12. Kapitel

Nach dem Laurel-und-Hardy-Film hatten wir noch ein bisschen was getrunken, und gegen elf war ich das kurze Stück zu mir ins Tal runtergefahren. Im Faxgerät lag die Liste von Zichorius, ein sauber ausgedrucktes Blatt mit Adressen und Daten von vier Bauprojekten. Die Baustellen befanden sich allesamt im Großraum Düsseldorf-Köln-Bonn. Ein portugiesisch klingender Name war nicht dabei.

Die Daten umfassten die Zeit von 1998 bis 2002. Ratnik hatte tatsächlich ziemlich selten in der Zimmerei gearbeitet. War er wirklich mit so wenig Geld ausgekommen? Oder hatte er noch eine andere Einkommensquelle gehabt?

Am nächsten Morgen beschloss ich, die Bauherren einzeln aufzusuchen. Das konnte zwar zu ziemlich zeitraubendem Klinkenputzen ausarten, aber Frau Weitershagen hatte mich ja ausdrücklich gebeten, jeder Spur nachzugehen. Apropos. Ich sah auf die Uhr. Es war halb neun. Genau die richtige Zeit, um meine Auftraggeberin anzurufen und ihr Bericht zu erstatten.

»Sehr mysteriös«, sagte sie, als ich ihr von dem Besuch bei Vanessa Michel erzählt hatte. »Und Sie glauben wirklich nicht, dass sie etwas mit der Sache zu tun hat?«

»Ich kann mir keinen Reim darauf machen, Frau Weitershagen. Und vorher würde ich lieber noch weitere Fakten sammeln.«

Ich sagte ihr, dass ich anhand von Zichorius' Liste nach Kontakten von Jonas Ratnik suchen wollte. »Das ist die einzige Chance, herauszufinden, wo er diese Frau kennen gelernt hat. Und die ist in der ganzen Geschichte bisher noch ein völlig unbeschriebenes Blatt.«

»Sie ist immerhin die Mutter, deren Kind umkam«, stellte Frau Weitershagen fest.

»Es ist wahrscheinlich, muss aber nicht sein«, sagte ich. »Auf jeden Fall müssen wir so viel wie möglich über diese Frau herausfinden.«

»Warum ist sie nicht zur Polizei gegangen, als ihr Kind tot war? Glauben Sie, dass sie auch Opfer eines Verbrechens geworden ist?«

»Möglich. Vielleicht hat sie es aber auch selbst auf dem Gewissen.«

»Eine Mutter, die ihr eigenes Kind totfährt?«

»Denken Sie an die vielen Kinder, die von ihren Eltern verkauft oder zur Prostitution gezwungen werden.«

»Aber so was geschieht doch nicht bei uns! Und außerdem - den Zeitungsberichten zufolge ist dieses Kind nicht missbraucht worden.«

»Ich will mich auf keine Theorie festlegen. Ich sammle Fakten. Die Fantasie können wir später einsetzen.«

»Wahrscheinlich haben Sie Recht«, sagte sie. »Sie können das sicher viel besser beurteilen.«

»Ich rufe Sie an, wenn ich mehr weiß«, sagte ich und verabschiedete mich.

Im »City Store« unten im Haus versorgte ich mich mit frischen Zigaretten und machte mich auf den Weg.

Ich entschied mich für eine runde Tour, die entgegen dem Uhrzeigersinn verlief: Zuerst würde ich nach Düsseldorf fahren, dann hinunter nach Bonn. Von dort aus nach Olpe und schließlich zurück nach Wuppertal.     

Die erste Adresse lag im Düsseldorfer Stadtteil Garath, einer Trabantenstadt aus Beton. Ich fragte mich, was ein Zimmermann in so einer grauen Steinwüste ausrichten konnte. An einem kleinen, würfelförmigen Häuschen mit winzigem Vorgarten öffnete eine grauhaarige Dame die Tür und sah mich misstrauisch an. Offenbar hielt sie mich für einen Vertreter.

»Amtsgericht Solingen, mein Name ist Rott«, stellte ich mich vor. »Spreche ich mit Frau Vogelmann?«

»Ja«, sagte die Dame, und ihr Misstrauen verwandelte sich in Vorsicht. »Worum geht es denn?«, fügte sie leise hinzu.

»Um eine Nachlassangelegenheit. Ist Ihnen der Name Jonas Ratnik bekannt?«

Sie dachte einen Moment nach. »Nein, leider nicht.«

»Jonas Ratnik arbeitete bis Anfang dieses Jahres in der Zimmerei Zichorius, die bei Ihnen vor fünf Jahren mit einer Baumaßnahme beschäftigt war.«

Die Frau runzelte die Stirn. »Zichorius … ja, das sagt mir was. Die haben neue Fußböden im Wohnzimmer verlegt. Aber was wollen Sie denn jetzt genau?«

»Der Zimmermann Jonas Ratnik ist verstorben und hat sein Haus einer Frau vererbt, deren Identität wir nicht kennen. Es ist eine gewisse Maria, und sie ist Portugiesin. Wir gehen davon aus, dass er sie auf einer Baustelle kennen gelernt hat. Leider wissen wir ihren Nachnamen nicht, und wir haben auch keine Adresse. Deswegen meine Frage an Sie: Könnte es sein, dass Jonas Ratnik diese Maria bei Ihnen kennen gelernt hat? Oder wohnt vielleicht eine Portugiesin mit diesem Namen bei Ihnen in der Nähe? Jede Verbindung könnte uns nützen.«

Frau Vogelmann zeigte keine Furcht mehr, dafür war sie erstaunt. »Du meine Güte, eine solche Mühe machen Sie sich, wenn jemand etwas vererbt?«

»Wenn kein anderer Erbe da ist, schon. Aber nur innerhalb einer gewissen Frist. Und die läuft in einer Woche aus.« Ich zückte einen eigens mitgebrachten Block. »Nun?«

»Wenn Sie vielleicht meinen Mann fragen … er kommt allerdings erst heute Abend nach Hause. Mir fällt dazu leider überhaupt nichts ein.«

»Ich lasse Ihnen meine Adresse da«, sagte ich, griff in die Tasche und holte eine Visitenkarte hervor, auf der nichts von Ermittler oder Detektivbüro stand. »Wenn Sie was wissen, rufen Sie mich bitte an. Vielen Dank.«

Ich verließ die Betonlandschaft und kehrte auf die rechte Rheinseite zurück. Die nächste Adresse lag in Opladen - mitten im Industriegebiet in Richrath, gleich neben der A3.

Der Bauherr war kein Privatmann, sondern eine Firma mit dem Namen ›BBK Maschinen‹ Die Anschrift auf dem Blatt war die Verwaltung, und so stand ich als Erstes einem Pförtner hinter einer Glasscheibe gegenüber.

»Wohin wollen Sie? Zur Hausverwaltung?«, fragte er ungehalten und kratzte sich am Kopf. »Die ist groß. Worum geht es denn?«

Die Erbschaftsgeschichte war hier ungeeignet. Ich holte meine Karte hervor, die echte, auf der ich als Ermittler ausgewiesen bin. »Ich gehe einigen Fällen von Pfusch am Bau nach«, behauptete ich, »und mein Auftraggeber sucht in diesem Zusammenhang Zeugen.« Ich sah auf Zichorius' Zettel. »Die Firma BBK hat hier vor vier Jahren gebaut. Hat es da irgendwelchen Ärger gegeben?«

Der Pförtner nickte. »Allerdings. Die können Ihnen hier ein Lied davon singen. Als die angefangen haben zu bauen, fiel erst mal im halben Industriegebiet der Strom aus, weil sie ein Kabel zerlegt haben. Das war was, sage ich Ihnen.«

»Sehen Sie, das ist genau das, was ich wissen will. Wer kann mir denn von der Hausverwaltung darüber berichten?«

»Am besten schicke ich Sie zu Herrn Sickmann. Das ist sozusagen der Oberverwalter der Gebäude. Er hat damals auch den ganzen Ärger an der Backe gehabt.«

Er griff zum Telefon, meldete mich bei Herrn Sickmann an, und ich durfte durch die Sperre. Fünf Minuten später saß ich in einem düsteren Büro mit Betonausblick vor einem kleinen runden Mann, der sich so richtig freute, dass er sich den ganzen Ärger mal von der Seele reden konnte.

»Das war eine unglaubliche Schlamperei«, sagte er und fuchtelte in der Luft herum. »Und es hätte mich fast meinen Job gekostet! Da kommen die eine Woche lang überhaupt nicht, und erst als man sie auf Knien bittet, fangen sie mit den Tiefbauarbeiten an.«

»Herr Sickmann …«

»Und wir hatten das alte Gelände schon gekündigt! Können Sie sich vorstellen, was das heißt, wenn die Versandabteilung einer Maschinenbauteilefirma ohne Lagerhalle dasteht?«

»Aber ich wollte Sie eigentlich …«

Er ließ mich nicht zu Wort kommen. »Achtzigtausend Mark -damals noch Mark - hat es uns im Monat gekostet, eine andere Halle übergangsweise anzumieten! Und wir haben acht Monate Verzug gehabt! Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«

»Sechshundertvierzigtausend«, sagte ich.

»Das hätte komplett unseren Umsatz aufgefressen. Nicht Gewinn, wohlgemerkt. Umsatz. Verstehen Sie?«

Es dauerte noch etwa zwanzig Minuten, bis ich Herrn Sickmann da hatte, wo ich ihn haben wollte.

»Ich frage mich, ob auf der Baustelle vielleicht Portugiesen gearbeitet haben.«

Er sah mich erstaunt an. »Wieso ausgerechnet Portugiesen?«

»So eine Art Mafiageschichte«, improvisierte ich. »Es gibt da entsprechende Hinweise. Sie verstehen, dass ich nicht näher darauf eingehen kann.«

Er nickte. »Von Portugiesen weiß ich nichts.«

»Wie hieß denn die Firma für die Tiefbauarbeiten?«

Sickmann diktierte mir wieder irgendeine Buchstabenkombination, die ein Firmenname sein sollte, und mir wurde plötzlich klar, worauf ich mich eingelassen hatte. Auf einer Großbaustelle waren Firmen, Unterfirmen und Unterunterfirmen am Werk, die eine wahrscheinlich unübersehbare Menge an Arbeitern mitbrachten. Ich suchte nicht nur die Nadel im Heuhaufen, sondern eher das Dorf, in dem sich der Bauernhof mit dem Heuhaufen befinden könnte.

Sickmann fing wieder mit seiner Schimpftirade an, und ich wartete, bis er ausgepowert und fertig war.

»Gibt es vielleicht eine portugiesische Firma hier auf dem Gelände?«, griff ich den Faden wieder auf.

»Davon weiß ich nichts.«

»Oder vielleicht sonst irgendwelche Portugiesen hier in der Nähe - vielleicht ein portugiesisches Geschäft?«

»Keine Ahnung.«

Ich erhob mich. »Na gut, dann danke ich Ihnen.«

»Treten Sie denen mal schön auf die Füße«, gab er mir mit auf den Weg.

Ich verließ das Haus, grüßte im Vorbeigehen noch einmal den Pförtner und fuhr zum nächsten Kandidaten.

Die Adresse lautete Bergisch Gladbach. Es war ein Wohnhaus am Ende einer Sackgasse, gleich am Wald gelegen. Urig, klein und mit Efeu bewachsen. Ich öffnete ein schief in den Angeln hängendes Gartentor, balancierte auf einem schmalen Gehweg zu einer grün gestrichenen Haustür und klingelte. Niemand öffnete. Ich wartete eine Weile, klingelte erneut, und als wieder keine Reaktion kam, machte ich ein großes Kreuz an die Adresse und fuhr nach Bonn-Taschenbusch.

Dort hatte Zichorius ebenfalls Dielenfußböden verlegt. Die Frau war jung, hübsch und hatte einen Blick drauf, als ständen wir nicht in ihrem Hauseingang, sondern auf dem Kontakthof. Sie bat mich gleich ins Wohnzimmer. Die Wohnung sah aus wie aus einem dieser Landhauskataloge, die manchmal bei Jutta herumlagen. Helles Holz, wohin man sah - nicht nur die Fußböden, auch die Möbel und die Einbauküche bestanden daraus. Man hätte meinen können, sich irgendwo in der Einöde in Norddeutschland zu befinden. In Wirklichkeit lag die Wohnung jedoch in einem grauen Hochhaus, das aus Eigentumswohnungen bestand.

Auch dieser Besuch brachte nichts. Die junge, hübsche Frau kannte keine Portugiesen. Dafür konnte sie sich noch gut an Ratnik erinnern. Außerdem fand sie die Erbschaftsgeschichte, die ich ihr auftischte, »rasend romantisch« und bot mir auch gleich einen Kaffee an. Ich hatte es jedoch eilig, und als ich in meinen Wagen stieg, stand sie oben am Fenster - wie Vanessa Michel. In der Etage über ihr hing ein Transparent: »Zu verkaufen«, darunter die Telefonnummer des Immobilienmaklers.

Ich kehrte nach Bergisch Gladbach zurück und versuchte mein Glück erneut in dem verwunschenen kleinen Häuschen am Ende der Sackgasse. Es war immer noch niemand zu Hause. Dafür kam ich mit einem Nachbarn ins Gespräch, der gerade seinen Zaun reparierte.

»Portugiesen?«, fragte er und kratzte sich am Kopf. »Klar, gibt's die hier. Das Restaurant hier um die Ecke war mal ein Portugiese. Die hatten früher auch Mittagstisch. Kann sein, dass die Zimmerleute da zum Essen hingegangen sind.«

Ich ließ mir den Weg zeigen. Das Restaurant lag an der Gierather Straße, gleich hinter dem Ortsanfang Köln. Hinsichtlich der Nationalität der angebotenen Speisen hatte man zwischenzeitlich eine Kehrtwendung hingelegt. Es hieß jetzt »Alt-Strunden« und warb mit »Deutscher Küche«. Es war jetzt halb eins mittags, und das Lokal machte erst um fünf Uhr auf. Ich konnte zwar mit den Besitzern reden, die gerade im Gastraum zum Saubermachen waren, doch ich erntete nur Kopfschütteln. Eine Maria gab es nicht. Niemand wusste etwas.

Als ich eine knappe Stunde später durch den Kiesbergtunnel hindurch war, nach Elberfeld hineinkam und gerade darauf achtete, nicht in die Radarfalle zu geraten, klingelte mein Handy.

»Hallo Remi, wo bist du gerade?«, fragte Jutta.

»Gleich wieder bei mir zu Hause.«

»Bist du weitergekommen?«

»Nein. Bei einer Adresse konnte ich nur mit dem Nachbarn reden, vielleicht rufe ich da noch mal an.«

»Dann wird dich sicher noch mehr freuen, was ich herausgefunden habe.«

»Erzähl.«

»Nicht am Telefon. In zehn Minuten in deinem Büro. Bis gleich.«

Ich war früher da als Jutta und hatte noch Zeit, den Bergisch Gladbacher Bauherrn anzurufen. Er war zu Hause, und ich brachte wieder die Geschichte von der Erbschaft an. Vergeblich. Als ich den Hörer auflegte, klingelte es an der Tür.

»Wie siehst du denn aus?«, fragte ich, als Jutta mit flottem Schritt die Treppe heraufkam.

»Wieso?«

»Entschuldige mal, aber so habe ich dich noch nie gesehen.«

Sie trug dicke Wanderschuhe aus Wildleder, eine abgewetzte Jeans und ein kariertes Flanellhemd. In der Hand hielt sie ein dunkelblaues Bündel, das wie ein zusammengeknäuelter Anorak aussah.

»Irgendwann ist immer das erste Mal«, sagte sie und setzte ihren Rucksack ab.

»Willst du auf einen Wanderausflug?«, fragte ich.     

»Nicht ich, sondern wir.« Sie lächelte.

»Das wäre mir aber neu.«

Ich ließ mich in meinen Bürosessel nieder. Es standen noch zwei Stühle für Besucher vor dem Schreibtisch, aber Jutta stellte sich breitbeinig vor dem Fensterbrett auf.

»Keine Müdigkeit vortäuschen. Ich hoffe, du besitzt vernünftiges Schuhwerk.«

»Einen Moment«, sagte ich. »Soll ich deinem Aktionismus etwa entnehmen, dass du den Wald gefunden hast?«

»So ist es.«

»Wie hast du das denn geschafft? Und bist du dir wirklich sicher?«

Jutta verschränkte die Arme. Das Flanellhemd war ihr zu groß. Wahrscheinlich hatte es irgendeiner ihrer vielen Verflossenen bei ihr gelassen. Sie sah richtig niedlich darin aus.

»Ich sehe ein, dass du skeptisch bist«, sagte sie. »Ich war es am Anfang auch. Aber die Beweise sprechen für sich.«

Jutta ging zu ihrem Rucksack, öffnete ihn und entnahm ihm ein großformatiges Buch. Es war ein Bildband. Ich las den Titel: »Das Bergische Land aus der Luft«.

Ich schüttelte den Kopf. »Du willst mir doch nicht erzählen, dass der Hakenkreuzwald auf einem Foto in diesem Bildband zu sehen ist?«

»Ich wollte es ja selbst nicht glauben, aber schau dir das hier mal an.«

»Moment, Moment - nur damit ich das richtig verstehe: Du suchst einen Wald in Form eines Hakenkreuzes, kaufst ein Buch mit Luftbildern und findest ihn? So mir nichts, dir nichts?«

»So einfach war es auch nicht, und es ist auch nicht ganz zu sehen. Aber du hast doch selbst herausgefunden, dass das Kreuz in der Nähe der Aggertalsperre sein soll. Und von dieser Gegend gibt es hier auch Fotos … Hier.«

Jutta hatte an einer Stelle ein gelbes Klebezettelchen befestigt. Dort schlug sie das Buch auf. Zu sehen war das dunkle Wasser der Aggertalsperre, eingekreist von knallgrünem Wald, das Ganze vom Flugzeug aus fotografiert. Am Rand sah ich Ansammlungen kleiner Quadrate: hingestreute Siedlungen.

»Das Bergische Land, wie wir es lieben«, sagte ich. »Aber wo ist das Kreuz?«

»Man kann eine Ecke erkennen. Hier.«

Sie deutete auf einen Teil des Fotos, wo der grüne Wald aus der Luft zu sehen war. Mitten durch den Wald verlief eine etwas hellere Linie, die eine 90-Grad-Ecke beschrieb.

»Das ist doch kein Kreuz«, sagte ich. »Und ein Hakenkreuz schon gar nicht.«

»Wie gesagt«, sagte Jutta. »Nur ein Teil. Und das ist ja auch nicht alles.«

Sie bückte sich wieder und holte etwas anderes aus dem Rucksack.

»Das Gebiet auf dem Foto, also die Stelle, wo diese Ecke zu sehen ist, liegt östlich der Talsperre. Auf der Wanderkarte ist das hier.« Sie faltete den Plan auseinander, legte ihn auf den Boden und kniete sich hin.

Ich erkannte den Stausee, der auf der Zeichnung von Vanessa Michel wie eine Hand mit zu wenigen, aber dafür ziemlich dicken Fingern ausgesehen hatte. Auf der Karte war die Form ein bisschen anders: zwei dicke Linien, die parallel nach oben gingen; eine dritte wies nach rechts, nach Osten. Der Wald, den ich auf dem Foto gesehen hatte, lag nördlich des unteren Seitenarms. Das Gebiet war von zwei Seiten von Wasser umschlossen und mit gestrichelten Linien durchsetzt, die Wanderwege darstellten.

»Bruchberg«, las ich.

»Ganz recht«, sagte Jutta. »Um nun das ganze Hakenkreuz zu sehen, müsste man ein Luftbild des gesamten Berges haben.«

»Oder man müsste mit dem Flugzeug drüberfliegen und nachsehen.«

»Ich hab schon die Telefonnummer vom Dümpel rausgesucht.«

»Vom Dümpel?«

»Der kleine Flugplatz in der Nähe. Er liegt auf dem Dümpel. Gar nicht weit von der Talsperre entfernt. Man kann Rundflüge buchen. Aber ich glaube, das hat im Moment keinen Zweck. Im November wird man nicht viel sehen.«

»Wieso? Wenn die Bäume, aus denen der Hakenkreuzwald besteht, Laubbäume sind, dann haben sie im Moment keine Blätter. Sie müssten sich also von dem Nadelwald drum herum abheben, und wie eine Art Furche zu erkennen sein.«

»Es sind aber keine Laubbäume«, sagte Jutta. »Das siehst du ganz deutlich auf dem Foto. Vielleicht sind es Tannen, vielleicht Kiefern.«

»Oder Lärchen. Wie in dem Hakenkreuzwald im Internet. Werfen Lärchen nicht ihre Nadeln im Winter ab? Das gäbe doch auch ein deutliches Muster.«

»Egal. Wir verlieren mit der Fliegerei nur Zeit. Jetzt ist es schon früher Nachmittag, und wir sollten uns auf den Weg machen.«

»Und wie willst du diese Ecke da finden? Von unten sieht man doch gar nichts.«

»Ich bin ja auch noch nicht fertig. Wie ich eben sagte. Wir brauchen ein Luftbild der gesamten Gegend.«

»Stimmt. Auf so einem Bild müsste dann das ganze Kreuz - wenn es denn existiert - zu sehen sein. Aber wie kommen wir an so was ran? Vielleicht über die Kreisverwaltung? Oder die Stadtverwaltung? Zu welcher Gemeinde gehört das eigentlich? Bergneustadt?«

»Gummersbach«, sagte Jutta, und wieder holte sie etwas aus den Tiefen des Rucksacks. Sie legte ein Blatt auf den Tisch, das schwarze Flächen zeigte. Ein gefaxtes Foto. Oben stand der Vermerk: »Deutsche Grundkarte 1:5000, Luftbildkarte«, darunter waren in einem großen, fast das ganze Blatt ausfüllenden Rechteck zwei Strukturen zu erkennen: eine gleichmäßig schwarze Fläche, die wohl die Talsperre war, und eine etwas körnige, graue Struktur. Der Wald. Er war von hellen, geschlängelten Linien durchbrochen, daneben gab es andere, gezackte Linien, in der Graustufe etwas dunkler, aber trotzdem heller als der übrige Wald.

»Woher hast du das?«, fragte ich.

»Man hat so seine Kontakte zu den Stadtverwaltungen. Wie du weißt, war ich mit einem städtischen Beamten verheiratet. Es ist so: Die abgerundeten Linien sind Wanderwege. Aber die geraden Waldstücke hier …«

»… sehen immer noch nicht unbedingt wie ein Hakenkreuz aus, finde ich. Es sind doch eher Linien, von denen einfach andere Linien gerade abzweigen. Hast du mit den Leuten von der Stadtverwaltung gesprochen?«

»Allerdings. Ich habe auch ganz direkt nach dem Hakenkreuzwald gefragt. Alle fanden die Geschichte mit dem Wald interessant, aber niemand wusste etwas Genaueres. Und dann haben sie mir das hier gefaxt. Danach war übrigens meine Tonerpatrone leer.«

»Tatsache ist: Das hier ist kein Hakenkreuz«, sagte ich und legte das Blatt hin. »Das sind einfach Linien im 90-Grad-Winkel. Ich glaube, wir können die Spur vergessen.«

»Aber darauf kommt es doch gar nicht an«, sagte Jutta, und ich bemerkte, dass sie vor Eifer ganz rote Wangen bekommen hatte.

»Ich denke, wir suchen einen Hakenkreuzwald«, sagte ich. »Das hier ist aber keiner!«

»Es geht nicht darum, was wir hier sehen. Es geht darum, was bestimmte Leute reininterpretieren.«

»Das musst du mir erklären.«

»Überleg doch mal. Wir haben hier eine Luftaufnahme. Aber genau von oben sieht den Wald ja kaum jemand. Höchstens ein Pilot oder ein Ballonfahrer. Normalerweise betrachtet man das Gelände eher von einem erhöhten Punkt aus. Von einem Turm, einem Haus oder einem Hügel. Der Bruchberg und das Gebiet drum herum ist ein sehr hügeliges Gelände. Das heißt, man sieht von einem anderen erhöhten Punkt aus diese komischen Linien nie ganz, sondern immer nur einen Teil davon.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Ich will darauf hinaus, dass der Wald, wenn man ihn nur zum Teil sieht, tatsächlich wie ein Hakenkreuz aussehen kann. Man interpretiert automatisch dieses Linienmuster hinein. Irgendjemand hat diese Struktur gesehen und geglaubt, es sei ein Hakenkreuz. Vielleicht hat er sich auch noch mit der jüngeren bergischen Geschichte beschäftigt und gewusst, dass dieser Robert Ley aus der Gegend kommt - und schon war die Geschichte vom Hakenkreuzwald geboren.«

»Ein Gerücht.«

»Natürlich ein Gerücht. Aber eins, das Auswirkungen hat! Rat-nik hat sich dafür interessiert. Das haben dir mehrere Leute bestätigt. Und du suchst doch Informationen über Ratnik, oder?«

Ich nickte. »Sicher. Aber soll das jetzt heißen, dass diese Baumformation gar nicht in den Dreißigerjahren gepflanzt wurde?«

»Das weiß ich nicht. Es ist natürlich auch möglich, dass es mal ein richtiges Hakenkreuz war und dass es nach dem Krieg verändert wurde. Indem man diese Baumlinien einfach weitergeführt hat. Dadurch hat es dann seine Form verloren - und das ist ja auch gut so. Aber die Geschichte bleibt dieselbe.«

»Dann wären die Bäume unterschiedlich alt«, überlegte ich.

»Vielleicht ist es ja so.«

»Und du meinst, dieser Jemand, der diese Geschichte in die Welt gesetzt hat, sei Jonas Ratnik.«

»Oder er hat sie von jemandem gehört. Auf jeden Fall hat ihn das interessiert. Jetzt kapier doch endlich, dass es nicht darum geht, was wirklich mit dem Wald ist, sondern darum, was Ratnik und andere Leute darüber denken.«

»Du willst tatsächlich durch den Wald stapfen und diese Baumreihen suchen? Ich glaube nicht, dass das funktioniert. Vom Boden aus ist doch da nichts zu erkennen. Und wenn ich das hier richtig sehe, folgen die Dinger nicht gerade ordentlich den Wanderwegen. Wir würden nur im Wald herumirren!«

»Auch darüber habe ich mir schon Gedanken gemacht. Es ist alles vorbereitet. Und das Wetter ist auch einigermaßen. Wir sollten uns aber beeilen. Es ist jetzt kurz vor eins. In drei Stunden wird es schon langsam wieder dunkel. Und ein Stück fahren müssen wir auch noch.«

Ich starrte an die Decke und dachte nach. Mir gefiel der Plan ganz und gar nicht. Auf der anderen Seite war ich nicht gerade mit wertvollen Hinweisen gesegnet.

»Was genau glaubst du in diesem Wald zu finden?«, fragte ich schließlich.

»Eine Spur, die auf Ratnik oder Leute, die er kennt, hindeutet. Ein Indiz, dass jemand dort war. Irgendetwas.«

»Meinst du, in diesem Wald feiern Neonazis finstere Feste und opfern kleine Kinder?«

»Ich weiß, dass es dumm ist, sich in Fantastereien zu ergehen, aber wenn ich ehrlich sein soll - mein Verdacht geht ein bisschen in diese Richtung.«

Ich zündete mir eine Zigarette an. »Schön«, sagte ich. »Versuchen wir es.«

»Dann mach die Kippe aus. Das schadet sowieso nur deiner Lunge.«

»Wird das eigentlich anstrengend?«, fragte ich, ohne Juttas Aufforderung nachzukommen. »Du weißt, ich bin nicht gerade der Sportlichste. Und so wie du angezogen bist…«

»Ich weiß es nicht«, sagte Jutta und zeigte auf die Wanderkarte. »Aber ich denke, wir brauchen nur diesem geschwungenen Weg zu folgen. Mitten in der Kurve beginnt eine dieser Baumreihen.« Sie schob mir die gefaxte Luftaufnahme hin. »Siehst du? Hier.«     

»Mir wäre es lieber, man würde diese Baumstruktur auf die Wanderkarte zeichnen. Dann wüssten wir wenigstens genau, wie wir gehen müssen.«

»Schon erledigt.« Wieder öffnete sie den Rucksack. Ich fragte mich langsam, was da noch alles drin war. Diesmal förderte Jutta ein DIN-A-4-Blatt zutage. Es war eine stark vergrößerte Fotokopie der Wanderkarte. Der Ausschnitt zeigte wie unter einer Lupe das Gebiet des Bruchberges. Jutta hatte mit rotem Filzstift die Balken von dem gefaxten Luftbild übertragen.

»Es war ein bisschen kompliziert, das maßstabsgetreu hinzukriegen. Es müsste aber so stimmen.«

»Wie lang sind denn diese Balken?«, fragte ich. »Wie weit müssen wir da marschieren?«

»Ach, das ist überhaupt nicht weit«, winkte Jutta ab. »Diese langen Linien, von denen die anderen abgehen, haben jeweils eine Länge von zweihundert Metern oder so. Höchstens.«

»Und wo wollen wir genau hin?«

»Ich denke, wir arbeiten uns an die Stelle vor, wo die beiden Hauptlinien abknicken. Das wirkt für mich wie das Zentrum des Ganzen.«

Jutta begann die Sachen wieder in ihren Rucksack zu packen. Ich drückte die Zigarette aus und steckte die Schachtel ein. In diesem Moment klingelte das Telefon.

»Geh nicht ran«, sagte Jutta. »Lass uns aufbrechen.«

Ich zögerte und wartete, bis der Piepton kam, der den Anrufer dazu aufforderte, auf das Band zu sprechen.

»Hier ist Zichorius«, kam es aus dem Lautsprecher.

»Lass uns gehen«, insistierte Jutta.

»Guten Tag, Herr Rott«, sagte Zichorius, »ich wollte Ihnen noch etwas zu den Adressen sagen. Könnten Sie mich bitte zurückrufen? Ich gebe Ihnen auch mal meine Handynummer …«

»Lass es!«, rief Jutta.

»Ich muss mit ihm reden«, sagte ich. »Es kann wichtig sein!«

Jutta verdrehte die Augen, und ich nahm den Hörer ab. Zichorius' Stimme, die gerade die Telefonnummer diktierte, verstummte.

»Rott hier«, sagte ich. »Tag, Herr Zichorius.« Jutta nahm kopfschüttelnd den Rucksack vom Boden und stellte ihn auf den Besucherstuhl. Sie verschränkte die Arme und starrte mich ungehalten an.

»Ah, da sind Sie ja doch, Herr Rott.«

»Was gibt's denn? Ich hab's im Moment ein bisschen eilig.« Jutta schüttelte den Kopf. Ich hob beschwichtigend die linke Hand.

»Ich mach's kurz. Es geht um diese Adressen. Sind Sie damit weitergekommen?«

»Nein.«

»Es gibt noch einen anderen Bauherrn, den ich Ihnen nennen kann.«

Ich zog ein Blatt Papier heran. »Sagen Sie mir die Adresse.«

»Das Problem ist …«Er brach ab.

»Ja?«

»Jonas hatte da einen kleinen Spezialauftrag. Auf Deutsch, er hat ohne Rechnung gearbeitet. Bitte seien Sie deswegen möglichst diskret.«

»Mach ich. Keine Sorge.« Jutta wechselte das Standbein und zeigte auf ihre Armbanduhr.

»Ich muss Ihnen aber erst noch erklären, warum ich glaube, dass diese Baustelle einen Hinweis auf Ihren Fall abgeben könnte.«

»Legen Sie los.« Ich machte eine hilflose Geste in Richtung Jutta.

»Sie haben doch gesagt, diese Maria, also diese Freundin von Jonas, sei Portugiesin gewesen.«

»Genau.«

»Man spricht doch auch in Brasilien portugiesisch, oder?«

»Soweit ich weiß, ja.«

»Ja, sehen Sie, und ich erinnere mich noch, dass die Leute, die in dem Haus wohnten, sich sehr für Brasilien interessierten.«

»Was heißt das?«

»Jonas hat erzählt, da hätte es eine Bar gegeben. So mit typischen brasilianischen Getränken. Außerdem Bücher, Plakate und so was. Das Haus wurde renoviert. Wir haben eine neue Treppe zum Obergeschoss eingebaut. Eine so genannte Wangentreppe, die um die Ecke geht. Das hat Jonas gemacht.«

»Schön, Herr Zichorius, das hört sich vielversprechend an. Sagen Sie mir die Adresse. Ich werde mich drum kümmern.«

»Nun kommt das Problem.«

»Welches Problem?«

»Ich weiß die genaue Adresse nicht mehr. Und den Namen des Bauherren auch nicht. Ich kann Ihnen aber beschreiben, wo das Haus ist.«

»Fangen Sie an.« Ich zückte wieder den Kuli. Jutta stand mittlerweile am Fenster und sah hinaus.

»Es ist in Solingen. Landwehrstraße.«

»Sind Sie sicher?«

»Klar, das weiß ich noch genau. Man kommt von der A3 und fährt an der Abfahrt Langenfeld/Solingen ab. Wenn man dann Richtung Solingen will, heißt die Straße erst Elberfelder Straße. Dann geht es unter einer Bahnlinie durch, und ab da heißt sie dann Landwehrstraße. Direkt hinter der Bahnlinie steht auf der rechten Seite so ein typisches bergisches Haus mit Schieferwand und grünen Fensterläden. Das ist es.«

»Alles verstanden. Vielen Dank.«

Ich verabschiedete mich schnell und legte auf.

»Können wir jetzt endlich los?«, fragte Jutta.

»Ja«, sagte ich. »Wir fahren los.«

»Na endlich«, stöhnte sie und nahm ihren Rucksack.

Ich schüttelte den Kopf. »Aber wir fahren nicht dahin, wo du denkst.«

Jutta diskutierte mit mir herum, bis wir auf der A3 waren.

»Kannst du das nicht morgen machen? Jetzt habe ich mir solche Mühe gegeben, diesen Hakenkreuzwald zu finden!«

»In erster Linie erforschen wir keine bergischen Wälder, sondern wir erkunden das Umfeld von Ratnik. Und außerdem wird dieser Wald auch noch einen Tag länger stehen.«

»Und du meinst, ausgerechnet dieses Haus in Solingen bringt dich weiter? Wo schon die anderen Baustellenadressen zu nichts geführt haben?«

»Das ist doch genau das, was ich gesucht habe! Jemand, mit dem Ratnik zusammengearbeitet hat und bei dem es Verbindungen zu Portugal oder Brasilien gibt. Außerdem ist das Haus in derselben Straße, in der auch die Dückraths wohnen.«

»Und diese Straße ist sehr lang.«

»Trotzdem. Das kann einfach kein Zufall sein.«

»Mist. Ich meine: Ist schon in Ordnung«, sagte Jutta und rutschte ganz nach hinten in den Sitz. »Machen wir eben morgen unseren kleinen Ausflug.«

»Warum? Vielleicht schaffen wir es ja noch. Warte doch erst mal ab.«

Jutta schwieg, und ich drückte auf die Tube. Aber es war nicht so einfach, schnell voranzukommen. Es war Freitagmittag. Der Berufsverkehr machte sich bemerkbar. Wenigstens auf dem kurzen Stück Autobahn zwischen dem Kreuz Hilden und der Abfahrt Langenfeld/Solingen konnte ich aufdrehen, soweit das mit dem alten Golf ging. Schließlich waren wir auf der Elberfelder Straße Richtung Osten unterwegs. Die Bahnlinie kam in Sicht, dann erkannte ich rechts ein Haus, auf das Zichorius' Beschreibung passte.

»Da ist es«, sagte ich und fuhr rechts ran. »Ich schlage vor, du bleibst hier.«

»Warum das denn? Vier Augen sehen mehr als zwei!«

»Trotzdem. Wenn ich da als Detektiv meine Nummer abziehe, kann ich niemanden gebrauchen, der aussieht, als käme er von einer Bergwanderung. Du kannst ja noch mal deine Wanderkarten durchgehen.«

Jutta sagte etwas, das ich nicht verstand. Als ich mich dem Haus näherte, sah ich auf der schieferbedeckten Wand ein großes Schild aus Messing: »Steuerberaterin Gabriele Richard«.

Ich drückte auf die Klingel und wartete ein paar Minuten vor der grün gestrichenen Tür. Dann drehte ich mich um und beobachtete eine Weile den dahinfließenden Verkehr. Plötzlich hörte ich hinter mir ein Geräusch. Eine sehr junge Frau stand im Türrahmen. Die aschblonden Haare waren zu einem Pferdeschwanz zusammengefasst.

»Ja, bitte?«, sagte sie mit piepsiger Stimme und betrachtete mich durch ein schwarzes Brillengestell.

»Sind Sie Frau Richard?«, fragte ich.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ich bin die Bürogehilfin.« Ein Lastwagen donnerte vorbei, der Anhänger machte ein rasselndes Geräusch, und das Mädchen musste lauter sprechen, was sie offensichtlich sehr anstrengte. »Frau Richard ist auf einem Termin«, rief sie. Der Lkw-Lärm verlor sich in der Ferne. »Sie sind doch nicht einer unserer Mandanten, oder?«

»Nein«, sagte ich.

Ich erklärte dem Mädchen in Ruhe die Geschichte von der Erbschaft, die eine gewisse Maria zu erwarten hätte.

»Dazu kann ich Ihnen leider nichts sagen«, sagte das Mädchen, als ich fertig war. »Ich kenne keine Brasilianerinnen oder Portugiesinnen.«

»Ich habe erfahren, dass in diesem Haus jemand wohnen soll, der Brasilienfan ist. Das hat mich auch darauf gebracht, hier nachzufragen.«

Der Blick des Mädchens wurde verständnislos. »Das muss ein Irrtum sein. Hier unten ist das Büro. Und oben wohnt Frau Richard selbst. Ich glaube nicht, dass sie etwas mit Brasilien zu tun hat.«

Ich sah mir das Haus genauer an. Es wirkte frisch und neu -wahrscheinlich war es vor nicht allzu langer Zeit renoviert worden.

»Und der Name Jonas Ratnik sagt Ihnen auch nichts?«

Sie schüttelte den Kopf; im Hintergrund klingelte ein Telefon.

»Entschuldigen Sie, aber ich muss weiterarbeiten«, sagte das Mädchen. Ich fragte mich, ob ich hier richtig war. Ich sah kurz links und rechts die Straße entlang. Die anderen Häuser waren in typischer gesichtsloser Vorstadtarchitektur errichtet. Es konnte keinen Zweifel geben. Zichorius musste dieses Haus gemeint haben.

»Gibt es hier in der Nähe noch ein anderes Haus, das so aussieht?«, fragte ich sicherheitshalber.

Das Mädchen zuckte mit den Schultern. Das Telefon klingelte immer noch.

»Wann kann ich mit Frau Richard selbst sprechen?«

»Wahrscheinlich heute nicht mehr. Versuchen Sie es am Montag noch mal.«

»Und sie wohnt hier?«

»Wie gesagt.«

»Darf ich Sie noch um einen Gefallen bitten?«

»Was denn?«, sagte sie ungeduldig.

»Gehen Sie doch bitte mal einen Moment zur Seite.«

»Warum das denn?«, fragte das Mädchen, und sein Blick wurde ängstlich.

»Keine Angst. Nur einen Moment.«

Sie trat in eine Tür, die vom Flur abging und die wahrscheinlich in die Büros führte. Der Blick nach hinten wurde frei, und ich konnte eine schön geschwungene hölzerne Treppe sehen, über die man ins obere Stockwerk gelangte. Die Treppe, die Ratnik gebaut hatte.

Das Telefonklingeln hatte aufgehört. Ich gab dem Mädchen meine Visitenkarte, die Version ohne Detektiv, verabschiedete mich und ging zurück zum Auto.

»Das ging ja tatsächlich schnell«, sagte Jutta und sah auf die Uhr. »Wir könnten es noch versuchen.«

»Jetzt muss ich aber erst noch jemanden anrufen.«

»Dann lass mich fahren, und du kannst so viel telefonieren, wie du willst.«

Wir tauschten die Plätze, und Jutta startete den Motor. Ich holte Mölichs Nummer aus dem Speicher.

»Rott. Sie mal wieder.«

»Ich weiß, ich weiß. Sie haben das letzte Mal gesagt, ich soll wiederkommen, wenn ich was in der Hand habe.«     

»Richtig. Allerdings habe ich jetzt Dienstschluss. Ich stand schon in der Tür. Ich hoffe also für Sie, dass es was Neues gibt.«

»Ich habe herausgefunden, wo Ratnik vielleicht diese Maria kennen gelernt hat.«

»Was meinen Sie mit ›vielleicht‹?«

»Meine Theorie ist, Maria ist gar keine Portugiesin.«

»Rott!« »Ja?«

»Machen Sie's kurz.«

»Maria ist wahrscheinlich Brasilianerin. Und Ratnik war auf einer Baustelle in einem Haus beschäftigt, in dem jemand wohnte, der Brasilien liebte. Worum ich Sie jetzt bitten wollte -«

»Egal, was Sie sagen. Vor Montag wird das nichts.«

»Finden Sie heraus, ob in diesem Haus jemals eine Frau namens Maria gemeldet war. Das würde uns weiterbringen. Sie können so was doch sicher leicht vom Einwohnermeldeamt erfahren.«

Mölich seufzte. »Sagen Sie mir die Adresse.« Ich gab sie ihm. »Ich möchte mal wissen, in welche Theorie Sie sich da verrannt haben, Rott. Sie müssen ja tierisch gut bezahlt werden für den Job, dass Sie sich da so reinhängen.«

»Kann schon sein.«

»Haben Sie noch mehr Erkenntnisse auf Lager?«

»Das fragen Sie mich? Bis jetzt war es doch immer so, dass ich Ihnen nachgelaufen bin mit Informationen, und Sie wollten nichts hören.«

»Ich bin gut gelaunt, weil das Wochenende naht. Streng genommen hat es ja schon vor zweieinhalb Minuten begonnen. Was gibt's?«

»Ehrlich gesagt, gibt es da etwas.«

»Und?«

»Ich habe den Hakenkreuzwald gefunden. Glaube ich zumindest.«

»Wie bitte?«

»Ich hatte Ihnen doch davon erzählt. Ratnik hat sich für diesen Wald interessiert. Das hat mir ein Nachbar von ihm erzählt und auch seine Ex-Frau.«

»Sie haben auch seine Ex-Frau gefunden?«

»In der Tat. Und jetzt bin ich mit meiner Assistentin unterwegs, um nach Spuren in diesem Wald zu suchen.«

»Sagen Sie mal, Herr Rott …« Ich staunte. Das war das erste Mal, dass er ein »Herr« vor meinen Namen setzte. Vielleicht war es ihm selbst aufgefallen, denn er machte eine Pause. »Was glauben Sie denn in diesem Wald zu finden?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Seien Sie bloß vorsichtig.«

»Meine Güte, Herr Mölich. Sie klingen ja richtig besorgt.«

»Wenn diese Geschichte etwas mit Neonazis zu tun hat, dann sollten wir uns lieber vorher persönlich darüber unterhalten.«

»Wir nutzen jetzt mal den Rest des Tages, um uns da umzusehen. Dann melde ich mich wieder.«

»Wie haben Sie den Wald gefunden? Und wo ist er?«

»Später, Herr Mölich. Am Montag. Genießen Sie Ihr Wochenende.«

Damit drückte ich den roten Knopf.