11. Kapitel

Zwischen dem Sportwagen und meinem alten Golf bestand schon ein Unterschied.

Ich tippte auf das Gaspedal, und der Wagen preschte nach vorn wie ein Renngaul, den eine Hornisse gestochen hat. Ich musste sofort in die Eisen gehen, damit der Z4 an der nächsten roten Ampel anhielt und nicht dem stehenden Vordermann ins Heck donnerte.

Ich blickte in den Rückspiegel. Jutta, die bei meiner Abfahrt noch neben meinem Wagen gestanden hatte, war verschwunden. Ich hatte noch ihre letzten Worte im Ohr: »Pass bloß auf mein neues Auto auf.«

Sie war komischerweise gar nicht schwer zu überreden gewesen, mir den BMW zu überlassen. Ich hatte ein bisschen herumgedruckst, etwas über die knappe Zeit erzählt und betont, ich könne doch unmöglich die ganze Tour ins Oberbergische mit meinem klapprigen Golf machen. Meine eigentliche Begierde, mal mit so einem Flitzer zu fahren, hatte ich allerdings kaum verbergen können. Und gerade diese Lust an einem Auto war es, die Jutta durch und durch verstand. Sie gönnte es mir einfach. Und nahm es sogar hin, mit meiner alten Kiste nach Wuppertal zurückzufahren.

Am Anfang konnte ich den Wagen nicht richtig ausfahren. Der Verkehr war zu dicht, außerdem war die Strecke entweder von zu vielen Ampeln durchsetzt oder kurvig. Kaum hatte ich die Schnellstraße an der Wupper entlang erreicht, geriet ich schon wieder in das enge Loch an der Müngstener Brücke. Dann ging es rauf durch Remscheid, und erst als die B229 die Al überquert hatte und ich Lennep hinter mir ließ, traute ich mich, richtig Gas zu geben. Der BMW flog nur so dahin.

Hinter Hückeswagen trafen plötzlich feine Tropfen die Windschutzscheibe. Vor mir, im Osten, waren die Wolken dick und schwarz, und obwohl es noch nicht mal richtig Nachmittag war, wurde es dunkel. Ich dachte gerade darüber nach, wie man bei diesem High-Tech-Fahrzeug wohl das Licht einschaltete, da wurde plötzlich die Fahrbahn vor mir weiß und war hell beleuchtet. Der Z4 besaß eine Lichtautomatik.

Kurz darauf kam ich dort an, wo der Hochzeitswald sein sollte. Ich hatte mir das Ganze entschieden hübscher vorgestellt. Ich hatte gedacht, es sei ein kleiner, romantischer Hain, in freier Natur gelegen. Ein Platz, wo man vielleicht ein schönes sommerliches Picknick machen und gleichzeitig die Aussicht auf die Landschaft genießen konnte. Oder wo sich vielleicht sogar, bei warmem Wetter, die Hochzeitsnacht im Freien verbringen ließ. Stattdessen stand ich vor einem tristen Straßendreieck. Im Hintergrund ragten graue Wohnsilos auf.

Ein kleiner Fußweg führte von der Straße aus auf ein verwildertes Stück Brachland zu. Ich folgte dem Pfad und gelangte an ein Holzschild, das Aufschluss über die Geschichte des Anwesens gab: »Erste Anpflanzung durch den scheidenden Gemeindedirektor Werner Knabe, 29. September 1989 «, las ich.

Ich überblickte das Areal. Dürre Bäumchen, die zum Teil von Pfosten gestützt werden mussten, standen auf der Wiese in kniehohem Gras. Den Zaun überquerte ich mit einem großen Schritt, kurz darauf spürte ich, wie mir die Nässe in die Schuhe drang.

Grüne Schildchen, auf kleinen Pfosten vor dem jeweiligen Baum angebracht, verkündeten mit weißer Schrift bescheiden, aber deutlich erkennbar die Namen der glücklichen Paare. Ich stapfte von Baum zu Baum, und endlich fand ich, was ich suchte: »Jonas Ratnik und Vanessa Michel-Ratnik« stand da. Darunter das Hochzeitsdatum: »10. Mai 1994«.

Noch an Ort und Stelle zog ich mein Handy heraus und rief die Auskunft an.

»Michel-Ratnik gibt es in Marienheide nicht«, meldete die freundliche Dame auf der anderen Seite. »Allerdings einen Eintrag mit Michel.«

»Ist der Vorname Vanessa?«, fragte ich.

»Ja. Da steht Vanessa und Lisa«. Sie nannte die Adresse. Die Straße hieß »Am Südhang«.

»Soll ich Sie gleich verbinden?«, fragte mich das Fräulein vom Amt, und ich bejahte. Ich war gerade wieder über den Zaun gestiegen und hatte den Weg erreicht, da meldete sich jemand.

»Hallo?« Die Stimme klang zögernd. Fast ein bisschen ängstlich.

»Frau Michel?«, fragte ich und wischte mir die Wassertropfen von der Hose.

Die Frau schien mich nicht zu hören. »Hallo?«, fragte sie erneut.

»Mein Name ist Rott«, sagte ich laut und deutlich. »Spreche ich mit Frau Michel?«

»Lisa, bist du das?«

»Hier ist Rott…«

»Lisa, komm doch nach Hause. Ich habe solche Angst.« Jetzt klang die Stimme flehend. »Bitte. Komm doch nach Hause. Bitte, bitte, bitte!«

Die Frau schwieg plötzlich, und in der Leitung war auf einmal ein merkwürdiges Geräusch. Es klang wie das Gluckern von Wasser.

»Frau Michel, ich möchte Ihnen nur ein paar Fragen stellen.«

»Komm, komm, komm. Bitte komm! Komm, komm, komm!« Die Stimme wurde immer leiser und verwandelte sich in einen murmelnden Singsang. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Hatte ich mich verwählt? Aber ich war doch von der Auskunft verbunden worden.

Ich drückte den roten Knopf und machte mich auf den Weg zum Auto. Ich fuhr zu der ausgebauten Straßenkreuzung, die in Marienheide die Innenstadt darstellt. Vor einer Apotheke lungerte ein junges Pärchen herum und starrte rauchend in die Gegend. Als ich mit der Z4 vorfuhr, machten die beiden große Augen.

Ich drückte auf den Knopf, der das Seitenfenster in der Tür versinken ließ. »Könnt ihr mir sagen, wie ich zum Südhang komme?«, fragte ich.

Die beiden grinsten. »Hey, hat Ihre Mordskarre etwa kein Navi?«, fragte der Junge.

»Der Wagen ist geliehen, und ich kann damit nicht umgehen«, sagte ich. Hier half es wohl am besten, bei der Wahrheit zu bleiben.

»Sie sind auch nicht der Typ, der so einen Wagen fährt«, sagte das Mädchen mit ernstem Gesicht.

»Schon gut«, sagte ich. »Kompliment angekommen.«

»Nehmen Sie es nicht persönlich«, sagte sie und warf die Zigarette weg.

»Also, wo ist jetzt die Straße?«

»Das ist in Oberwette. Hier weiter, bis rechts das Krankenhaus kommt«, erklärte der Junge. »Dann geht's rechts in die Wettestraße, dann wieder rechts in den Buchenweg, und der führt dann zum Südhang.«

»Danke«, sagte ich und suchte unter dem gesteigerten Grinsen der beiden eine Weile nach dem Knopf, der das Fenster wieder in die Ausgangsstellung bringen sollte.

Der Südhang war eine gerade, steile Straße in einem Wohngebiet, das aus einem kleinen Tal hinausgewachsen war. Kein Mensch war zu sehen, aber ich fühlte mich durch die gardinenverhangenen Fenster beobachtet.

Ich klingelte, und es geschah nichts. Ich klingelte wieder. Vergeblich.

Ich hatte in meinen Fällen bisher noch nie mit Leuten zu tun gehabt, die geistig verwirrt waren. Sicher - da hatte es schon mal ein paar durchgeknallte Künstlerinnen oder ein paar Alkoholiker gegeben. Die waren aber nicht geisteskrank, sondern eher etwas exzentrisch gewesen. Bei dieser Frau hier vermutete ich Schlimmeres.

Aber wie dem auch war - offenbar war sie nicht mehr zu Hause. Oder sie öffnete einfach nicht.

Ich machte auf dem Absatz kehrt und ging den kurzen Weg zurück.

Kaum war ich an der Straße angekommen, hörte ich hinter mir ein metallisches Geräusch. Ich drehte mich um und sah eine Frau im Türrahmen stehen.     

»Wissen Sie, wo Lisa ist?«, fragte sie leise.

Sie hielt eine offene Sprudelflasche in der Hand und trank ein paar Schlucke daraus. Ich dachte an das Gluckern, das ich am Telefon gehört hatte.

»Mein Name ist Rott«, sagte ich, ohne näher zu kommen. »Ich hatte angerufen. Sind Sie Vanessa Michel?«

»Lisa ist nicht da.« Wieder trank sie. Ganz kurz und ganz schnell. Es musste eine Art Tick sein.

»Wer ist Lisa?«

»Meine Schwester. Lisa ist nicht da.«

Die Frau sah eigenartig aus. Ihr runder Kopf war fast kahl geschoren, und die Ohren standen grotesk ab. Ihr Gesicht wirkte versteinert, der Blick wie eingefroren, und sie musterte mich regungslos. Ihre einzige Bewegung war das ständige Trinken aus der Flasche.

»Darf ich trotzdem mit Ihnen sprechen?«

»Ich habe Angst vor Ihnen.« Es klang wie eine sachliche Feststellung.

»Das brauchen Sie nicht. Ich tue Ihnen nichts. Ich will nur etwas über Jonas erfahren.« Als sie nicht reagierte und noch nicht mal den Arm mit der Flasche hob, wiederholte ich, worum es ging. »Können Sie sich an Jonas erinnern?«, fragte ich.

»Wo ist Jonas?«

»Das weiß ich nicht. Ich dachte, Sie könnten mir etwas dazu sagen.«

Es war sicher nicht gut, das Thema hier auf der Straße abzuhandeln. Ich konnte die Blicke der Nachbarn noch deutlicher spüren als vorher.

Sie sah mich eine Weile an. Schließlich ging sie einen Schritt zurück. Dann hob sie hektisch die Flasche und nahm gleich drei Schlucke hintereinander. »Reden wir über Jonas«, sagte sie dann.

»Darf ich reinkommen?«

»Wenn Sie mir sagen, wo Lisa ist.«

»Ist Ihre Schwester schon lange fort?«

»Ich weiß nicht.«

»Wo ist sie denn hingegangen?«

»Ich weiß nicht.«

»Sie wird wiederkommen«, sagte ich mit möglichst beruhigender Stimme. »Lassen Sie uns reingehen und ein bisschen über Jonas reden. Dann wird Lisa kommen. Und wenn nicht, suche ich sie für Sie.«

»Wirklich?«

»Es ist mein Beruf, Leute zu suchen.«

Etwas bewegte sich in ihrer Mimik. Sie runzelte die Stirn. Irgendein Gedanke schien sich in ihr zu formen. »Warum suchen Sie Jonas nicht?«, fragte sie dann.

»Ich suche ihn. Deswegen bin ich hier. Sie sind die Einzige, die mir helfen kann.«

Sie nickte zögernd, und ich hatte den Eindruck, ihre Furcht hätte sich etwas verflüchtigt.

»Reden wir über Jonas«, sagte sie.

Ich schritt auf das Haus zu und versuchte, nicht zu hastig zu gehen, um die Frau nicht zu verschrecken. Ich schien ihr immer noch nicht ganz geheuer zu sein. Kurz bevor ich die Tür erreichte, drehte sie sich um und rannte schnell eine Treppe hinauf. Ich betrat das Haus, drückte hinter mir die Haustür zu und folgte ihr.

Oben kam ich auf einen kleinen Gang. Eine der vielen Türen war nur angelehnt. Hinter dem Spalt bewegte sich etwas. Vanessa Michel kauerte auf einem Bett und warf mir einen ängstlichen Blick zu. Ich blieb im Türrahmen stehen.

»Ich will, dass Lisa kommt«, sagte sie und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Ihre Stimme klang dumpf; ich hatte den Eindruck, dass sie weinte. »Sie wird schimpfen, weil ich Sie hereingelassen habe.«

Ich sah mich in dem Zimmer um. Der Raum war fast leer. Ein kleiner Schreibtisch, wie ich ihn in meiner Kindheit gehabt hatte, stand neben dem Bett. Auf der anderen Seite gab es einen Bücherschrank. Ich entzifferte ein paar Titel: »Das Geheimnis der Kornkreise«, »Die kosmische Verschwörung«, »Die Götter von den Sternen«. In der gegenüberliegenden Wand war ein Fenster, das nichts als den grauen Himmel zeigte.

»Ich werde nicht reinkommen, wenn Sie nicht wollen«, sagte ich. »Machen wir's kurz, dann gehe ich wieder.«

Sie blieb in ihrer kauernden Haltung, eng an die Raufasertapete gelehnt.

»Wann haben Sie Jonas zum letzten Mal gesehen?«

Sie sagte nichts, beobachtete mich nur. Nach einer Weile erinnerte sie sich an die Flasche in ihrer Hand und trank.

»Wussten Sie, dass er nach Kanada ausgewandert ist?«, fragte ich weiter. »Hatten Sie gemeinsame Freunde? Können Sie mir den Namen von jemandem sagen, der Jonas kannte?«

Sie trank ein paarmal hintereinander. Ich wartete mit der nächsten Frage. Vielleicht rang sie sich ja zu einer Antwort durch.

»Wo ist Lisa?«, fragte sie, und in ihrer Stimme machte sich leichte Panik bemerkbar.

»Wussten Sie, dass er eine Frau und ein Kind hatte?«

»Sagen Sie mir, wo Lisa ist!«

»Lisa kommt gleich. Beruhigen Sie sich.«

Sie trank schnell ein paarmal.

»Sagen Sie mir, was Sie über Jonas wissen. Reden Sie einfach drauflos. Es interessiert mich.«

»Warum?« Sie beobachtete mich lauernd und führte mehrmals die Flasche zum Mund. Ich sah jetzt, dass sie gar nicht trank. Es war nur eine Reflexbewegung. Gleichzeitig starrte sie mich an. Bei jeder Bewegung verteilten sich Wassertropfen und hinterließen auf ihren Jeans dunkle Flecke.

»Ein Kind ist gestorben«, sagte ich. »Vielleicht war es das Kind von Jonas.«

»Ich will, dass Lisa kommt.« Sie schüttelte die Flasche, wieder spritzte Wasser.

»Jonas lebte in einer Hütte. Haben Sie da auch schon mit ihm gewohnt?«

»Wo ist Lisa?«

»Jonas ist Zimmermann. Er hat viel von Kanada erzählt. Wissen Sie etwas darüber?«

»Lisa. Hier bin ich!« Jetzt schrie sie plötzlich.

»Die Frau war aus Portugal. Sie hieß Maria.«

»Lisa! Komm schnell!«

»Lisa kommt gleich«, wiederholte ich. »Es dauert nicht mehr lange.«

Sie nickte und starrte vor sich auf das Bett. Sie wirkte plötzlich sehr erschöpft. Überall auf der Decke waren nasse Flecken.

»Ich gehe jetzt«, sagte ich.

»Lisa«, sagte sie noch einmal leise.

Vielleicht klappte es besser, wenn ich mehr über Lisa sprach und sie mit in die Fragen einband. »Weiß Lisa möglicherweise etwas über Jonas?«, fragte ich. »Lisa hat mir von Jonas erzählt.«

Vanessa Michel wandte mir den Kopf zu. »Lisa mag Jonas nicht«, sagte sie.

»Trotzdem wüsste ich gerne mehr über ihn. Ich mag Jonas nämlich schon.«

Meine geänderte Strategie zeigte Wirkung.

»Wirklich?« Sie riss die Augen auf.

»Ja. Und wer mochte ihn noch?«

Sie schwieg. »Er lebte im Wald«, sagte sie nach einer langen Pause.

Ich versuchte, an die Bemerkung anzuknüpfen. »In einer Hütte«, sagte ich.

Sie schwieg wieder, und ich dachte krampfhaft darüber nach, was ich sagen könnte, um ihre Aufmerksamkeit weiter auf Jonas zu lenken. Ich wälzte die Wörter Wald und Hütte, dachte die ganze Zeit Wald, Wald, Wald.

»Er interessierte sich für den Hakenkreuzwald«, sagte ich plötzlich.

Vanessa Michels Kopf ruckte nach oben, und sie sah mich entsetzt an. Sie schien etwas sagen zu wollen, doch sie brachte nichts heraus.

»Wissen Sie, wo dieser Wald ist?«, fragte ich.

Sie holte tief Luft; es klang wie ein Stöhnen, und es lief mir eiskalt den Rücken herunter.

Sie ruckte mit dem ganzen Körper herum und schwang die Beine aus dem Bett. Dann griff sie hektisch zu einem Blatt Papier, das auf dem kleinen Schreibtisch lag, und kritzelte etwas darauf.

»Der Wald«, brachte sie mühsam hervor und kritzelte weiter.

Mein Gott, dachte ich. Sie weiß tatsächlich, wo dieser Hakenkreuzwald ist!

Sie wischte das Papier vom Tisch, und es segelte auf den Teppichboden. Dann suchte sie ihre Wasserflasche. Sie lag schräg im Bett, es lief etwas Wasser aus. Vanessa Michel packte sie und setzte sie mehrmals hintereinander an den Mund. Dabei ließ sie mich nicht aus den Augen. Das Zettelchen lag einen knappen Meter von mir entfernt. Ich wusste nicht, was passieren konnte, wenn ich mich weiter in den Raum hineinbewegte, aber ich musste es riskieren. Ich ging einen Schritt vor und bückte mich. Vanessa Michel kauerte sich wieder auf das Bett und rutschte ganz bis an die Wand.

»Lisa«, rief sie wieder. »Lisa!«

Ich erhob mich und warf einen Blick auf den Zettel. Es war ein Umriss, eine Linie, die eine unregelmäßige Form umrandete. Keine Ortsangabe.

»Was ist das?«, fragte ich. Sie riss die Augen noch weiter auf. Ich steckte den Zettel in die Hosentasche.

»Lisa!«, schrie sie plötzlich lauter als jemals zuvor.

»Beruhigen Sie sich«, rief ich und bemerkte, dass Vanessa Michel nicht mich anstarrte, sondern einen Punkt hinter mir.

Im selben Moment drosch mir etwas von hinten in den Nacken. Ich drehte mich herum und bekam jemanden zu fassen, der aber Bärenkräfte zu haben schien. Meine Hände rutschten ab, und ich knallte mit der rechten Schläfe gegen den Türrahmen. Ich torkelte in den kleinen Flur, aber da war der andere schon hinter mir und riss mir die Beine weg. Ich schlug der Länge nach hin, und plötzlich zuckte ein heftiger Schmerz durch meinen rechten Arm. Der andere hatte ihn mir auf den Rücken gedreht, und ich rechnete jeden Moment damit, dass der Knochen brach.

»Was wollen Sie hier?«, fragte eine Stimme, die eindeutig einer Frau gehörte.

»Nichts«, ächzte ich. Mehr bekam ich nicht heraus. Die Frau stellte mir einen Fuß auf den Rücken und presste meinen Oberkörper zusammen, dass mir die Luft wegblieb.

»Dafür sind Sie aber ganz schön weit hier reingekommen.«

»Sind … Sie … Lisa?«

»Allerdings. Und mit wem habe ich das Vergnügen?«

»Kann … nicht… sprechen …«

Endlich nahm sie den Fuß weg.

»Ihre Schwester hat mich selbst ins Haus gelassen. Ich habe ihr nichts getan«, keuchte ich. Ich musste den Kopf anheben, damit meine Lippen nicht auf dem Teppichboden rieben.

»Und warum?«

Ich brachte mühsam hervor, dass ich Ermittler war, und bot ihr an, meine Lizenz aus der Brieftasche zu holen. Sie tastete sich durch mein Sakko, und dabei fand sie meine Waffe. Sie zog sie aus dem Holsten Dann ließ sie mich los.

»Behalten Sie Ihre Lizenz«, sagte sie. »Solange ich das hier habe, bin ich zufrieden. Stehen Sie auf.«

Ich erhob mich, und das Erste, was in den Blick kam, war die Tür zu Vanessa Michels Zimmer, die jetzt geschlossen war.

Dann drehte ich mich um, und ich sah Lisa. Sie war schlank, groß, blond und wirkte sehr sportlich. Ihre hellen Augen waren starr auf mich gerichtet. Nicht nur die Augen. Auch der Lauf meiner Pistole. Sie war nicht entsichert. Die Frau konnte nicht allzu viel damit anstellen. Noch nicht.

»Noch mal ganz kurz und klar: Was wollen Sie?«

Ich erklärte, dass ich auf der Suche nach Ratnik war, und brachte auch die Geschichte von dem toten Kind in eine Kurzform, die hoffentlich verständlich war.

»Los«, sagte die Frau. »Wir dürfen Vanessa nicht aufregen. Gehen wir ins Wohnzimmer.« Sie wies mit dem Pistolenlauf in die Richtung des Treppenabsatzes.     

»Gehen Sie dort rein.«

Das Wohnzimmer bestand aus einer Sitzecke, einer Schrankwand, einem Fernseher und einem kleinen Esstisch neben der Küchentür.

»Es tut mir Leid«, sagte die Frau. »Aber ich habe immer ziemlich Angst um Vanessa. Und als eben die Nachbarn sagten, da sei ein fremder Mann ins Haus gegangen, und dann auch noch einer mit so einem Auto …«

»Was ist mit Ihrer Schwester?«, fragte ich.

Lisa Michel ging ein paar Schritte durch das Zimmer. Ihr schien nicht bewusst zu sein, dass sie immer noch meine Pistole in der Hand hatte. »Die Therapeuten wissen es nicht. Manche sagen, es sei eine Psychose. Aber das ist ein sehr allgemeiner Begriff. Es ist in den letzten Jahren schlimmer geworden. Und es wird immer schwieriger. Sie sehen es ja. Ich war gerade mal zwei Stunden aus dem Haus, weil ich einen Termin beim Arzt hatte. Und schon macht sie solchen Unsinn. Sie weiß genau, dass sie nicht ans Telefon gehen und niemanden hereinlassen soll.«

»Hören Sie«, sagte ich. »Ich will Ihnen nicht die Zeit stehlen. Können Sie mir jemanden nennen, der Jonas Ratnik gekannt hat? Das tote Kind ist wahrscheinlich sein Kind. Wie ich herausgefunden habe, hat er einige Jahre auf einer Hütte in der Nähe von Gummersbach gelebt. Zusammen mit einer Frau, die wahrscheinlich Portugiesin war. Im Frühjahr dieses Jahres ist er nach Kanada gegangen. Das haben die Überprüfungen der Flüge und der Visa-Anträge ergeben. Ich wüsste gerne mehr über die Frau, über Jonas Ratnik, über gemeinsame Bekannte und so weiter.«

Lisa Michel wirkte überrascht. »Jonas ist tatsächlich drüben? Das hätte ich nicht erwartet.«

»Warum nicht?«

»Na ja, es war zwar sein großer Traum. Und er hat auch jahrelang davon geredet. Aber dass er diesen Plan wirklich mal in die Tat umsetzt, hätte ich ihm nicht zugetraut.«

»Ich habe den Eindruck, er hat ziemlich eigenwillig das umgesetzt, was er sich vorgestellt hat. Jahrelang in so einer Hütte zu leben, ist nicht ganz einfach.«

Lisa Michel ging in die Küche nebenan. »Das glauben Sie! Sie haben ihn nicht gekannt. Er war ein Versager, nichts weiter. Ein Phantast. Wer weiß - vielleicht ist die Krankheit meiner Schwester sogar seine Schuld.«

»War sie denn schon so, als er noch mit ihr verheiratet war?«

Sie kam mit einem breiten Glas wieder, in dem eine Flüssigkeit bernsteinfarben leuchtete.

»Ein bisschen. Aber wir haben es nicht so sehr gemerkt, weil er sie völlig von uns fern gehalten hat. Möchten Sie auch was trinken?«

»Nein danke. Was heißt ›von uns‹?«

»Von ihrer Familie. Von mir und unserem Vater.«

»Wann war die Scheidung von Jonas und Vanessa?«

»Vor knapp sechs Jahren. Seitdem haben sie sich auch nicht mehr gesehen.«

»Sind Sie sicher?«

»Vollkommen. Vanessa lebte die ganze Zeit bei mir.«

»Wissen Sie, wo sie am Abend des 25. April 2003 war?«

»Auch bei mir. Wie jeden Abend. Ich kümmere mich um meine Schwester. Rund um die Uhr.«

»Nur heute Nachmittag nicht.«

»Wenn Sie es genau wissen wollen: Vier Stunden morgens bin ich auch nicht da. Ich arbeite halbtags in einem Fitnessstudio.«

»Können Sie mir vielleicht einen Hinweis über gemeinsame Bekannte geben?«, machte ich einen neuen Vorstoß. »Gibt es irgendeine Verbindung zu Portugal?«

Lisa Michel schüttelte den Kopf und trank auf einen Rutsch ihr Glas aus. »Ich habe mich nie um Jonas gekümmert. Und das Thema ist auch vorbei.«

»Wissen Sie etwas darüber, ob er sich für einen bestimmten Wald interessiert hat?«

»Was meinen Sie damit? Der Typ wollte doch nur im Wald leben. Welcher, war ihm egal. Hauptsache Wald.«

»Es soll einen Wald im Bergischen Land geben, der die Form eines Hakenkreuzes hat«, sagte ich.

Sie wandte den Kopf. »Was?«

»Angeblich hat sich Ihr Schwager dafür interessiert.«

»Woher wissen Sie das denn?«

»Ich weiß es eben. Aber was wissen Sie?«

»Die Geschichte klingt, als sei sie aus Vanessas eigenartigen Büchern.«

»Was für Bücher?«, fragte ich, obwohl ich die Titel oben gesehen hatte.

»Esoterik-Zeug. Kornkreise. Hohlwelt-Theorien. Jesus war ein Außerirdischer. Dieser Kram. Vanessa liest so was, und ich lasse sie.«

»Hat Ihr Schwager so was auch gelesen?«

»Kann sein.«

Ich griff in die Tasche und holte den Zettel mit der Zeichnung hervor. »Sagt Ihnen das hier etwas?«, fragte ich und hielt ihr die Umrandung vor die Nase.

»Was ist das?«

»Ich weiß es nicht. Es ist ein Indiz, auf das ich bei meinen Ermittlungen gestoßen bin.«

Ich betrachtete die Linien genauer. Die Form wirkte wie eine Hand mit drei aufgerichteten Fingern. Wie die Hand eines Außerirdischen. Oder war es eine Pflanze?

Lisa Michel kam näher und tippte auf das Papier. »Das sieht ein bisschen aus wie die Aggertalsperre. Die hat doch auch drei Ausläufer - so kleine Buchten. Waren Sie da schon mal?«

»Nein.«

»Sollten Sie mal hinfahren. Vor allem im Sommer ist da viel los.« Sie stellte das Glas auf den Wohnzimmertisch. »Und rund herum ist jede Menge Wald. Da treffen Sie bestimmt einen ganzen Haufen so verkrachter Typen wie Jonas.«

»Dieses Blatt stammt von Ihrer Schwester«, sagte ich. »Sie hat mir das aufgemalt, als ich sie nach dem Hakenkreuzwald gefragt habe.«

Lisa Michel wirkte ehrlich erstaunt. »Das erfinden Sie doch. Hören Sie auf, meine Schwester in diese Sache reinzuziehen.«

»Wir können Ihre Schwester noch einmal danach fragen. Lassen Sie uns hinaufgehen.«

Ihr Blick wurde eng und abweisend. »Kommt überhaupt nicht in Frage. Ich schlage vor, Sie gehen jetzt. Und nehmen Sie das hier mit.« Sie reichte mir meine Pistole.

Lisa Michel knallte sofort die Tür zu, nachdem ich das Haus verlassen hatte. Als ich in den BMW einstieg, fiel mein Blick auf ein Fenster in der oberen Etage. Das Zimmer war nicht beleuchtet, und ich konnte die Person, die da hinter der Scheibe stand, nicht richtig erkennen. Ich war aber sicher, dass es Vanessa Michel war, die zu mir herunterstarrte.

»Es ist tatsächlich die Aggertalsperre«, sagte Jutta und hielt den Zettel neben den Autoatlas, der aufgeschlagen auf dem Küchentisch lag.

Vor uns standen Teller mit dampfender Tomatensuppe. Offenbar hatte Jutta für die ganze Woche vorgekocht.

»Du weißt doch, dass ich so wenig Lust auf diesen Küchenkram habe«, sagte sie und stellte den Brotkorb auf den Tisch. »Und jetzt iss, bevor es kalt wird. Das heißt - ich will natürlich wissen, was du rausgekriegt hast. Dieser Zettel hier, auf dem die Aggertalsperre sein soll, ist doch nicht alles, oder? Was hat denn Ratniks Ex-Frau gesagt?«

Ich nahm einen Löffel Suppe, dann begann ich zu erzählen. Die Sache mit der Zeichnung hatte mich dermaßen beschäftigt, dass ich gleich mit der Tür ins Haus gefallen war. Als ich Jutta nun von der Begegnung mit Vanessa Michel berichtete, wurde sie nachdenklich.

»Glaubst du, sie hat etwas mit dem Tod des Kindes zu tun?«

»Ich kann es nicht ausschließen. Die Schwester sagt zwar, Vanessa Michel sei prinzipiell zu Hause und immer unter ihrer Aufsicht, aber das stimmt nicht. Ich habe es ja selbst erlebt. Andererseits glaube ich kaum, dass sich Ratniks Ex-Frau von Marienheide nach Solingen aufgemacht hat, um ein Kind zu überfahren.«

»Und wenn diese Lisa dahinter steckt? Sie kann ihren Ex-Schwager nicht leiden.«

»Aber der Ex-Schwager ist ausgewandert. Warum hätte sie das Kind umbringen sollen?«

»Vielleicht ist das Kind gar nicht von der unbekannten Ausländerin, sondern von Vanessa Michel. Und es hat Streit darüber gegeben, ob das Kind mit nach Kanada soll.«

»Sehr gewagte Hypothese. Die ist doch seit Jahren von Ratnik geschieden.«

»Seit wann hindert einen eine Scheidung daran, ein Kind zu zeugen?« Jutta spann ihren Gedanken unbeirrt weiter. »Ich kann mir das genau vorstellen: Man hat ihr das Kind gleich nach der Geburt weggenommen, und sie leidet sehr darunter, dass sie es noch nie gesehen hat. Als die beiden erfahren, dass Ratnik weg will, setzen sie ihm die Pistole auf die Brust.«

»Du fantasierst. Außerdem ist Vanessa Michel dazu nicht in der Lage.«

»Natürlich steckt Lisa Michel dahinter«, sagte Jutta und griff in den Brotkorb. »Genau: Sie ist die treibende Kraft. Sie plant, das Kind zu entführen.«

»Und bringt es aus Versehen um. Mensch, Jutta!«

»Das kann passieren«, sagte Jutta. »Vielleicht war es ein Unfall. Und den haben sie dann vertuscht.«

»Und sie lassen das tote Kind liegen? Und Ratnik? War der auch an der Vertuschung beteiligt? Der wäre doch sicher zur Polizei gegangen, wenn jemand sein Kind umbringt, oder?«

»Vielleicht haben sie ihn erpresst? Vielleicht lebte die Ausländerin, mit der er zusammen war, illegal hier? Darüber haben wir ja schon mal gesprochen.«

»Und wir haben gesagt, dass sie nicht illegal hier ist, wenn sie aus Portugal kommt.«

»Wenn die Frau jedoch aus irgendeinem Grund keine Aufenthaltsgenehmigung besaß, könnten sie ihn nach dem Unfall erpresst haben.«

»Dann frage ich mich aber, ob er sie mit nach Kanada genommen hat. Denn sie hatte dann sicher keine Papiere.«

»Tja«, sagte Jutta und sah versonnen vor sich hin, während sie auf dem Brotkanten herumkaute. »Das musst du halt noch rauskriegen.«

Ich legte die Hände auf den Tisch. »Moment mal«, sagte ich. »Ehe das jetzt in wilde Spekulationen ausufert: Die Scheidung von Ratnik und seiner Frau ist fast sechs Jahre her. Das Kind war deutlich jünger. Seit der Scheidung hat er seine Frau nicht mehr gesehen.«

»Wer sagt das?«

»Lisa Michel. Ob es stimmt, ist natürlich eine andere Frage. Weißt du was? Ich würde mich gerne mal etwas mehr mit den Fakten befassen«, erklärte ich und sah auf die Uhr. Es war zwanzig nach sieben. »Zichorius wollte mich anrufen und mir ein paar von den Bauherren nennen, bei denen Ratnik gearbeitet hat. Morgen werde ich sie überprüfen. Ich hoffe, dass wir dann was Handfestes haben.« Ich wischte mir durch die Haare. »Warum meldet der sich nicht? Am besten, ich rufe ihn an.«

»Dann bin ich ja frei für die andere Spur«, sagte Jutta.

»Welche andere?«

Sie nahm den Zettel. »Den Hakenkreuzwald.«

Ich schüttelte den Kopf. »Wir sollten das nicht überbewerten.«

»Findest du es nicht seltsam, dass Vanessa Michel ausgerechnet darüber zu reden bereit war? Und über nichts anderes?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hatte sie in dem Moment einfach so weit, dass Sie mir was erzählen wollte. Sie hätte sicher auch noch mehr gesagt, wenn nicht ihre Schwester dazwischengekommen wäre.«     

Jutta schüttelte den Kopf. »Trotzdem. Das hat irgendwas zu bedeuten. Ich werde das rauskriegen.«

»Und wie?«

»Das wirst du sehen. Kümmere du dich mal um den Zimmermann. Ich gehe solange rauf in mein Arbeitszimmer.«

»Du hast ein Arbeitszimmer? Was arbeitest du denn?«

»Nicht so spöttisch, mein Lieber. Man muss ja hin und wieder ein paar Schecks unterschreiben, sich um Abrechnungen kümmern und Korrespondenz erledigen. Reich sein ist ein Beruf. Aber davon hast du keine Ahnung.«

»Wenn reich sein ein Beruf ist, dann möchte ich bei dir eine Ausbildung machen.«

»Lektion eins: Arbeiten, damit Geld reinkommt.« Sie legte mir das Telefon hin. Ich nahm das drahtlose Teil, ging hinüber ins Wohnzimmer und wählte Zichorius' Nummer. Er war gleich am Apparat.

»Guten Abend, Herr Rott«, sagte er. »Ich hab's schon in Ihrer Firma versucht.«

»Ich bin noch unterwegs«, sagte ich. »Haben Sie was gefunden?«

»Ja. Es war nicht weiter schwierig. Ich habe alles aufgelistet, wo Jonas mitgearbeitet hat. Es ist nicht viel. Wie gesagt, er hat sehr sporadisch bei mir gearbeitet. Soll ich Ihnen das Ganze rüberfaxen?«

»Das wäre am einfachsten. Am besten direkt in mein Büro.« Ich gab ihm die Nummer, verabschiedete mich und legte auf. Dann ging ich hinauf zu Jutta. Der Raum im Obergeschoss, wo sie ihren Reichtum verwaltete, war größer als mein Wohnzimmer. Sie saß an einem frei stehenden Schreibtisch, auf dem sich nichts als ein aufgeschlagener Kalender und ein Notebook befanden.

»Was machst du da?«, fragte ich. »Hast du eine Datei mit Hakenkreuzwäldern in deinem Computer?«

»Setz dich mal da hin, du Ahnungsloser«, sagte sie und wies auf eine Couch an der Wand. »Ich nutze natürlich die moderne Informationstechnologie, wenn ich etwas wissen will. Man nennt es auch Internet.«

»Dein Laptop hat gar kein Kabel«, bemerkte ich und versank in den weichen Polstern.

»Das ist heute auch nicht mehr nötig. Lass mich jetzt mal suchen.«

Ich blieb sitzen, verhielt mich still und war eigentlich ganz froh, dass mir Jutta den Internetkram abnahm. Nachdem sie etwa zehn Minuten auf dem Notebook herumgeklappert und immer wieder Laute des Erstaunens ausgestoßen hatte, verdünnisierte ich mich hinunter in die Küche und holte mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Feierabend war Feierabend.

Mit der Flasche in der Hand lungerte ich im Wohnzimmer herum, begutachtete den Flügel mit einer »Klavierschule für Anfänger« auf dem Notenhalter und wandte mich dann dem Couchtisch zu. Dabei fiel mir eine Programmzeitschrift in die Hände. Um Viertel nach acht kam ein Dick-und-Doof-Spielfilm. In genau zwölf Minuten. Gute Aussichten.

Ich überbrückte die Zeit damit, mich an Juttas Panoramascheibe zu stellen und die Aussicht über das abendliche Elberfeld zu betrachten. Die Lichter sahen imposant aus.

Ich war gerade schön in meinen Gedanken versunken, da bemerkte ich ein Geräusch hinter mir. Ich drehte mich um und sah Jutta, die mit dem aufgeklappten Laptop auf dem Arm die Treppe heruntergelaufen kam.

»Remi!«, rief sie. »Das musst du dir ansehen. Du wirst es nicht glauben!«

»Hast du den Wald gefunden?«, fragte ich.

»Viel mehr als das. Setz dich hin. Wir schauen uns das an. Oder besser - ich erzähl's dir.«

Ich ließ mich in einen der weißen Sessel fallen. »Leg los.«

»Erstens: Sagt dir der Name Robert Ley was? Doktor Robert Ley?«

Irgendwie kam mir der Name bekannt vor; ich wusste aber nicht, wo ich ihn hinstecken sollte. »Erzähl.«

Jutta las von ihrem Bildschirm ab. »Dr. Robert Ley war im Naziregime Reichorganisationsleiter, Gründer der deutschen Arbeitsfront und der Organisation ›Kraft durch Freude«.«

»Und er hat den Hakenkreuzwald gepflanzt?«

»Das nicht, aber rate mal, wo er herkam.«

»Aus Solingen?«

»Nicht genau. Er wurde in Niederbreidenbach geboren, und das liegt im Kreis Gummersbach, dem heutigen Oberbergischen Kreis.«

»Und? Warum soll es im Oberbergischen Kreis weniger Nazis gegeben haben als woanders?«

»Aber interessant ist, dass dieser Ley - ein wirklich hohes Tier bei den Nazis - schon sehr früh dafür gesorgt hat, dass die NSDAP im Bergischen Land ganz nach vorne kam. 1935 hat er bei Waldbröl ein Landgut erworben. Es hieß übrigens ›Rottland‹.«

»Wie bitte?« Ich nahm einen Schluck Bier, und plötzlich fiel mir auf, dass ich mich schon wie Vanessa Michel verhielt. Ob sie mal Alkoholikerin gewesen war?

»Mach dir nichts draus. Irgendwie musste es ja heißen. Hier steht, er herrschte auf dem Gut wie ein kleiner Feudalherr. Wenn ich das richtig verstehe, hatte er praktisch sein eigenes kleines Nazireich.«

»Und du meinst, er hat dort auch so was wie diesen Hakenkreuzwald gepflanzt?« Ich nahm noch einen Schluck. »Das klingt sogar plausibel. Die Frage ist nur, was das mit unserem Fall zu tun hat.«

»Es gibt noch ein Problem.« Jutta machte ein nachdenkliches Gesicht.

»Welches?«

»Das Gut war nicht bei Gummersbach und auch nicht in der Nähe der Aggertalsperre, sondern in Waldbröl.«

»Das sind immerhin an die zwanzig Kilometer südlich, schätze ich. Vielleicht hat sich Vanessa Michel geirrt?«

»Ich weiß es nicht. Aber ich werde das rauskriegen. Eins ist nämlich sicher.«

»Was?«

»Solche Hakenkreuzwälder gibt es.«

»Tatsächlich?«

Jutta nickte und tippte auf der Tastatur herum. »Ich brauchte nur das Wort Hakenkreuzwald in die Suchmaschine einzugeben, da kam schon ein Bericht über so einen Wald. Allerdings liegt er nicht im Bergischen Land, sondern in Brandenburg. Irgendwo in der Uckermark. Der Ort heißt Zernikow.«

»Und der Wald hat tatsächlich die DDR überlebt?«

»Allerdings. Er ist 1938 gepflanzt worden. Erst im Jahr 2000 hat man die Bäume gefällt. Das Muster war nur aus der Luft zu erkennen. Schau mal.«

Sie drehte das Notebook herum, und ich konnte ein grünes Quadrat erkennen - ein Waldstück von oben. Manche Baumspitzen besaßen ein helleres Grün als die anderen. Und dieses helle Grün bildete tatsächlich ein Hakenkreuz.

»Ich hab mir das ganz anders vorgestellt«, sagte ich. »Ich hatte gedacht, die Bäume würden frei stehen. Sie sind aber Teil eines größeren Waldes.«

Jutta nickte. »Wenn das bei unserem Wald auch so ist, weißt du, warum du ihn auf keiner Karte findest.«

»Und das ist auch der Grund, warum er ganz allgemein so schwer aufzuspüren ist.« Ich überflog den Text. Es war ein Zeitungsbericht über die bevorstehende Abholzung. »Das Kreuz besteht aus Lärchen, die in einem Kiefernwald stehen«, sagte ich. »Komisch. Ich hätte eher erwartet, so ein richtiger Nazi pflanzt sein Hakenkreuz aus echten deutschen Eichen. Warum die Lärchen genommen haben, steht hier nicht.«

»Egal«, sagte Jutta. »Ich denke, wir sollten der Sache nachgehen. Stell dir mal vor, wir finden diesen Wald. Das wäre doch eine Sensation.«

»Sicher.« Ich zog eine Zigarette hervor und bemühte mich, die klotzige Schrift »RAUCHEN KANN TÖDLICH SEIN« zu ignorieren. »Aber ich frage dich noch mal: Warum interessiert uns das? Was hat es mit dem Fall zu tun?«

»Leg dich doch nicht so fest. Mal sehen, wo der Wald ist, und vor allem - mal sehen, was in dem Wald ist. Wer weiß, was irgendwelche Neonazis oder übrig gebliebene Altnazis da veranstalten? Das sind doch alles Esoteriker. Vielleicht haben sie an der Stelle, wo sich die Balken kreuzen, eine Art Kultstätte oder so was.«

»Das kleine Mädchen ist aber nicht in einem Wald umgekommen«, wandte ich ein. »Außerdem: Wie willst du den Wald finden?«

Jutta klappte ihr Notebook zu und grinste. »Das lass mal meine Sorge sein. Ich habe da schon so eine Idee …«