2. Kapitel

Die Polizeiinspektion Solingen ist ein dunkelroter Kasten neben der Hauptstraße, den man auf der einen Ecke mit Graffiti verschönert hat. Vor einem bunten Hintergrund prangt eine groß hingesprühte Schrift auf der Mauer: »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« Unten auf dem schmalen Stück zwischen Straße und Gebäude steht ein moderner Brunnen, der wie ein verdrehtes Stück Blech aussieht und im November abgeschaltet ist. Ein paar kümmerliche Pflanzen vegetieren neben der Treppe dahin, die zum Eingang führt.

Ein uniformierter Polizist fragte mich freundlich nach meinen Wünschen. Ich erklärte, dass ich gerne Herrn Hauptkommissar Mölich gesprochen hätte.

Der Polizist erkundigte sich nach meinem Namen und telefonierte. Er schien Mölich sofort zu erreichen, nahm dann aber den Hörer vom Ohr und fragte: »Worum geht es denn?«

»Um eine Auskunft. Ich habe den Kontakt zu Herrn Mölich von Kommissar Krüger aus Wuppertal.«

Der Mann gab die Information weiter, aber das schien Mölich immer noch nicht zu reichen.

»Sind Sie ein Kollege?«

»So was Ähnliches.« Ich holte meine Lizenz hervor und zeigte sie ihm. Er verzog keine Miene.

»Herr Rott ist Privatdetektiv«, gab er Hauptkommissar Mölich bekannt, und dann öffneten sich endlich die Pforten.

»Dritter Stock«, hieß es, gefolgt von einer Raumnummer. Ich quetschte mich in den engen Aufzug und fuhr nach oben.

Auf der Etage waren die Büros geöffnet. In manchen Zimmern hoben sich die Köpfe, als ich vorbeikam. Dann war ich am Ziel. Auch hier war die Tür offen. Ich klopfte trotzdem.

»Sind Sie Herr Mölich?«, fragte ich den Mann, der an einem schmalen Schreibtisch saß und in Papiere vertieft schien.

»Wer will das wissen?«, fragte er, ohne aufzublicken.

»Ich dachte, man hätte mich angemeldet. Mein Name ist Rott.« Wieder fummelte ich meine Lizenz heraus, ging die zwei Schritte in den Raum hinein, bis ich an seinem Schreibtisch stand.

Mölich sah nicht mich, sondern das Stückchen Plastik an. »Remigius Rott«, las er vor. Dann wanderten seine grauen Augen ein bisschen nach links auf das Passbild. Erst nachdem er es genau studiert hatte, sah er mich an. Ich schien dem Vergleich standzuhalten.

»Interessanter Vorname«, bemerkte er.

»Den habe ich von meinem Großvater geerbt«, sagte ich. »Ich kann leider nichts dafür.«

»Guten Tag«, sagte er, als hätte er mir nicht zugehört und als wäre ich in dieser Sekunde erst hereingekommen. »Bitte setzen Sie sich doch.« Er wies auf einen Stuhl in der rechten Büroecke, der neben einem winzigen quadratischen Tisch stand.

Mölich lehnte sich in seinem Stuhl zurück, legte die Handflächen gegeneinander und sah mich an. »Meine Zeit ist begrenzt«, informierte er mich. »Worum geht's?«

Mölich war sicher nicht viel älter als ich, aber er wirkte gesetzter. Das lag an seinem grauen Sakko und dem weißen Hemd - eigentlich eine Kleidung, die für Kriminalkommissare im Dienst einen Tick zu fein war. Er kam mir vor wie der Chef einer Unternehmensberatung, dem man irrtümlich dieses Minibüro zugewiesen hatte. Sein Blick war mir unangenehm. Er erinnerte an den eines lauernden Hundes. Als ich den bohrenden Augen auswich, bemerkte ich etwas Merkwürdiges an seinem Handgelenk. Es war ein dünnes, buntes Armband. Verschiedenfarbige Fäden waren miteinander verschlungen und verknotet. Das passte nicht zu dem schnieken Anzug.

Ich ließ mich nicht irritieren.

»Es geht um einen Fall hier aus Solingen. Hauptkommissar Krüger aus Wuppertal hat mir gesagt, dass Sie dafür zuständig sind.«

»Welchen Fall?«

»Das tote Kind aus der Potsdamer Straße. Das im April dort nachts aufgefunden wurde.«

Mölich winkte ab. »Ah, die Geschichte. Ich weiß, ich weiß.« Er senkte die Hände und griff nach einer schwarzen Zigarettenschachtel, die auf dem Schreibtisch lag. John Player. Ich war so frei und holte eine Camel hervor.

»Und?«, fragte er. Seine Augen bohrten.

»Eine Privatperson hat mich beauftragt, diesen Fall zu übernehmen. Anscheinend ist er ja bis heute nicht gelöst worden. Ich bin hier, weil ich Sie zum Ermittlungsstand befragen will. Außerdem wäre es hilfreich, wenn ich in die Akten -«

»Halt«, sagte er, und seine Stimme war deutlich lauter geworden. »Sie wollen den Fall übernehmen? Ja, was soll denn das heißen?«

Ich blieb ruhig. »Wie ich schon sagte. Es ist ja wohl kein Fortschritt erzielt worden, und -«

»Und da wollen Sie sich in die Belange der Polizei einmischen?« Er schüttelte den Kopf. »Na, Sie haben ja Ideen.«

Ich zündete meine Zigarette an. »Ich glaube, es gibt da ein Missverständnis«, erklärte ich. »Wie Sie meiner Lizenz entnommen haben, bin ich Privatermittler. Und wenn nun jemand das Bedürfnis hat, dass ein Fall gelöst wird, kann er mich damit beauftragen.«

»Und der Papst kann im Pascha Tango tanzen. In China kann ein Sack Reis platzen. Was glauben Sie, was mich das interessiert?«

»Hören Sie -«

»Wo kommen wir denn da hin, wenn jeder hergelaufene Blödmann meint, sich in die Arbeit der Polizei einmischen zu wollen?« Er senkte den Blick und nahm sich wieder seine Papiere vor. Offenbar war für ihn das Gespräch erledigt.     

Ich spürte, wie Wut in mir hochstieg.

»Entschuldigen Sie, Herr Mölich«, sagte ich scharf. »Ich habe schon in vielen Fällen sehr erfolgreich mit der Polizei zusammengearbeitet.«

»Interessiert mich nicht.«

»Fragen Sie Hauptkommissar Krüger in Wuppertal, wenn Sie mir nicht glauben!«

»Interessiert mich auch nicht.«

»Meine Güte«, rief ich. »Sie können mich doch sowieso nicht daran hindern, mich um die Sache zu kümmern. Dann können Sie mir auch gleich ein paar Informationen geben.«

Er sah mich wieder an. »Ach, ich kann Sie nicht hindern? Das wüsste ich aber! Hören Sie zu, Herr Detektiv. Sie sind nicht die Polizei. Sie sind juristisch nichts als eine Privatperson. Sie dürfen nicht mehr und nicht weniger als jeder andere Bürger auf der Straße.«

Der Typ begann mich langsam aber sicher wahnsinnig zu machen. Wenn er mir wenigstens Klarheit über den Ermittlungsstand gegeben hätte. Ich konnte nicht davon ausgehen, dass Frau Weitershagens Presseschau vollständig war.

»Aber Sie könnten mir zumindest sagen, ob der Fall mittlerweile geklärt ist oder nicht«, sagte ich laut.

»Ja, das könnte ich.«

»Verdammt noch mal!«, rief ich und war kurz davor, auf den mickrigen quadratischen Tisch zu schlagen. »Dann tun Sie es. Wenn die Sache nämlich gegessen ist, dann gehe ich zu meiner Auftraggeberin, erkläre es ihr, und alles ist erledigt.«

»Ich bin nicht verpflichtet, Ihnen Auskunft zu geben, also werde ich es auch nicht tun.«

»Haben Sie denn in dem Fall jemanden festgenommen?«

»Kein Kommentar.«

»Wer hat das Kind gefunden?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wer hat den weißen Transporter gesehen? Haben Sie das Fahrzeug identifizieren können?«

»Hören Sie schlecht? Kein Kommentar! Hauen Sie ab!«

Ich bombardierte ihn weiter mit Fragen; ich fragte alles, was mir einfiel. Ob man genetische Untersuchungen an dem Kind vorgenommen hatte, ob man herausgefunden hatte, wo die Kleidungsstücke des Kindes her waren. Ob sich vielleicht doch jemand gemeldet hatte, der das Kind in der Zeitung erkannt hatte.

Ich redete mich so in Rage, dass ich nicht bemerkte, wie sich hinter mir plötzlich jemand näherte.

Ich wurde erst darauf aufmerksam, als Mölich seinen Blick hob und jemandem zunickte. »Na, was haben wir denn da für ein Problem?«, rief eine tiefe Stimme, und gleichzeitig wurde ich an den Achseln gepackt und hochgehoben.

Es waren zwei Polizisten, die mich mit eisernem Griff in Richtung Aufzug zerrten und nach unten brachten.

»Das hat der Wolfgang gar nicht gern, wenn man in seinem Büro Randale macht«, erklärte der eine.

»Randale können wir hier nicht gebrauchen«, legte der andere nach.

Unten angekommen, drängten sie mich durch die Glastür.

Die Blicke der Bullen im Rücken spürend, ging ich so locker wie möglich die Treppe hinunter. Im Auto rief ich Krüger an. Es gelang mir, dem Wuppertaler Hauptkommissar gegenüber ruhig zu bleiben.

»Der Mann ist im Recht«, sagte Krüger. »Dagegen kann man nichts machen. Ich gebe ja zu, dass er das alles ein bisschen scharf auslegt, aber so ist er nun mal.«

»Ich habe gar nicht gewusst, dass manche Beamte der Mordkommission so feine Pinkel sind«, sagte ich verächtlich.

»Mölich ist nicht bei der Mordkommission. Er ist im Verkehrskommissariat. Schließlich ist die Sache mit dem Kind zunächst mal nichts weiter als ein Verkehrsunfall.«

»Aha«, brummte ich. »So sieht man das also bei der Polizei.«

»Mensch, Rott! Ich verstehe ja, dass Sie sich aufregen. Aber der Mann kann schließlich anziehen, was er will. Und dass er sich an die Vorschriften hält, können Sie ihm nicht zum Vorwurf machen.«

»Herr Krüger, tun Sie mir einen Gefallen.«

»O nein«, rief er. »Fragen Sie mich jetzt nicht, ob ich Ihnen die Akten besorgen kann. Darauf lasse ich mich nicht ein.«

»Dann was anderes. Ich muss wissen, ob der Fall geklärt ist oder nicht. Ob es neue Erkenntnisse gibt. Das muss doch zu machen sein. Und bitte - ich brauche die Information schnell.«

Krüger seufzte. »Und das so kurz vor Feierabend. Hm - lassen Sie mich mal nachdenken. Soweit ich weiß, ist der Fall nicht abgeschlossen. Das sagte ich Ihnen ja schon. Ich werde mich aber drum kümmern. Ich ruf Sie dann morgen an.«

»Geht's nicht vielleicht nachher?«

»Mensch, Rott, Sie machen mich wahnsinnig. Also gut. Ich melde mich.«

»Danke.«

Ich fuhr zurück nach Wuppertal; in meinem Büro blinkte der Anrufbeantworter. Ich drückte den Wiedergabeknopf. Es war Krüger, der eine Nachricht hinterlassen hatte. Flott, dachte ich. Und schlau. Offenbar hatte er es absichtlich nicht auf dem Handy versucht, damit er mich nicht persönlich am Hörer hatte und ich ihn nicht um weitere Gefallen bitten konnte.

»Also, Rott: Der Fall ist nicht abgeschlossen. Der weiße Transporter ist nicht identifiziert worden. Es ist auch nicht klar, ob der Fahrer des Wagens etwas damit zu tun hat. Das Kind hat ein junger Mann gefunden, der von der Kneipe ›Luzifer‹ aus auf dem Heimweg war. Den Namen des Zeugen kann ich Ihnen nicht sagen. Weitere Infos gibt's nicht. Ich sage Ihnen eins: Ich habe keine Lust, mir von den Solingern ein blaues Auge zu holen. Und ich kann Ihnen nur raten: Sehen Sie sich vor! Überschreiten Sie nicht Ihre Kompetenzen. Sie haben sowieso keine Möglichkeiten, weitere Hinweise zu finden. Wir haben alles unternommen. Die Sache stand in der Zeitung, und die Öffentlichkeit hat regen Anteil genommen. Ich sehe ja ein, dass das eine sehr traurige Sache ist, aber man muss der Realität ins Gesicht sehen. Und wenn ich Sie dabei erwische, dass Sie -«

Das Gerät gab einen ausgedehnten Piepton von sich. Ich hatte es so eingestellt, dass jeder Anrufer nur dreißig Sekunden Redezeit zur Verfügung hatte.

Ich löschte die Nachricht, und während der AB noch die Kassette hin und her spulte, bekam ich Jutta an die Strippe. Im Hintergrund ertönte irgendwelches Geklimper; es klang nach klassischer Klaviermusik.

»Remi«, rief sie, als ich mich gemeldet hatte. »Mensch, lange nichts mehr von dir gehört. Warte mal einen Moment, ich mach die Musik leiser.« Das Geklimper verstummte.

»Kein Wunder, dass man sich so selten sieht«, sagte ich. »Warst du nicht wieder auf ausgedehnten Reisen?«

»Nur ein bisschen. Man muss doch auch mal was anderes sehen.«

Ich seufzte. Jutta und ihre Understatements. »Sei ehrlich. Die wie vielte Weltreise war das jetzt?«

»Erst die vierte.«

»Weißt du, wie viele Leute es gibt, die sich so was leisten können?«

»Die Reise ging doch nur sechs Wochen statt acht. Es war sozusagen eine kleine Weltreise.«

»Und, wo warst du so?«

»Na ja, es begann in Spanien, dann rüber nach Amerika. Karibik, Brasilien und so. Von Rio aus bin ich dann rauf nach New York geflogen, und dann nach Kalifornien. Und über den Pazifik ist es ja dann gar nicht mehr so weit nach Tokio. Weißt du, in Tokio war ich ja noch nie so richtig - das heißt, nur damals …«

»Nette Route. Wer hat denn die Reise veranstaltet?«

»Wieso ›veranstaltet‹?«

Mir entfuhr ein unkontrolliertes Schnauben. Ich hatte völlig vergessen, dass Madame natürlich nicht organisiert reiste wie all diese Möchtegern-Reichen, die sich jahrzehntelang die Reise ihres Lebens zusammensparen. Wenn Jutta eine Weltreise machen wollte, dann fuhr sie einfach zum Flughafen und flog los. Wenn Sie irgendwo eine Unterkunft brauchte, ließ sie sich ins beste Hotel am Ort chauffieren und buchte die teuerste Suite.

»Was seufzst du, mein lieber Neffe? Geht's dir wieder mal schlecht? Brauchst du einen neuen Fall?«

»Den hab ich. Aber finanziell verblasst ja jeder neben dir. Außer Bill Gates vielleicht.«

»Du übertreibst maßlos. Ich bin doch nur die fünftreichste Person Wuppertals.«

»Woher weißt du das denn? Ach, vergiss es, ich will es gar nicht wissen.«

»Erzähl mir von deinem Fall. Musst du wieder mal fremdgehende Ehemänner überwachen?«

»Nein, ich glaube, diesmal ist es wieder mal was Außergewöhnliches. Aber wahrscheinlich wird die ganze Sache sowieso im Keim ersticken. Ich bräuchte die Mithilfe der Polizei, und die kriege ich nicht.«

»Fang doch bitte von vorn an. Ohne Rätsel.«

Ich begann zu berichten, aber ich kam nicht weit. Als der Name Weitershagen fiel, klinkte sich Jutta wieder ein.

»Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte sie.

»Kann schon sein. Ich schätze, die Frau lebt etwa in deiner Einkommensklasse. Sie wohnt in der Adolf-Vorwerk-Straße.«

»Ja, genau. War da nicht irgendwas mit dem Sohn?«

»Ihr Sohn ist umgekommen.«

»Oh ja, ich erinnere mich. Arme Frau. Und ihr Mann ist schon lange davor an Krebs gestorben.«

»Und nun hat sie sich in den Kopf gesetzt, einen Fall zu lösen, der über ein halbes Jahr zurückliegt und in dem die Polizei nicht weitergekommen ist.« Ich fuhr fort, diesmal ohne Unterbrechung.

»Ich kann mich an die Sache mit dem Kind gar nicht erinnern. Seltsam«, sagte Jutta, als ich fertig war.

»Lag's vielleicht an der Weltreise Nummer drei?«, fragte ich sarkastisch.

Jutta nahm den Einwand ernst. »Wann ist das Kind umgekommen? Im April? Ja, das kommt hin. Du hast Recht.«

»Auf jeden Fall werde ich versuchen, die Zeugen aufzutreiben.«

Plötzlich war Stille in der Leitung. Jutta schwieg. Wahrscheinlich dachte sie über den Fall nach.

»Bist du noch da?«, fragte ich.

»Ja, ja. Ich versuche mir nur eine Theorie zusammenzureimen, was da passiert sein könnte.«

»Ich glaube, dafür ist es noch zu früh.«

»Kennst du eigentlich die Geschichte von Caspar Hauser?«

»Was?«

»Caspar Hauser«, wiederholte Jutta. »Ein hochinteressanter Fall, der sich Anfang des 19- Jahrhunderts zugetragen hat, glaube ich.«

»Klar. Kenne ich. Der Junge, der plötzlich aus dem Nichts auftauchte.«

»Genau. In Nürnberg. Bis heute weiß niemand, wer er war. Ein paar Jahre nach seinem Auftauchen wurde er ermordet. Und auch dieser Mord ist niemals aufgeklärt worden.«

»Und du glaubst, das hier wäre so was Ähnliches? Aber das kann man doch gar nicht vergleichen!«

»Selbstverständlich kann man das. Denk doch mal nach: Ein Kind erscheint. Niemand weiß, wo es herkommt. Und es wird umgebracht.«

»Es ist noch nicht klar, ob es absichtlich umgebracht wurde. Es ist doch wohl grundfalsch, dem ganzen Fall so eine Theorie aufzustülpen. Da könnte man ja gleich behaupten, das Kind sei vom Himmel gefallen.« Im selben Moment, in dem ich das sagte, fiel mir ein, dass in einem der fotokopierten Zeitungsausschnitte genau das behauptet worden war.     

»Es gibt sicher Leute, die das glauben«, haute Jutta, ohne es zu wissen, in dieselbe absurde Kerbe. »Mach dich bei diesem Fall mal darauf gefasst, dass eine Menge Esoterik ins Spiel kommt.«

»Hm. Welche Theorien hatte man denn eigentlich in diesem Caspar-Hauser-Fall? Ufos haben die Leute damals ja noch nicht gekannt.«

»Soweit ich weiß, glauben manche, er sei ein illegal geborener Prinz gewesen, dessen Existenz irgendwem ein Dorn im Auge war. Deswegen haben sie ihn schon als kleines Kind eingesperrt. Bis er dann doch irgendwie freikam.«

»Tolle Theorie. Damit kann ich im Solinger Fall natürlich sehr viel anfangen. Wir können ja mal die Adelshäuser der Welt abklappern, um rauszukriegen, wo jemand fehlt. Das wäre doch eine schöne Aufgabe für dich.«

»Mir ist schon klar, dass du das ironisch meinst. Aber du weißt ja, dass ich sehr gerne deine Assistentin bin. Denk an mich, wenn du Hilfe brauchst.«

»Finanzielle Hilfe wäre mir lieber.«

»Aber Remi! Erstens: Meine Unterstützung als Assistentin ist finanzielle Hilfe, denn ich nehme ja kein Honorar von dir. Und zweitens: Jeder soll sich sein Geld selbst verdienen. Und du brauchst dich doch nicht zu beklagen. Hast du einen Fall oder nicht? Und wie ich dich kenne, hast du Frau Weitershagen sicher nicht deinen Sonderspartarif angeboten, oder?«

Ich schwieg. Es hatte keinen Zweck, mit Jutta über Geld zu reden. Ich musste es einfach lernen. Ich nahm einen Zettel und schrieb es auf: »ES HAT KEINEN ZWECK«.

»Ich würde sagen, wir beenden jetzt das Gespräch«, sagte ich dann.

»Wieso? Ist es dir unangenehm?«

»Nein, aber es ist gleich sechs. Bevor ich noch mal nach Solingen fahre, würde ich gerne etwas fernsehen.«

Jutta seufzte. »Wie profan! Ich habe ja seit neuestem eine viel anspruchsvollere Beschäftigung gefunden.«

»Ach? Was denn? Kreuzworträtsel?«

»Ignorant! Du wirst es nachher sehen. Es ist eine Überraschung.«

»Was heißt denn ›nachher‹?«

»Na, ich gehe davon aus, dass du mir mitteilst, was du in Solingen rausgefunden hast. Wahrscheinlich wird dabei das ein oder andere Problem auftauchen, und dann kommst du angelaufen. Das kennen wir doch schon.«

»Das werden wir sehen«, sagte ich. »Ich komme ganz gut allein zurecht.«

»Wir können ja wetten.«

»Da kann ich nur gewinnen. Ich habe nämlich kein Geld, wie du weißt.«

»Nicht um Geld. Wenn du verlierst, musst du dich eine Stunde mit meinem neuen Hobby beschäftigen.«

Es war punkt achtzehn Uhr, als ich den Fernseher einschaltete. Die Sendung lief täglich auf Sat1 und dauerte genau eine halbe Stunde. Da waren Detektive zu sehen, die sich so richtig dämlich anstellten. Trotz ihrer Dämlichkeit waren sie sehr erfolgreich, und das lag daran, dass die Bösewichter in den Fällen noch viel, viel dämlicher waren.

Es ging immer damit los, dass eine heulende Ehefrau oder Geliebte oder Mutter in der pinkelfeinen Kanzlei eines zwirbelbärtigen Anwalts in München auftauchte, der sich dann väterlich verständnisvoll anhörte, dass der Mann vielleicht fremdging, der Sohn vielleicht mit Drogen dealte oder die Urlaubsliebe mit geliehenen zwanzigtausend Euro durchgebrannt war. Der Boss beauftragte dann regelmäßig das, was er sein »Team« nannte: einen Kerl, der aussah wie ein Sportstudent in Semesterferien, und eine Frau vom Typ selbstbewusste Jungreporterin. Die beiden überwachten am Anfang meistens zunächst Personen. Da wurde sich einfach in einer Vorortsiedlung dick und breit vors Haus der Zielperson gestellt und mit einer monstermäßigen Digitalkamera gefilmt, die auch bei allen Einsätzen dabei war - gewöhnlich in einer Tasche mit bierdeckelgroßem Loch verborgen.

Bei Geldübergaben folgte dem Geldboten ein ganzer Tross von beleuchteten Fahrzeugen, die den bösen Geiselnehmern überhaupt nicht auffielen. Im Notfall war immer plötzlich eine ganze Truppe von Polizisten zur Hand, die sich auch brav von dem Zwirbelbärtigen herumkommandieren ließ und im Übrigen auch immer gleich mit allem herausrückte, was man so brauchte: Akten, Daten zu Kfz-Kennzeichen, Vorstrafenregister bestimmter Personen und und und. Vielleicht sollte ich Hauptkommissar Mölich diese lehrreiche Sendung mal empfehlen, dachte ich.

Um halb sieben schaltete ich auf Pro7 um und guckte noch den Anfang einer alten »Simpsons«-Folge. Es war die Geschichte mit dem Engel-Skelett auf der Supermarktbaustelle. Sie war gut, aber ich kannte sie schon. Deswegen zappte ich um Viertel vor auf Kabel 1, wo gerade »Eine schrecklich nette Familie« anfing. Ach, die Sache mit dem Kaufhaus-Weihnachtsmann, der mit einem Sack voll Gutscheine den Bundys in den Garten stürzt. Auch bekannt. Ich guckte die Folge trotzdem.

Zwischendurch schob ich eine Pizza in die Mikrowelle. Um halb acht machte ich mich wieder auf den Weg nach Solingen.