudelte im Hintergrund unverdrossen weiter.

Warum unternahm Mölich nichts? Worauf wartete er? Wollte er mich heute Abend noch um die Ecke bringen, musste aber vorher noch eine große Ladung Brasilien tanken? Ich musste ihn zum Reden bringen.

»Erzählen Sie mir von Brasilien«, sagte ich. »Wie oft waren Sie denn da?«

Er schüttelte den Kopf. »Was soll die Frage? Das interessiert Sie doch gar nicht.«

In die Musik mischte sich ein elektronisches Geräusch. Mölich ging zur Stereoanlage, die sich auf der anderen Seite neben dem Fenster befand und stellte den Samba ab. Das Signal jaulte jetzt solo durch den Raum; es war ein Telefon. Mölich behielt mich im Auge und ging zu einem niedrigen Regal, wo ein schnurloser Hörer lag. »Ja?«

Auf der anderen Seite wurde gesprochen. Mölich nickte, kam aber eine ganze Weile nicht zu Wort.

»In Ordnung«, sagte er schließlich. »Aber es gibt noch was.« Er hatte mich ein, zwei Sekunden aus den Augen gelassen und drehte sich jetzt wieder zu mir. »Es hat sich was verändert… Der Schnüffler ist bei mir … Ja.« Er senkte die Stimme. Ich verstand nur etwas von »… das habt ihr doch verbockt … jetzt kümmert euch auch darum.«

Mölich geriet mit der anderen Seite immer mehr in Streit. Es drängte ihn plötzlich, durch den Raum zu wandern; die Pistole hatte er dabei in den hinteren Hosenbund gesteckt.

Ich versuchte mich zu bewegen. Langsam floss wieder Blut durch meine Arme und Beine.

Jetzt stand Mölich am Fenster und fuhr sich durchs Haar.

Ich schaffte es, mich langsam am Regal aufzurichten. Stück für Stück schob ich mich an dem Metall empor, immer vorsichtig, damit die Flaschen, die darin standen, nicht klirrten.

Es gelang mir, stehen zu bleiben und sogar ein paar Schritte in Richtung Mölich zu gehen. Ich würde meinen Kopf als Rammbock benutzen müssen. Vielleicht hatte ich ja so den Überraschungsvorteil.

Mölich wandte mir immer noch den Rücken zu.

»Aber … es geht nicht anders. Ich weiß, was heute los ist…«

Plötzlich drehte er sich um. Ich war auf ihn zugewankt, hatte aber noch mindestens zwei Meter vor mir.

»Moment mal«, rief Mölich ins Telefon, legte den Hörer hin, kam ein paar Schritte auf mich zu und versetzte mir gleichzeitig einen Schlag vor die Brust, der mich hinterrücks zu Boden gehen ließ.

Ich krachte schmerzhaft aufs Steißbein, und während der Schmerz noch in meinem Rücken wühlte, zerrte mich Mölich durch den ganzen Raum, hievte mich nach oben, packte mich mit unglaublicher Kraft. Er stieß mich gegen die Metallleisten und nutzte meine Benommenheit, um mich mit dem Gesicht nach vorn mit den Handschellen an dem Regal anzuschließen. Jetzt hing ich an dem Ding wie am Pranger, allerdings verkehrt herum - mit dem Rücken zum Raum. Die Handschellen hatte Mölich um den rechten Eckpfeiler des Regals geschlungen, der einen Durchmesser wie ein Gartenzaunpfosten hatte. Ich konnte jetzt nichts mehr sehen bis auf den Rücken eines Bildbandes, der sich genau vor meiner Nase befand: »Sao Paulo für Genießer«.     

Ich hörte, wie Mölich in den Raum zurückstapfte und das Telefonat wieder aufnahm.

»Schluss jetzt mit der Diskussion. Der Typ ist gefährlich. Ihr macht ihn kalt, oder alles fliegt auf.«

Er ging ein paar Schritte. Offenbar brachte er das Telefon zur Station zurück.

Ich zerrte an den Handschellen. Glas klirrte.

»Dumm gelaufen, Rott«, sagte Mölich hämisch irgendwo hinter mir. Ich hörte, wie er näher kam. »Sie haben wohl gedacht, ich falle auf Ihr Spielchen mit dem Dealer in Solingen rein, was? War doch klar, dass Sie hier auftauchen würden. Wo Sie das Haus meiner Mutter gefunden haben. Das hat mich einen einzigen Anruf bei Frau Richard gekostet.«

In diesem Moment packte mich die Wut. Ich zerrte an meinen Fesseln, es schmerzte in den Handgelenken, die Flaschen rappelten. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie zwei Videos von einem Stapel rutschten und auf den Boden knallten.

»He, he«, machte Mölich. »Schön still halten. Das bringt doch nichts.«

Ich zog und zerrte weiter; plötzlich kippte eine Flasche nach vorn und zerplatzte auf dem harten Boden. Direkt neben meinem linken Fuß vermischte sich der gelbe Inhalt mit der grauen Farbe des Betons; es sah aus, als hätte jemand auf einen Haufen Glasscherben gekotzt.

»Verdammte Scheiße«, schrie Mölich, kam noch näher und bückte sich.

Da passierte es. Ich hängte mich mit aller Kraft an meine Fesseln und brachte das Regal dazu, sich langsam nach vorn zu neigen. Zuerst regneten Flaschen, Videos und Bücher auf uns herab. Ein Riesengewicht aus Stahl und schweren Büchern gewann an Fahrt. Mö-lichs Schrei ging in einem gewaltigen metallischen Rasseln unter. Es klang, als hätte ein Lkw eine Ladung Moniereisen von der Ladefläche rutschen lassen. Mich riss es ebenfalls nach unten, und einen Augenblick dachte ich, mir würden beide Arme gleichzeitig ausgekugelt.

Als wieder Stille eintrat, lag ich neben dem Pfosten, das Regal war schief auf dem Haufen Zeug liegen gekommen. Ich drehte den Kopf und sah, dass die oberen Zwischenböden herausgefallen und bis hinüber zum Fenster gerutscht waren. Ich riss an den Handschellen, die immer noch um den Eckpfeiler geschlungen waren. Einige Metallzwischenböden hatten sich verkeilt. Mühsam arbeitete ich mich durch und kam schließlich frei. Keine Sekunde zu früh. Unter dem riesigen Haufen regte sich etwas. Mölich streckte einen Arm hervor und zog sich langsam heraus. Als er sich gerade aufrichten wollte, verpasste ich ihm einen Tritt in den Nacken, und er sackte stöhnend wieder nach unten. Hektisch durchsuchte ich seine Taschen, fand meine Pistole und schließlich auch den Schlüssel für die Handschellen.

Ich ließ ihm keine Chance. Ich drehte ihm die Arme auf den Rücken, während ich ihm den rechten Fuß auf die Wirbelsäule presste. Dann versorgte ich ihn mit den Handschellen.

»Wer hat das Kind umgebracht?«, fragte ich.

Mölich schüttelte langsam den Kopf.

Ich drückte die Pistole gegen seinen Schädel; zwischen seinen Haaren sickerte Blut.

»Meine Assistentin stirbt gerade im Krankenhaus, und Sie sind wahrscheinlich schuld daran. Ich mache Sie kalt, wenn Sie nichts sagen. Was ist im April passiert? Wer hat den weißen Transporter gefahren? Sie?«

Er nickte langsam und versuchte etwas zu sagen. Doch außer einem Geräusch, als würde eine Heizung entlüftet, kam nichts über seine Lippen.

»Reden Sie deutlicher«, sagte ich.

»… war ein Unfall…«, verstand ich.

»Was für ein Unfall? Reden Sie.«

Das Blut in seinem Haar sammelte sich und lief über sein linkes Ohr auf den Boden. Er atmete schwer. »Ratnik hat mir Maria weggenommen«, kam es keuchend.

»Wo ist diese Maria jetzt?«

Kopfschütteln.

»Wer ist der Tote am Bruchberg? Ratnik? Und was ist mit dem Kind? Es war nicht das Kind von Ratnik. Das haben sie schon rausgefunden.«

Mölich drehte den Kopf, und ich konnte sein Gesicht sehen. Es war schmutzig und voller Blut. Trotzdem erkannte ich so etwas wie Erstaunen darin.

»War es vielleicht Ihr Kind, Mölich? Warum haben Sie es umgebracht?«

Er verharrte in dem Ausdruck des Erstaunens.

Ich nahm den Fuß von seinem Rücken und gab ihm die Möglichkeit, durchzuatmen. Ich bewegte mich ein paar Meter von ihm weg, behielt ihn aber sorgfältig im Visier der Pistole. »Schön auf dem Bauch liegen bleiben«, sagte ich. »Sie haben keine Chance mehr, Mölich. Also - was haben Sie mit Ratnik zu tun?«

Mölich lag da wie ein gestrandeter Wal. Massig und unfähig, sich zu bewegen.

»Was haben Sie mit Maria gemacht? Wo ist sie? Ich weiß, dass sie 1998 nach Deutschland kam. Was ist passiert?«

»Abgehauen«, sagte Mölich.

»Wohin?«

»Wusste ich erst auch nicht. Bis Ratnik kam und von mir Papiere wollte. Jahre später.«

»Papiere?«

Mölich nickte. »Sie ist abgehauen. Untergetaucht.«

Ich machte mir meinen Reim. Mölich hatte diese Maria nach Deutschland geholt, und sie hatte Ratnik kennen gelernt, als der in Mölichs Haus eine Treppe eingebaut hatte. Sie hatte die Chance genutzt und war mit ihm geflohen. Auf die einsame Hütte.

»Wussten Sie, dass sie mit Ratnik durchgebrannt ist?«, fragte ich.

Mölich schüttelte langsam den Kopf. »Erst als Ratnik zu mir kam.«

»Das heißt, Maria lebte illegal in Deutschland. Ratnik hat sie auf seine Hütte mitgenommen, und dort hat sie das Kind gekriegt. Wie kamen Sie dann wieder mit Ratnik zusammen?«

Mölich verzog den Mund zu einem hämischen Grinsen. »Er wollte mich erpressen«, sagte er, und jetzt war seine Stimme wieder ganz deutlich. »Er brauchte Papiere, um nach Kanada zu kommen. Ich sollte ihm dabei helfen. Dabei habe ich natürlich alles rausgekriegt. Er hat allen erzählt, er wäre praktisch schon weg.«

Ich nickte. »Und Sie haben die Möglichkeit beim Schopf gepackt und ihn im Hakenkreuzwald umgelegt. Niemand hat ihn vermisst. Hat Ratnik gewusst, wo der Wald ist?«

»Er hat ihn von der anderen Seite der Talsperre aus gesehen.«

»Und wie haben Sie es geschafft, seine Leiche in den Wald zu schaffen?«

Auf Mölichs Gesicht machte sich ein Grinsen breit. »Das war gar nicht nötig. Als ich ihm vorschlug, dass wir uns wegen der Sache mit den Papieren an einem ruhigen Ort treffen sollten, hat er selbst gesagt, wir sollen da hingehen.«

»Warum war Ratnik eigentlich auf den Wald so versessen?«

»Der war ein Spinner. Er dachte, die Nazis hätten irgendwelche übernatürlichen Fähigkeiten gehabt und die hätten an der Stelle, wo der Wald ist, besonders stark gewirkt.« Mölich lachte das schnaubende Lachen, das ich schon vom Telefon kannte.

»Sie haben ihn dort also umgebracht«, sagte ich.

Mölich nickte. »Ich dachte, wenn jemand die Leiche findet…«

»… dann kommt man eher auf ein paar duchgeknallte Nazis als auf Sie. Und was ist dann passiert? Sie sind zur Hütte gefahren und haben Maria geholt, nehme ich an.«

Er nickte langsam.

»Und von dem Kind haben Sie bis dahin gar nichts gewusst?«

»Nein.«

»Und Sie haben Maria und das Kind nach Wuppertal gebracht.«

Mölich schüttelte den Kopf.

»Wie ist das Kind zu Tode gekommen, Mölich?«, fragte ich. »Wo ist Maria heute?«

Er schwieg. Es hatte keinen Zweck. Ich musste Krüger anrufen. Der würde es aus ihm herausbekommen.

Ich ging langsam rückwärts zum Telefon und behielt Mölich im Auge. Ich tastete nach dem Hörer. Ich wusste nicht, ob ich Krüger im Büro erreichen würde; deshalb tippte ich die 110. Eine Männerstimme meldete sich, und ich wollte gerade antworten, als die Tür aufflog und eine Frau hereingestürmt kam.

Ich hatte ein, zwei Sekunden das Gefühl, wieder mitten in einem meiner Alpträume zu sein. In der rechten Hand hielt die Frau ein langes Messer, und mein Verstand nahm ganz bewusst und rational wahr, dass es wohl aus der Küche stammen musste. Ich wusste, was kam, aber ich war wie versteinert und konnte nur tatenlos zusehen, wie die Frau sich mit einem Schrei auf Mölich stürzte und zustach. Einmal, zweimal, dreimal.

Blutflecken breiteten sich auf Mölichs grauem Anzug aus, und eine Fontäne begann zu pulsieren, als das Messer eine Schlagader traf. Mölich gab ein gurgelndes Geräusch von sich; es erinnerte an Wasser, das schlürfend im Abfluss verschwindet.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich bei ihm war und der Frau in den Arm fiel. Ich packte sie und spürte, wie stark sie war. Mein Blick fiel auf Mölich, der versuchte, seine Hand in schwacher Abwehrgeste auszustrecken. Eine grauenhafte Menge Blut lief am Arm entlang und überrollte das bunte Bändchen - den Glücksbringer, der dem Hauptkommissar wenig Glück gebracht hatte.