1. Kapitel

Der Finger des Verlagsleiters war dick wie eine Knackwurst und glänzte. Ich vermutete, dass er auch genauso fettig war.

Der Finger tippte dreimal auf meine Bewerbungsunterlagen, dazu stellte der Mann mit unangenehmer Fistelstimme zum dritten Mal dieselbe Frage.

»Sie sind wirklich Detektiv?«

Ich nickte - ebenfalls zum dritten Mal. Mir wurde klar, dass man bei Bewerbungsgesprächen nicht nur agil, interessiert und kompetent auftreten musste, sondern auch ein gehöriges Maß an Geduld an den Tag zu legen hatte.

»Soso«, machte der Verlagsleiter, der anscheinend auch Personalchef war. Außer einer älteren Dame mit Rüschenbluse im Vorzimmer und ihm hatte ich in den Büroräumen niemanden gesehen.

»Und?«, fragte er und sah mich mit kleinen dunklen Mäuseaugen an.

»Und was?«, fragte ich.

»Warum wechseln Sie den Job?« Er lehnte sich in seinem Chefsessel so weit zurück, dass das Möbel gequält aufschrie. »Eine Detektei ist doch ein Unternehmen. Und ein Unternehmen gibt man nicht so leicht auf. Ich spreche da aus Erfahrung.«

Er verzog den Mund und unternahm den Versuch, mein Lächeln zu erwidern, was ich als gutes Zeichen deutete. Ich überlegte, was ich ihm sagen sollte. Zum Glück gewann ich etwas Zeit, weil der Verlagsleiter zu einem kleinen Monolog ansetzte.

»Sehen Sie, in den heutigen Zeiten sollte man versuchen, seine Selbstständigkeit zu bewahren. Schauen Sie sich meinen Verlag an. Uns geht's nicht so rosig, wie Sie vielleicht denken. Trotzdem verteidige ich wacker meine Pfründe. So ein Firmenadressbuch im Internet ist was wert. Wenn heute nicht, dann morgen.« Er beugte sich vor, und sein Ton wurde verschwörerisch. Offenbar sprach er jetzt von Unternehmer zu Unternehmer. »Man darf sich seine Chancen nicht nehmen lassen. Und Ermittlungen«, er machte eine vage Handbewegung, »Ermittlungen sind doch sicher etwas, was heutzutage jeder benötigt.«

Sein Blick wurde verklärt und ging zur Decke. Gleichzeitig griff er neben sich, zog eine Schublade auf und holte einen dicken Cheeseburger hervor. »Das Leben wird doch immer schwieriger, immer undurchsichtiger. Wer kann sich heute noch auf die Polizei verlassen? Die Menschen müssen selbst Verantwortung übernehmen, sie müssen sich in einer immer komplizierter werdenden Welt zurechtfinden. Und dafür brauchen sie Hilfe. Hilfe, die Sie den Menschen bieten können …«

Er drehte den Kopf zur Seite und biss zu. Soße tropfte auf den Schreibtisch, auch meine Bewerbungsmappe bekam etwas ab. Da der Verlagsleiter jetzt kaute und nicht mehr sprach, erlaubte ich mir, eine Frage zu stellen.

»Was wäre denn nun meine Aufgabe hier?«

Der Verlagsleiter schluckte, und ich sah das dicke Cheeseburger-stück seinen Hals hinuntergleiten.

»Bücher«, erklärte er.

Mir wurde flau, als die Ausdünstungen des Cheeseburgers über den Schreibtisch in meine Richtung drangen. Es war neun Uhr morgens, und ich hatte nicht gefrühstückt. War es eben nicht um irgendetwas mit dem Internet gegangen?

»Aha, Sie verlegen also auch Bücher«, sagte ich. »Interessant.«

Der Verlagsleiter schmiss den Cheeseburger irgendwohin, stand auf und öffnete eine Tür. »Schauen Sie her.«

Zuerst dachte ich, der Raum nebenan sei eine Baustelle, denn ich erkannte eine Mischmaschine, Schaufeln und graue Plastikbottiche. Aber hier wurde nicht renoviert. Die Bottiche und die Mischmaschine waren voller Bücher. Hauptsächlich Paperbacks, manche vergilbt, andere noch ziemlich neu. Die Bücher standen in Stapeln an der Wand, lagen in Haufen auf dem Boden. Viele waren zerfleddert, auch zerrissen. Einzelne Blätter steckten hier und da.

»Passen Sie auf.« Der Verlagsleiter legte einen Hebel um. Die Mischmaschine begann sich zu drehen. Er griff zu einer der Schaufein, die an der Wand lehnten, und schippte Bücher in die röhrende Maschine, als ob sie Sand wären.

»Ist unsere Erfindung«, brüllte er gegen den Lärm an und lächelte stolz. Er schippte noch ein bisschen, setzte dann die Schaufel ab und rief: »Wir müssen jetzt ein paar Sekunden warten.« Er drehte sich um und beobachtete den Mischvorgang. »Ah - jetzt.«

Er stoppte das Gerät und zeigte in den Behälter der Maschine. »Sehen Sie? Jetzt haben wir all den Ausschuss herausgefiltert und etwas ganz Neues daraus gemacht.« Er griff hinein, als wollte er das große Los ziehen. In seiner Hand war ein Buch. Leinengebunden, brandneu.

»Und wie heißt das Buch?«, fragte ich, denn ich konnte nirgendwo einen Titel entdecken.

Der Verlagsleiter winkte ab. »Das macht die Marketingabteilung. Sie liest es und denkt sich einen Titel aus. Damit haben Sie nichts zu tun. Ihre Aufgabe ist es, die Mischmaschine zu bedienen.« Er hielt mir die Schaufel hin. »Hier. Versuchen Sie mal. Es ist ganz einfach.« Er schmiss die Maschine wieder an, der Lärm steigerte sich.

»Welche Bücher soll ich denn reinschippen?«, rief ich.

»Welche Sie wollen. Das ist ja auch eine kreative Arbeit. Da hinten an der Wand sind die Liebesgeschichten. Hier vorn Krimis, und auf dem ganz großen Haufen da sind historische Romane. Davon sollten Sie eine besonders kräftige Prise nehmen. Ansonsten müssen Sie sich aber keine Gedanken machen. Die Maschine mixt das alles so zurecht, dass es marketingfähig ist.«

Ich begann mit zwei Schaufeln Liebesgeschichten. »Und wo kommen all die Bücher her?«, fragte ich.

»Aus Antiquariaten. Wir kaufen auch private Sammlungen auf.«

Ich legte vier Schaufeln von den historischen Romanen nach. »Gibt's denn da nicht Urheberprobleme? Wenn die Maschine aus bereits vorhandenen Romanen neue zusammenmixt?«

Der Verlagsleiter zuckte mit den Schultern. Komischerweise hatte er wieder einen Cheeseburger in der Hand. Keine Ahnung, wo der so schnell herkam. »Es gibt sowieso keine neuen Geschichten«, erklärte er kauend. »Jede ist schon mal erzählt worden. Im Grunde macht die Maschine nur, was sonst im Kopf des Autors vorgeht. So kompliziert, wie man denkt, ist das gar nicht. Wissenschaftlich erwiesen! Sie mischt zusammen, was sie kennt. Basta.«

Ich schippte ein bisschen Krimi nach und wischte mir die Stirn. Täuschte ich mich, oder war es wirklich ziemlich warm hier drin?

»Das machen Sie sehr gut. Nehmen Sie noch was von der Sachliteratur. Da hinten.«

»Ach, kann man die auch mit Romanen mischen?«

»Natürlich! Die Leute wollen ja was lernen, wenn sie lesen. Betrachten Sie sich auch als Experimentator. Je besser Ihre Mischungen sind, desto besser machen Sie Ihren Job.«  

»Dann versuchen wir's doch mal damit!«

Ich nahm dem Verlagsleiter den Cheeseburger aus der Hand und warf ihn in die rotierende Öffnung.  

»Was haben Sie getan?« Der Mann wirkte plötzlich furchtbar aufgeregt.

»Wieso? Ich denke …«

»Sie können mir doch nicht einfach mein Mittagessen wegnehmen! Und außerdem …«

Aus der Mischmaschine kam ein dumpfer Knall, dann spuckte das Ding plötzlich etwas Grünliches.

»Es ist doch sonnenklar, dass sich Bücher nicht mit Nahrungsmitteln vertragen«, schrie der Verlagsleiter und lief rot an.

»Das ist mir überhaupt nicht klar. Wieso - das …« Ich hatte keine Zeit, weiterzustammeln. Die grünliche Brühe, die das Gerät auskotzte, war plötzlich überall. Es war unglaublich, wie viel davon in dem Behälter war.

»Wir müssen hier raus!«, schrie der Verlagsleiter, der mit einem Mal totenblass geworden war. »Schnell!«

Er packte mich an der Hand. Wir rannten durch die Verlagsräume. Auch die Dame in der Rüschenbluse stöckelte angsterfüllt mit uns mit. Endlich erreichten wir das Treppenhaus. Von irgendwo her kam ein mächtiges Donnern; die Mauern des Gebäudes schienen zu zittern.

»Sie wird explodieren!«, schrie der Verlagsleiter. »Verdammt, sie wird explodieren!«

Endlich waren wir auf der Straße. Ich drehte mich um. Die grüne Brühe lief mittlerweile die Hauswand hinunter, es donnerte wieder, und plötzlich kamen Flammen aus dem Gebäude. Ich rannte und rannte, aber ich kam nicht von der Stelle, und irgendetwas schepperte. Meine Hand war an ein paar Flaschen gestoßen, die allesamt umfielen, und auf einmal rannte ich nicht mehr, sondern ich saß - und zwar in meinem Wohnzimmersessel.

Ich richtete mich auf und befühlte meinen Kopf. Er schmerzte.

Der Fernseher war an, aber leise gestellt. Eine große Limousine in Silbermetallic rollte gerade gemächlich durch eine menschenleere Landschaft. Die Uhr, die auf dem Fernsehgerät stand, zeigte Viertel nach zwölf. Durch das Fenster drang das graue Licht eines Novembertages ins Zimmer.

Meine Klamotten waren schweißnass. Als ich aufstehen wollte, rutschte ein Stapel Papier zu Boden. Es waren Zeitungen und einige Notizzettel, übersät mit Zahlen. In der Zeitung hatte ich eine Stellenanzeige umkringelt: »VERLAGSLEKTOR GESUCHT«. Daneben lag ein aufgeschlagener Notizblock. Ich entzifferte ein paar Worte in meiner Handschrift. Der Anfang eines Bewerbungsschreibens.

Alles klar, dachte ich. Du hast wieder mal deine Krise gehabt.

Wenn das passierte, schnappte ich mir von einem unerklärlichen Zwang getrieben meine spärlichen Aktenordner und rechnete mir vor, was für ein armes Schwein ich doch war. Dass ich in den vielen Jahren meiner freiberuflichen Detektivtätigkeit gerade mal so viel verdient hatte, dass ich nicht verhungert war.

Dann kam die Phase der Jobsuche. Ich besorgte mir die Wochenendausgabe einer Zeitung (zufällig fand meine Krise fast immer am Wochenende statt) und arbeitete mich durch die Stellenangebote. Spätestens dabei ging die Krise in das über, was ich »den großen Frust« nenne. Ich stellte fest, wie bescheuert doch all die anderen Jobs waren, und damit ich das auch glaubte, schüttete ich ordentlich Früh-Kölsch in mich hinein. Irgendwann machte es dann »Bumm«, und das Ganze endete wie jetzt.

Ich ging ins Bad, um eine Dusche zu nehmen. Während ich unter dem heißen Wasser stand, fiel mir ein, dass ich einkaufen musste. Mir kam vage in den Sinn, dass ein Blick in meine Geldbörse die Krise gestern ausgelöst hatte. Ich versuchte, den Gedanken zu verdrängen, aber irgendetwas in mir wollte sich partout daran erinnern, dass ich noch höchstens zwölf Euro in der Tasche hatte und -das hatte ich gestern Abend am Geldautomaten extra nachgesehen -mein Konto mit mindestens vierhundert Euro in den Miesen war. Und ein neuer Auftrag, der mich aus dem Schlamassel herausreißen könnte, war nicht in Sicht.

Ich versuchte, das Duschen so lange es ging hinzuziehen. Es hatte keinen Zweck. Irgendwann hatte ich das Gefühl, zusammenzuschrumpeln wie ein vertrockneter Apfel. Ich musste hinaus in die Welt und mich meinen Schwierigkeiten stellen.

Als ich mich dann abgetrocknet und frische Sachen angezogen hatte, fühlte ich mich tatsächlich etwas besser.

So was hast du doch schon oft erlebt, alter Junge, sagte ich mir. Da kommst du auch diesmal wieder raus. Du musst ganz einfach systematisch vorgehen.

Im Büro nebenan setzte ich mich an den Schreibtisch und zog ein Blatt Papier hervor. Ich legte es säuberlich vor mich hin und nahm einen Kugelschreiber aus dem Stiftebecher.

Eine leise innere Stimme warnte mich. Der Griff zum Blatt Papier war der klassische Beginn. Wenn ich jetzt nicht aufpasste, würde ich in null Komma nichts wieder in den Teufelskreis geraten.

Ich wischte den Gedanken fort.

»Von Jutta zum Essen einladen lassen« schrieb ich auf das Blatt. Keine besonders originelle Idee, gab ich zu. Und nicht mal eine gute. Denn meine Finanzmisere würde sich dadurch auch nicht lösen.

»Jutta fragen, ob sie jemanden kennt, der einen Detektiv benötigt« fügte ich in einer zweiten Zeile hinzu. Ich legte den Stift weg und lehnte mich zurück. Schon besser. Bei den Verbindungen, die die Frau hatte.

Gleich kam mir die nächste Idee.

»Kontakte ausbauen. Krüger«.

Krüger war Hauptkommissar bei der Wuppertaler Kriminalpolizei. Er war mir bei meinen Ermittlungsfällen oft über den Weg gelaufen. Wenn man mit ihm reden würde …

Ich biss mir auf die Lippe und überlegte, ob es taktisch geschickt war, Krüger von meiner dünnen Auftragslage zu erzählen.

Schließlich schüttelte ich den Kopf und strich die Zeile wieder durch. Da war es schon besser, Jutta anzurufen.

Ich wollte zum Telefonhörer greifen, als mein Blick auf den Anrufbeantworter fiel. Die Digitalanzeige signalisierte einen gespeicherten Anruf.

Ich drückte auf den Knopf, das Band spulte zurück, dann ertönte die Stimme einer alten Frau.

»Weitershagen in Wuppertal. Ich würde gerne Ihre Hilfe in Anspruch nehmen. Bitte rufen Sie mich zurück.« Sie nannte eine Telefonnummer und sagte höflich »Auf Wiederhören«. Die Maschinenansage gab bekannt, wann der Anruf eingegangen war. Es war keine Dreiviertelstunde her. Wahrscheinlich war es das Telefonklingeln gewesen, das mich aus meinem Traum aufgeschreckt hatte.

Ich blickte auf das Blatt mit meinen Ideen. Ich zückte den Stift und schrieb: »REGELMÄSSIG DEN AB ABHÖREN«.

Eine halbe Stunde später hatte ich mich mit einem Kaffee so weit auf Vordermann gebracht, dass ich einem Kunden gegenübertreten konnte. Ich ging hinunter auf die Kasinostraße, wo mein roter Golf Diesel, Baujahr 1989 stand. Unten im Haus hatte vor einem knappen Jahr ein neuer Kiosk mit dem Namen »City Store« aufgemacht - ein ziemlich reißerischer Name für die paar Quadratmeter. Auf die neue Einkommensquelle hoffend, gab ich eine Menge Geld für eine Schachtel Camel aus, setzte mich ins Auto und fuhr in Richtung Bundesallee. Mein Ziel lag oberhalb von Barmen. Der Schwimmkompass auf dem Aschenbecherdeckel zeigte ungefähr Richtung Nordost.

Ich hatte Frau Weitershagen zurückgerufen, und sie war höflich, aber sehr sparsam mit ihren Worten gewesen.

»Um was für eine Art von Auftrag handelt es sich denn?«, hatte ich gefragt.

»Das werde ich Ihnen erklären, wenn Sie hier sind. Passt es Ihnen in der nächsten Stunde? Wissen Sie, mir ist sehr daran gelegen, dass dieser Sache nachgegangen wird.«

»In Ordnung. Wo kann ich Sie treffen?«

»Bei mir zu Hause am besten, wenn es Ihnen recht ist.« Sie nannte eine Hausnummer in der Adolf-Vorwerk-Straße.

Mir ging das Herz auf. Die Adolf-Vorwerk-Straße war eine hübsche Allee mit einer noblen Villa neben der anderen. Wer dort wohnte, hatte mehr auf dem Sparbuch, als ich jemals im Leben verdienen würde.

Der Wagen röhrte mächtig, als ich ihn das steile Fischertal hinauftrieb. In den Kurven durch den Wald wurde es für mein altes Auto richtig anstrengend, aber der Bursche hielt sich tapfer. Als ich mich oben auf der Höhe den ersten Häusern näherte, wusste ich einen Moment nicht, wo ich hinmusste. Es verschlug mich nicht allzu oft in diese Gegend. Ich kurvte ein bisschen herum und kam schließlich am Toelleturm heraus. Ich umrundete den hübschen Springbrunnen, und die nächste Einmündung führte auch schon in die Adolf-Vorwerk-Straße.

Die Straße säumte den Stadtrand, und nach Osten hin ging der Blick weit weg über Weiden und über eine raue Ebene aus Baumwipfeln tief ins Bergische Land hinein.

Frau Weitershagens Haus war schneeweiß und von einem Rasen umgeben, der so weich und dicht wie ein edler grüner Teppich zu sein schien. Die Fläche war von großen dunkelgrünen Büschen durchbrochen.

Ich drückte auf die Messingklingel. Aus der Sprechanlage kam eine Männerstimme.

»Hier ist Rott«, meldete ich mich.

»Sie werden erwartet«, hieß es, und der Öffner summte.

Ich machte mich an den kurvigen Aufstieg zum Haus hinauf und gelangte an einen säulenverzierten Eingang.

Die Tür öffnete sich, und ich konnte mir gerade noch ein Schmunzeln verkneifen. Vor mir stand ein weißhaariger Herr in dunklem Frack und Fliege. Ein Butler. Wie im Film. Nur das silberne Tablett fehlte.

»Herr Rott?«

Immer noch, hätte ich fast gesagt, nickte aber nur.

»Guten Tag«, begrüßte er mich höflich. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.«

Er führte mich durch eine Diele in ein riesiges Wohnzimmer.

Mir war, als würde ich in ein grünes Meer eintauchen. Grün die Teppiche, grün die Sofas, die Kissen und die Vorhänge. Graugrün, bräunlich grün, tannengrün, die Kissen auf dem Sofa waren gelbgrün, an einer Wand entdeckte ich einen Gobelin mit einer altertümlichen Jagdszene. Sie war aus unterschiedlichen Grüntönen zusammengesetzt.

»Herr Rott ist da«, sagte der Butler, und erst in diesem Moment entdeckte ich mitten in der grünen Sinfonie eine Frau. Sie saß im Rollstuhl vor einem Erkerfenster und blickte in die Ebene hinaus.

»Es ist gut, danke«, sagte sie. Der Rollstuhl summte und drehte sich mitsamt der Frau zu mir um. Ich blickte in ein Gesicht, das von glatten silbernen Haaren umrahmt war. Frau Weitershagen konnte nicht älter als Mitte fünfzig sein.

»Bringen Sie uns bitte den Tee«, sagte sie zu dem Butler. Sie wandte sich zu mir. »Herr Rott, Sie trinken doch sicher auch einen Tee?«  

»Gerne«, sagte ich, obwohl mir Kaffee lieber gewesen wäre.  

Frau Weitershagen drückte wieder auf den Knopf, der den Elektromotor in Bewegung setzte. Sie kam auf mich zugerollt und hielt mir die Hand hin, an der blaue Adern hervortraten. »Guten Tag, Herr Rott. Ich freue mich, dass Sie es so schnell einrichten konnten.« Ich nahm die Hand und grüßte ebenfalls.

»Setzen Sie sich bitte.« Sie wies auf einen Stuhl an einem langen Esstisch mit grünem Tischtuch. Eine Mappe aus dunklem Leder lag darauf. »Nehmen Sie gleich den Stuhl bei den Unterlagen. Die brauchen wir.«

Frau Weitershagen rollte an den Platz genau mir gegenüber. Sie legte ihre rechte Hand auf die Mappe und holte Luft, als wollte sie etwas sagen. Aber dann schwieg sie und nahm die Hand wieder weg.

»Sie wollen jetzt natürlich wissen, warum ich Sie herbestellt habe«, sagte sie schließlich. »Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es überhaupt Sinn hat, in dieser Sache einen Detektiv einzuschalten. Ich war davon überzeugt, dass es der einzig richtige Weg ist, als ich Sie anrief. Jetzt kommt mir das Ganze wieder eigenartig vor.«

Nein, bloß das nicht, dachte ich. Nicht eine Klientin, die sofort wieder absprang.

Frau Weitershagen seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich bin unsicher. Sie werden mich vielleicht für eine Närrin halten.«

Ich sah ihr fest in die Augen. »Frau Weitershagen - Sie sollten mir auf jeden Fall sagen, was Sie beschäftigt. Ich werde Ihnen dann eine Einschätzung geben.«

»Und was wir besprechen, bleibt unter uns?«

»Selbstverständlich.«

»Also gut.« Sie starrte einen Moment auf die noch immer ungeöffnete Mappe. »Sagt Ihnen der Fall Solingen - Potsdamer Straße etwas?«

In mir regte sich eine Erinnerung. Da war etwas in den Medien gewesen …

»Das unbekannte Kind«, half Frau Weitershagen nach, und mir fiel alles wieder ein.

»Das Kind, das tot in Solingen gefunden wurde«, sagte ich. »Das hat ja wochenlang in der Zeitung gestanden.«

Frau Weitershagen nickte. »So war es. Im April wurde eines Nachts mitten auf der Potsdamer Straße in Solingen ein etwa vierjähriges Kind gefunden. Die Polizei ermittelte anhand der Verletzungen, dass es überfahren worden war.«

»In der Zeitung war ein Foto von dem Kind veröffentlicht«, setzte ich die Geschichte fort. »Die Eltern oder andere Erziehungsberechtigte wurden gesucht. Und natürlich der Fahrer des Wagens, der das Kind wahrscheinlich getötet hat.«

Frau Weitershagen nickte. »Ganz genau. Nach einigen Wochen ließ das Interesse nach, und die Journalisten beschäftigten sich wieder mit anderen Dingen. Der Fall des unbekannten Mädchens geriet in Vergessenheit.«

»Und?«, fragte ich.

»Der Fall ist meines Wissens bis heute nicht aufgeklärt worden.«

Ich stutzte. »Tatsächlich nicht?«

Sie schüttelte den Kopf. »Tatsächlich nicht. Stellen Sie sich das vor, Herr Rott. Ein kleines Kind. Es kommt um, und niemand meldet sich, der es vermisst. Keine Eltern, keine Verwandten, keine Freunde, keine Nachbarn. Niemand. Ist das nicht furchtbar?« Ihre Stimme klang bitter.

»Allerdings«, sagte ich.

Der Butler kam mit einem Teewagen herein, auf dem sich eine Kanne mit Stövchen und Geschirr befand. Ohne Umschweife begann er den Tisch zu decken. Frau Weitershagen beachtete ihn nicht.

»Ich persönlich empfinde das als sehr schmerzhaft - zu wissen, dass so etwas in unserem Lande möglich ist. Ich kann es nicht ertragen, dass ein Kind ein so mysteriöses Schicksal haben soll. Ich muss einfach wissen, was dahintersteckt.«

Der Butler hatte uns beiden Tee eingeschenkt und sich wieder zurückgezogen. Frau Weitershagen löffelte braunen Zucker in ihre dampfende Tasse. Irgendetwas musste sie mit dem Schicksal des Kindes verbinden, das spürte ich.

»Was ist in der Mappe?«, fragte ich.

»Das ist das Material aus der Zeitung. Ich habe alles gesammelt, was ich finden konnte.«

Ich schlug den Lederumschlag auf. Es waren saubere Kopien. Ich erkannte einige der Meldungen von damals sofort wieder - auch die reißerischen Überschriften. »DAS TOTE MÄDCHEN VON SOLINGEN« hatte es am Anfang geheißen. Später, als die Sache immer geheimnisvoller wurde, war man zur Schlagzeile »DAS RÄTSEL VON DER POTSDAMER STRASSE« übergegangen. »ZEUGE IM FALL DES TOTEN MÄDCHENS?« war dann zu lesen.

»Hier hat es auch mal eine heiße Spur gegeben«, sagte ich und tippte auf einen späteren Artikel.

Frau Weitershagen setzte ihre Tasse ab und nickte. »Zeugen haben einen weißen Transporter beobachtet, der ungefähr zu der Zeit, als das Mädchen umgekommen sein muss, durch die Potsdamer Straße gefahren ist.«

»Was war gerade an diesem Auto verdächtig?«, fragte ich.

»Die Potsdamer Straße ist eine Einbahnstraße. Und der Wagen befuhr sie in falscher Richtung. Und wohl auch ziemlich schnell.«

»Den Unfall selbst hat aber niemand beobachtet?«

»Niemand, der sich gemeldet hätte.«

»Auch nicht der Zeuge, der das Auto gesehen hat?«

»Nein, der Fundort des Kindes lag viel weiter hinten in der Straße. Sie können das alles nachlesen.«

Ich hatte verstanden, worum es ging. Und ich hatte verstanden, dass ich den Auftrag wahrscheinlich vergessen konnte. Diesmal war nicht das Problem, dass der Kunde absprang, sondern dass der Kunde sich in einen Fall einmischte, der bei der Polizei sicher besser aufgehoben war.

Ich sah auf den Tisch und bemerkte meine Teetasse. Ich nahm einen Schluck. Was die Leute an Tee fanden, blieb mir schleierhaft. Ich hatte den Eindruck, heißes Wasser zu trinken. Heißes Wasser mit einem leicht herben Beigeschmack.

»Frau Weitershagen«, sagte ich dann. »Sie wollen, dass ich diesen Fall aufkläre?«

Sie nickte.

»Einen Fall, der im April stattgefunden hat? Die Sache ist sieben Monate her.«

»Ich habe ihn von Anfang an verfolgt. Und ich habe mir schon damals gesagt: Wenn die Polizei die Sache in einem halben Jahr nicht geklärt hat, schalte ich einen Privatermittler ein.« Sie strich sich das silberne Haar zurück. »Sehen Sie, Herr Rott, mir geht die Sache sehr nahe.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich kann verstehen, dass der Gedanke an das tote Kind einem Unbehagen bereitet…«

Sie legte die Hand auf meinen Arm. »Nicht wahr? Das verstehen Sie! Meine Freundinnen haben mich für verrückt erklärt. Was geht dich das tote Kind an, haben sie gesagt.«

Ich riss mich zusammen, um ihren Arm nicht instinktiv abzuschütteln.

»Wollen Sie es nicht machen?«, fragte sie. »Wenn Sie den Fall nicht übernehmen wollen, dann sagen Sie es nur. Ich werde jemanden anderen finden.«

Ich schüttelte den Kopf. Natürlich wollte ich. Ich würde zur Polizei gehen, abklären, ob es wirklich keine Fortschritte in dem Fall gab. Ich würde nach den Zeugen fragen, und wahrscheinlich würde man sie mir auch nennen. Dann würde ich mich mit den Leuten unterhalten. Das Ganze würde zwei, drei Tage dauern und mir drei Tagessätze zu jeweils zweihundert Euro einbringen. Mein Konto wäre wieder im Lot, und ich hätte sogar noch etwas übrig. Der nächste Monat konnte kommen.

Aber etwas in mir sperrte sich dagegen. »Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Frau Weitershagen«, sagte ich. »In so einem Fall sind die ersten paar Stunden, die ersten Tage entscheidend für die Ermittlungen. Nach sieben Monaten noch etwas herauszufinden, ist praktisch unmöglich. Und wenn - wird sich die Polizei darum kümmern.«

Frau Weitershagens Gesichtsausdruck änderte sich. Sie schien über irgendetwas angestrengt nachzudenken.

»Erklären Sie mir bitte genau, warum Ihnen ausgerechnet dieser Fall so nahe geht«, sagte ich.

»Aber das habe ich doch getan. Das Kind …« Sie sah mich an, und wahrscheinlich waren mir die Zweifel deutlich anzusehen. Jedenfalls verstand sie plötzlich, was ich meinte.

»Kommen Sie mit«, sagte sie.

Sie setzte entschlossen den Rollstuhl in Betrieb, fuhr rückwärts vom Tisch weg und brachte das Gefährt mühevoll auf Kurs in eine andere Ecke des Wohnzimmers.

»Kommen Sie nur.«

Ich erhob mich und folgte ihr langsam - vorbei an einer Vitrine mit dunkelgrünen Gläsern, einem altmodischen Sekretär mit Intarsien und einem Kamin, in dem aufgeschichtet das Holz bereitlag. Dieser Teil des Raumes diente offenbar als Bibliothek. Dem Kamin gegenüber erstreckten sich Bücherregale aus dunklem Holz.

Frau Weitershagen stoppte vor einer Wand, auf der sich Fotografien drängten. Sie steckten in unterschiedlichen Rahmen, besaßen verschiedene Größen - vom Miniplakatformat bis zum Passbild. Manche waren Farbaufnahmen, andere schwarzweiß, manche waren alt, andere neueren Datums. Sie hatten jedoch alle eines gemeinsam: Sie zeigten immer dieselbe Person - einen jungen Mann in den Phasen seines Lebens. Als Baby auf einem flauschigen Teppich, als Krabbelkind im Laufstall, am ersten Schultag mit knallbunter Schultüte, als Halbwüchsigen im engen Anzug vor einer Kirche; ich vermutete, dieses Bild war von der Konfirmation. Dann in Badehosen neben einer Art Kanu vor einem orangefarbenen Zelt an einem See und schließlich als etwa Zwanzigjährigen vor einem Betongebäude, das mich an die Bergische Universität erinnerte.

Vor der Bilderwand stand ein kleiner Tisch, auf dem wie zufällig ein paar alltägliche Dinge lagen: ein blaues Schulheft, eine Armbanduhr mit Kompass und Stoppuhrfunktion. Ein Schulfüller. Ein Personalausweis - noch einer von diesen alten, grauen. Daneben ragte eine dicke weiße Kerze auf. Sie brannte nicht, aber der Docht war schwarz.

»Das ist mein Sohn«, erklärte Frau Weitershagen. »Er ist am 23. August 1999 ums Leben gekommen. Es war ein Verkehrsunfall.«

»Das tut mir Leid«, murmelte ich.

Frau Weitershagen schien mich gar nicht zu hören; sie hatte den Blick fest auf ihren Hausaltar gerichtet. »Es war kurz nach seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag. Er ist in den Semesterferien nach Rom gefahren. Er studierte Kunstgeschichte, wissen Sie. Er wohnte irgendwo außerhalb in der Wohnung eines Freundes. Als er abends zurückkam, wurde er vor dem Gebäude getötet.«

Sie wischte sich mit der Hand durchs Haar. »Harry muss lange an der Unfallstelle gelegen haben. Fußgänger haben ihn gefunden. Man geht davon aus, dass er von einem Wagen angefahren wurde. Man hat den Fahrer des Wagens nicht gefunden. Bis heute nicht, verstehen Sie? Und es ist jetzt vier Jahre her.«  

Ich nickte.  

»Ich kann es einfach nicht mit ansehen«, fuhr sie fort, »dass da ein Kind umkommt, und niemand kümmert sich darum. Irgendwo muss doch eine Mutter oder sonst wer um das Kind trauern. Irgendwo muss es doch ein Zuhause gehabt haben. Und wenn nicht…«, ihre Stimme klang brüchig, »umso schlimmer.«

Frau Weitershagen starrte immer noch die Hinterlassenschaften ihres Sohnes an. Dann riss sie sich los. Ich konnte erkennen, wie ein Ruck durch ihren Körper ging, als sie ihren Rollstuhl in Gang setzte und zum Esstisch zurückkehrte.

»Warum haben Sie so lange damit gewartet, einen Privatermittler zu engagieren?«, fragte ich, als ich wieder vor der Mappe und meiner halb ausgetrunkenen Teetasse saß.

»Am Anfang dachte ich, die Polizei würde das sicherlich schon herausbekommen. Als dann drei, vier Monate um waren und noch immer nichts über eine Lösung des Falls zu lesen war, setzte ich mir eine Frist.«

»Sechs Monate haben Sie gesagt. Jetzt sind es sieben.«

»Ich bin zwischendurch krank gewesen und lag vier Wochen im Krankenhaus.«

»Und Sie haben trotzdem alle Zeitungsausschnitte gesammelt? Ich meine, ist Ihnen nicht vielleicht etwas entgangen? Es kann doch sein, dass man den Fall mittlerweile gelöst hat, und Sie haben es nicht mitbekommen.«

»Ich habe zuverlässige Helfer damit beauftragt, die Zeitungen durchzusehen.«

Ich blätterte durch die Kopien und stieß auf einen Artikel, in dem die Polizei zur Mithilfe der Bevölkerung aufrief. Eine Fotomontage des Kindes war abgedruckt. Ein kleiner Wuschelkopf. Dunkles Haar.

»In Ordnung«, sagte ich. »Ich werde mein Bestes versuchen.«

Frau Weitershagen nickte. »Das habe ich von einem Profi wie Ihnen nicht anders erwartet. Sie haben doch in Wuppertal schon so viele Fälle gelöst. Ich habe in der Zeitung darüber gelesen.«

»Aber wie gesagt: Die Polizei hat viel mehr Möglichkeiten, Zeugen zu finden und Spuren nachzugehen. Und wenn die Polizei nicht weitergekommen ist, hat das seinen Grund. Welchen auch immer. Ich habe ganz gute Kontakte ins Präsidium. Ich informiere mich darüber, wie weit die in dem Fall wirklich sind. Dann spreche ich noch einmal mit den Zeugen. Vielleicht gibt es ja ein Detail, das übersehen wurde.«

»Wie hoch ist Ihr Honorar?«, fragte sie.

»Zweihundert Euro pro Tag plus Spesen. Der heutige Tag zählt mit. Ich bekomme zwei Tagessätze als Vorschuss.«

»Der heutige Tag zählt mit?«

»Ich werde jetzt sofort mit der Arbeit anfangen.«

Sie nickte, zauberte aus irgendeinem Seitenfach ihres Rollstuhls eine kleine Glocke hervor und bimmelte kurz. Der Klang war noch nicht verflogen, da erschien der Butler schon.

»Sie wünschen?«

»Seien Sie so gut und zahlen Sie Herrn Rott vierhundert Euro in bar aus.«

Der Butler deutete eine Verbeugung an und ging.

»Vielen Dank«, sagte ich und nahm die Papiere aus der Mappe. Ich faltete sie und steckte sie in die Innentasche meines Sakkos. Dann stand ich auf.

Frau Weitershagen gab mir die Hand. »Wann hören wir wieder voneinander?«

»Ich melde mich morgen im Laufe des Tages und berichte Ihnen, was ich herausgefunden habe.«

»Einverstanden.« Sie nickte. Dann schien ihr noch etwas durch den Kopf zu gehen. »Zehntausend«, sagte sie plötzlich.

»Wie bitte?«

»Zehntausend Euro. Das ist die Erfolgsprämie, wenn Sie den Fall aufklären. Natürlich zusätzlich zu Ihrem üblichen Honorar.«

Neben der Garderobe überreichte mir der Butler vier Hunderteuroscheine und ließ mich eine Quittung unterschreiben. Dann führte er mich hinaus.

»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag«, sagte er höflich und schloss die Tür.

Während ich den kurvigen Weg zur Straße hinunterging, tastete ich nach den Zeitungsausschnitten, zog sie hervor und durchsuchte meine Taschen nach meinem Handy. Mir fiel ein, dass ich es im Auto gelassen hatte.

Es lag in der Ablage der Fahrertür; das Display zeigte »1 unbeantworteter Anruf von Jutta«. Na, die wird sich freuen, wenn ihr Neffe mal wieder Arbeit hat, dachte ich. Wahrscheinlich würde ich ihre Hilfe brauchen. Ich verschob den Rückruf jedoch.

Ich setzte mich ins Auto, fuhr aber nicht los, sondern saugte als Erstes alle wichtigen Informationen aus den Zeitungsartikeln. Viel mehr, als ich mit Frau Weitershagen besprochen hatte, war es nicht. Das Kind war in der Potsdamer Straße in Solingen mitten in der Nacht gefunden worden. Der Fundort lag in der Nähe zur Abzweigung Cronenberger Straße. Ich griff auf den Rücksitz, holte meine Stadtpläne und den Autoatlas »Bergisches Land und Sauerland« nach vorn und suchte die Stelle. Sie lag mitten in der Stadt. Die Potsdamer Straße war eine Seitenstraße der Konrad-Adenauer-Straße - der B224, die in Nordsüdrichtung mitten durch Solingen führte. Sie ging in östlicher Richtung ab und traf nach wenigen hundert Metern auf die Cronenberger. Ganz in der Nähe lag ein Gebäude, das als »Rathaus« bezeichnet war. Auf der gegenüberliegenden Seite der Konrad-Adenauer-Straße war das »Theater- und Konzerthaus«.

Ich prüfte weiter die Unterlagen: Das Kind wurde von einem Mann entdeckt, der kurz zuvor in der nahe gelegenen Kneipe »Luzifer« gewesen war und sich auf dem Heimweg befand. Sein Name wurde nicht genannt; den würde mir die Polizei verraten müssen. Ich erfuhr, dass der Mann zufällig Arzt war. Er hatte versucht, erste Hilfe zu leisten. Das Kind war ein Mädchen, drei oder vier Jahre alt, und könnte europäischer Herkunft sein, stand in dem Artikel.

Das sollte wahrscheinlich heißen, dass es nicht schwarz war und auch keine Schlitzaugen besaß. Ich nahm mir den Artikel mit der Fotomontage noch mal vor. »WER KENNT DIESES KIND?« fragte plakativ der Kölner »Express«, und BILD ging noch einen Schritt weiter: »FIEL DIESES KIND VOM HIMMEL?«

Die Polizei stellte fest, dass das unbekannte Mädchen zuletzt Kartoffelbrei gegessen hatte und dass es zwar nicht teuer, aber auch nicht in Lumpen gekleidet und in seinem kurzen Leben wohl ganz vernünftig ernährt worden war.

Etwa eine Woche nach dem Fund des Kindes tauchte eine Meldung über eine weitere Zeugenaussage in der Zeitung auf. Dabei ging es um den weißen Transporter, den Frau Weitershagen erwähnt hatte. Jemand hatte beobachtet, wie der Wagen verkehrt herum in die Potsdamer Straße eingebogen war - und das nur kurze Zeit, bevor das Kind gefunden wurde.

Ich legte die Blätter zur Seite und sah auf die Uhr. Es war kurz vor halb drei. Ich tippte eine Nummer in mein Handy, die ich mittlerweile auswendig kannte. Es tutete dreimal, dann meldete sich eine mir wohl bekannte Stimme.

»Krüger.«

»Schönen guten Tag, Herr Krüger. Immer fleißig auf Verbrecherjagd?«

»Rott! Das ist eine Überraschung. Dasselbe könnte ich auch Sie fragen.«

Es hatte Zeiten gegeben, da hätte ich Krüger nicht so flapsig kommen dürfen. Noch in meinem letzten großen Fall hätte er mich beinahe eingebuchtet, weil ich mich seiner Meinung nach viel zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte. Sicher - in meinem Job ist man manchmal gezwungen, die Gesetze etwas weiter auszulegen. Aber ich habe bis jetzt auch immer die Verantwortung dafür übernommen.

»Na, wollen Sie sich wieder mal in unsere Arbeit einmischen?«, fragte er.

»Es geht um den Fall Potsdamer Straße«, sagte ich, denn mir war klar, dass langes Drumherumgerede keinen Sinn hatte.

»Potsdamer Straße? Sagt mir nichts.«

»Das war in Solingen. Im April. Genauer gesagt am 25. Das tote Kind. Erinnern Sie sich nicht?«

»Doch, natürlich. Das ist aber eine Ecke her.«

»Ist die Sache mittlerweile aufgeklärt worden?«

»Kann ich nicht sagen. Aber ich glaube nicht.«

»Nicht nur die Polizei macht sich Gedanken darüber.«

»Wieso?«

»Lassen wir das mal so stehen.«

»Sagen Sie nur, jemand hat Sie beauftragt, der Sache nachzugehen!«

»So ist es.«

»Hervorragend«, sagte er, aber er meinte es natürlich ironisch. »Rott, ich kann Sie da nur warnen. Die Polizei hat den Fall wochenlang akribisch verfolgt.«

»Wochenlang? Jetzt also nicht mehr?«

»Sie wissen genau, wie ich das meine. Wenn neue Spuren auftauchen, sind wir sofort wieder dran.«

»Vielleicht finde ich ja welche.«

»Das glaube ich nicht.«

»Lassen Sie das mal meine Sorge sein.«

»Wer hat Sie denn auf diesen Fall gehetzt?«

»Ein Staatsbürger, der sich Gedanken macht«, sagte ich.

»Ich muss Ihnen ja nicht sagen, dass Sie verpflichtet sind, eine Aussage zu machen, wenn Sie etwas herausfinden, oder?«

»Ich kenne meinen Job, Herr Krüger.«

»Davon gehe ich aus.«

»Wunderbar. Dann können Sie mir ja ein paar Informationen geben, damit ich diesen Job auch ordentlich machen kann.«

»Was für Informationen?«

»Zum Beispiel die Namen der Zeugen. Die Untersuchungsakten. Was bei der Autopsie des Kindes herausgekommen ist, wäre ganz interessant zu wissen und -«

Er unterbrach mich. »Stopp, stopp, stopp! Abgesehen davon, dass Sie gar nicht berechtigt sind, diese Dinge einzusehen, muss ich Sie erst mal an die richtige Stelle verweisen. Wie Sie wissen, sitze ich in Wuppertal. Hier ist zwar das Präsidium, das für Wuppertal, Solingen und Remscheid zuständig ist, aber wenn es um Solingen geht…«

»Oh nein«, rief ich aus. »Nicht dieses Zuständigkeitswirrwarr.«

»Es ist alles andere als ein Wirrwarr. Zuständig ist Hauptkommissar Wolfgang Mölich bei der Polizeiinspektion Solingen. Wenden Sie sich an ihn. Selbst wenn ich wollte, ich könnte Ihnen die Unterlagen gar nicht geben, denn ich habe sie nicht.«

Ich seufzte. »Na schön. Haben Sie vielleicht eine Telefonnummer?«

»Aber natürlich.« Er diktierte sie mir, und ich kritzelte sie auf den Rand einer der kopierten Seiten.

»Noch ein Tipp«, sagte Krüger. »Wenn Sie sich grundlegend informieren wollen, sollten Sie sich mal die Zeitungsmeldungen zusammensuchen, die damals erschienen sind. Ich gehe davon aus, dass da alles drinsteht, was wir herausgefunden haben. Die Polizei hat ja damals sehr auf die Mithilfe der Bürger gesetzt, wenn ich mich recht erinnere -«

Ich ließ ihn nicht ausreden. »Herr Krüger?«

»Ja.«

»Danke für den Hinweis. Da wäre ich selbst nie draufgekommen.«

Ich wusste nicht, ob Krüger die Ironie bewusst wurde. Ich verabschiedete mich, bekam dabei ein weiteres Mal gesagt, dass ich mich nicht in die Belange der Polizei einzumischen hatte, nahm es tapfer hin, um dann endlich die Leitung für das nächste Telefonat frei zu kriegen. Ich wählte Mölichs Nummer, bekam aber nur einen Kollegen an die Strippe. Der erklärte mir, dass der Hauptkommissar im Moment außer Haus war und frühestens um drei zurückerwartet wurde.     

Dann versuchte ich es bei Jutta. Dort meldete sich niemand. Auch nicht der Anrufbeantworter.

Ich sah noch mal auf die Karte. Die Polizeiinspektion lag an derselben Straße wie die Abzweigung der Potsdamer, nur etwa einen knappen Kilometer weiter südlich. Dort hieß die B224 Goerdeler-straße.

Alles war dicht beieinander. Sehr praktisch, und geradezu einladend.

Ich startete den Wagen und fuhr los.

Wo ich schon mal in Barmen war, fuhr ich gleich in Langerfeld auf die Al und nahm dann den Weg über Remscheid. Das hätte ich besser nicht tun sollen. Obwohl ich in den letzten beiden Jahren so oft hier vorbeigekommen war, sorgte der Anblick der Lenneper Straße noch immer für einen kräftigen Stich in meiner Herzgegend. Und das nicht etwa wegen ihrer ausgesuchten Vorstadt-Hässlichkeit, sondern wegen Svetlana. Ich hatte sie bei meinem letzten ganz großen Fall kennen gelernt. Sie war dabei zwischen die Fronten geraten. Jetzt lag sie ganz in der Nähe auf dem Friedhof. Sie war noch nicht mal fünfundzwanzig geworden.

Mir fiel der Traum von letzter Nacht ein. So absurd der Gedanke war, dass ich ausgerechnet als Verlagslektor Karriere machen würde, so deutlich war doch das Körnchen Wahrheit, das darin steckte. Irgendetwas in mir sehnte sich nach einem Schreibtischjob.

So eine Sache wie mit Svetlana wollte ich nicht mehr erleben. Ich hatte mich mit ihr angefreundet, hatte mich mit ihr zusammen auf eine nervenaufreibende Suche nach einem verschwundenen Musikmanager begeben, und dabei waren wir zusammen kreuz und quer durch das Bergische Land gefahren. Am Ende lag sie dann mit Versorgungsschläuchen gespickt im Klinikum Barmen, und etwas später war sie tot.

Ich gab Gas und sah zu, dass ich durch Remscheid kam. Bald hatte ich die Stadt hinter mir gelassen, und es ging hinunter ins Tal, an der Müngstener Brücke vorbei. Schließlich verlief die Straße unter Oberleitungen. Die Stromversorgung der O-Bus-Linie. Ich war in Solingen.

Obwohl ich von Süden kam, fuhr ich erst mal an der Polizei vorbei und zur Potsdamer Straße durch. Es war genau so, wie in der Zeitung beschrieben: Man konnte in den sehr spitzen Winkel, in dem die Straße von der Konrad-Adenauer-Straße abging, nicht einbiegen. Das runde rote Schild mit dem weißen Querbalken war nicht zu übersehen.

Ich fuhr ein Stück weiter, umrundete einmal den Block und kam zur Potsdamer zurück. Die eine Seite der ziemlich schmalen Straße bestand aus einer Reihe von Plakatwänden; eine davon zeigte ein gewaltiges Kondom mit der kursiven Unterschrift »Mach's mit«. Daneben führte eine Einfahrt auf einen weitläufigen Parkplatz. Dort stellte ich den Wagen ab.

Die andere Seite der Straße war eine Häuserzeile; manche der Fassaden besaßen die typisch bergische Ausprägung mit Schieferwand und weißen Fensterrahmen. Es gab mehrere Restaurants und Kneipen. Das »Luzifer« stach deutlich heraus. Es machte nicht nur mit einer ganzen Batterie Bierreklamen von Sion, Schlösser und Brinkhoffs auf sich aufmerksam, sondern verfügte auch noch über ein Arsenal von Kübelpflanzen auf dem Gehweg, der im Sommer wahrscheinlich in einen Biergarten verwandelt wurde. Das Logo über den Fenstern zeigte ein finster dreinblickendes Teufelchen mit verschränkten Armen und flammendem Haar. Ein einstmals weißes, jetzt langsam ergrauendes Transparent schrie Passanten ein deutliches »Herzlich willkommen« entgegen - wahrscheinlich damit man nicht dachte, bei der Kneipe handele es sich um den Treffpunkt eines Satanistenclubs. Oder die Hölle in Kneipengestalt.

Jetzt war das »Luzifer« geschlossen. Ein grauer Rollladen versperrte die Tür; im Fenster informierte eine Tafel über die Öffnungszeiten. Ab achtzehn Uhr.

Ich folgte der Straße weiter Richtung Cronenberger. Vor der Einmündung befanden sich Abbiegemarkierungen auf dem Asphalt. Ich registrierte, dass die Potsdamer nur zur Hälfte eine Einbahnstraße war. Wer aus dem Parkplatz kam, konnte links Richtung Bundesstraße oder rechts Richtung Cronenberger abbiegen. Wer von der Cronenberger hereinkam, der konnte auf den Parkplatz fahren oder seinen Weg weiter Richtung Bundesstraße fortsetzen. Der weiße Transporter war verbotenerweise von der Bundesstraße gekommen. Ich überlegte, wo die genaue Fundstelle des Kindes gewesen sein mochte. Vor der Einmündung, hatte es in der Zeitung geheißen.

Wohin konnte der Wagen gefahren sein, nachdem er das Kind angefahren hatte? Wieder sah ich in der Karte nach. In südlicher Richtung führte die Cronenberger zur Bundesstraße zurück, weiter oben machte sie einen Bogen nach Osten und mündete in die Schnellstraße, die an der Wupper entlang zum Sonnborner Kreuz führte. Zur A46. Und von dort nach Dortmund oder Düsseldorf.

Ich ging zurück zur Bundesstraße. Die Konrad-Adenauer-Straße besaß einen Mittelstreifen mit Metallzaun. Für ein Auto unüberwindlich. Der Transporter war also von Süden gekommen. Er war bis zur Ampel gefahren, die unter anderem den Einbiegeverkehr aus der Potsdamer regelte. Dann war er entgegen der Fahrtrichtung rechts eingebogen und hatte weiter hinten - wahrscheinlich - das Kind erwischt, das mitten in der Nacht auf der Straße herumirrte. Anscheinend mutterseelenallein.

Ohne Zuhause. Und ohne Eltern.