15. Kapitel

Das Messingschild, auf dem »Steuerberaterin Gabriele Richard« stand, erschien mir viel sauberer als gestern. Es kam mir vor, als hätte jemand das Metall extra für mich blank gewienert. Vielleicht um einen Kontrast zur hässlichen Umgebung zu bilden. Der Strom der Fahrzeuge auf der Landwehrstraße riss nicht ab. Ich stand mitten im Verkehrslärm.

Ich klingelte und wartete, von Krach umtost. Nichts passierte. Niemand öffnete.

Ich ging zwei Schritte auf dem Gehsteig zurück und nahm das bergische Haus in Augenschein. Gleich neben dem Eingang lag ebenerdig das Büro der Steuerberaterin. Ich erkannte hinter der Scheibe einen Kaktus auf der Fensterbank. Im Raum war es dunkel.

Die Bürogehilfin hatte gesagt, dass Frau Richard im ersten Stock ihre Wohnung hatte, ich entdeckte aber keine Privatklingel. Es gab nur diesen einen Knopf unter dem Messingschild. Ich erkundete noch einmal die Fassade. Oben gab es vier Fenster mit weiß gestrichenen Rahmen und schmucken Fensterkreuzen. Ich klingelte wieder, trat zurück und sah wieder nach oben. Nichts tat sich.

Einen Hintereingang gab es nicht. Neben dem Haus führte eine kleine Einfahrt zu einer geschlossenen Garage. Dann kam direkt das Nachbargrundstück mit einem gesichtslosen Einfamilienhaus. Ich wartete eine Weile und sah dem Verkehr zu. Dann fasste ich einen Entschluss und klingelte bei den Nachbarn.

Eine alte Frau öffnete.

»Entschuldigen Sie. Ich bin ein Mandant von Frau Richard«, sagte ich. »Eigentlich war ich mit ihr verabredet. Können Sie mir sagen, wo sie ist?«

Ich hoffte, dass die alte Frau über die Gewohnheiten von Frau Richard informiert war und dass sie noch nie was von Handys und Anrufbeantwortern gehört hatte.     

Sie schüttelte nur den Kopf. »Ist sie denn nicht da?«

»Nein, leider nicht. Das ist ja das Problem. Und ich hab's ziemlich eilig.«

»Aber heute ist doch Samstag«, sagte die Frau.

»Ich weiß, aber wir hatten trotzdem …«

»Samstags kommt doch immer der Mann mit dem Kind.«

»Aha«, sagte ich. »Und was heißt das?«

»Die Mandanten von der Frau Richard wissen das.«

Ich versuchte, einen unschuldigen Gesichtsausdruck aufzusetzen. »Gut. Kann ja sein. Ich müsste sie trotzdem sprechen.«

»Die arbeitet doch samstags nicht. Wie gesagt. Wegen dem Mann und dem Kind.«

»Das klingt, als wüssten Sie, wo ich sie erreichen kann.«

»Warten Sie einfach. Die wird schon kommen. Sie kauft wahrscheinlich ein.« Sie nickte ein paarmal vor sich hin, als hätte sie nicht mir, sondern sich selbst eine Frage beantwortet, und schloss die Tür.

Ich hoffte, dass sie Recht hatte, ging hinüber zur Garageneinfahrt und lehnte mich an die Mauer. Als sich nach einer Viertelstunde nichts tat, erkundete ich per Handy Frau Richards Telefonnummer. Sie hatte eine geschäftliche und eine private. Als ich die geschäftliche anrief, meldete sich ein Anrufbeantworter und gab die Öffnungszeiten des Büros bekannt. Bei der privaten ging keiner ran.

Ich wartete.

Nach einer knappen Stunde kam aus Richtung der Solinger Innenstadt ein blauer Mercedes angefahren, blieb auf Höhe der Garageneinfahrt stehen und setzte den linken Blinker. Es dauerte eine ganze Weile, bis Frau Richard die Chance zum Abbiegen bekam, und so konnte ich sie eine Weile betrachten. Sie hatte einen schwarzen Pagenkopf; ihre Lippen waren einen Tick zu rot geschminkt. An der Hand, die auf dem Lenkrad lag, glänzte Schmuck.

Ich machte Platz, damit sie in ihre Einfahrt kam. Als sie ausstieg, verließ mit ihr eine ganze Parfümwolke den Wagen. Sie hatte nicht nur schwarzes Haar, sondern sie trug auch schwarze Kleidung: einen Pullover und einen langen Rock, unter dem spitze schwarze Stiefel hervorlugten.

»Sind Sie Frau Richard?«, fragte ich.

»Mein Büro ist jetzt geschlossen«, sagte sie und ging an mir vorbei zum Kofferraum. Sie öffnete ihn, und eine Plastikkiste mit Einkäufen kam zum Vorschein. Ein paar Konserven, Nudelpackungen, Bananen und Gemüsestauden. Sie packte die Kiste. Ich kam Frau Richard zu Hilfe, indem ich den Kofferraum zuklappte.

»Ich bin nicht hier, weil ich eine Steuerberaterin brauche. Es geht um etwas anderes.«

»Nämlich?«

»Geben Sie mir die Einkäufe. Dann haben Sie die Hände frei, um die Tür aufzuschließen.«

Sie ließ ihren Blick von meinem Kopf bis zu den Füßen und wieder zurückwandern. »Sagen Sie mal, wer sind Sie eigentlich?«

»Mein Name ist Rott. Privatermittler.«

»Und worum geht es?«

»Ich brauche Informationen über Ihr Haus.«

»Mein …? Ja, sagen Sie mal…« Sie schüttelte entrüstet den Kopf.

»Ich kann mich ausweisen … hier.« Ich brachte meine Lizenz zum Vorschein und zeigte sie ihr.

Sie prüfte das Kärtchen. »Was wollen Sie wissen?«

»Können wir uns nicht drinnen unterhalten? Ich trage Ihnen auch die Sachen rauf in die Küche.«

»Woher wissen Sie, dass meine Küche oben ist?«

»Das erkläre ich Ihnen dann.«

»Na gut. Aber nur ein paar Minuten. Ich habe viel zu tun.«

Die Treppe, die Jonas Ratnik eingebaut hatte, war ziemlich steil. Gleich neben dem oberen Absatz ging es in einen kleinen Flur, von dem eine winzige Küche abzweigte. Auf der einen Seite bestand die Wand aus einer Schräge. Darunter war ein kleiner, quadratischer Tisch.

»Stellen Sie die Kiste bitte da drauf. Vielen Dank. Und jetzt sagen Sie mir, was Sie wollen. Ich habe nämlich wenig Zeit.«

Ich erklärte, dass ich etwas über den Arbeiter herausfinden musste, der damals die Treppe eingebaut hatte.

»Das wird schwierig«, sagte Frau Richard. »Das war nämlich vor meiner Zeit.«

»Wie meinen Sie das?«

»Mir gehört das Haus erst etwa ein Jahr.«

»Vielleicht können Sie mir trotzdem helfen. Der Mann, um den es geht, hatte eine Frau, die wahrscheinlich aus Portugal oder Brasilien stammt. Und ich habe erfahren, dass in diesem Haus mal jemand wohnte, der ein Brasilienfan gewesen sein soll.«

»Klingt ja geheimnisvoll. Gehen Sie mal bitte zur Seite.«

Ich drückte mich in die Ecke, und Frau Richard begann die Einkäufe aus der Kiste zu nehmen. Ich berichtete ihr dabei von dem toten Kind in Solingen.

»Ja«, sagte sie und nickte. »Ich habe davon gehört. Ich verstehe aber nicht, was dieser Arbeiter damit zu tun hat.«

»Ich kann das jetzt nicht alles erklären«, sagte ich. »Aber es ist wichtig zu wissen, wer vor Ihnen das Haus besessen hat.«

»Ich fürchte, das passt nicht in Ihre Theorie.«

»Warum?«

»Es war eine alte Frau. Sie musste das Haus aus finanziellen Gründen verkaufen. Soviel ich weiß, kam sie ins Pflegeheim.«

»Wie hieß sie? Und in welchem Pflegeheim ist sie?«

»Ich weiß es nicht.«

»Haben Sie nicht mir ihr zu tun gehabt, als Sie das Haus kauften?«

»Das lief über die Bank. Außerdem ist das doch egal. Was soll eine alte Frau schon mit einer Brasilianerin zu tun haben?«

»Ich muss jeder Spur nachgehen. Wenn Sie das Haus über die Bank gekauft haben, dann hatten Sie doch mit einem Bankberater zu tun. Kann ich nicht mit ihm sprechen?«

Frau Richard lächelte plötzlich und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das geht überhaupt nicht.«

»Warum nicht? Er muss mir doch weiterhelfen können!«

»Ich muss Sie jetzt bitten zu gehen. Ich hab's eilig. Nachher kommt meine Tochter mit meinem Ex-Mann, und dann muss das Essen auf dem Tisch stehen.«

»Geben Sie mir den Namen und die Nummer von dem Bankberater, dann sind Sie mich los.«

Sie schüttelte den Kopf. »Gehen Sie!«

»Warum?«

Sie seufzte. »Ganz einfach. Der Bankberater ist mein Ex-Mann.

Ich fechte gerade mit ihm aus, dass ich das Sorgerecht für meine Tochter bekomme. Ich muss zeigen, dass ich trotz meiner Selbstständigkeit gut für Janine sorgen kann. Und da passt es mir überhaupt nicht in den Kram, wenn der Vorbesitzer meines Hauses irgendwas mit kriminellen Machenschaften zu tun hatte.«

»Aber so ist es doch nicht! Es muss auch gar nicht sein, dass die alte Frau in dieser Geschichte drinsteckt.«

»Sehen Sie, das finde ich auch. Also lassen Sie es doch einfach.«

»Aber ich muss eine Spur finden.«

»Es gibt keine Spur. Gehen Sie.«

»Wann kommen Ihre Tochter und Ihr Mann?«

»In einer halben Stunde.«

»Wie wäre es, wenn Sie Ihren ehemaligen Ehemann fragen? Ich brauche nur einen Namen und eine Adresse. Ich muss mit der alten Frau reden. Ich halte Sie vollkommen aus der Sache raus. Bitte!« Ich zog eine Visitenkarte hervor und legte sie auf den Tisch. Frau Richard nahm sie und las. »Lassen Sie sie hier nicht herumliegen. Rufen Sie mich auf dem Handy an. Wenn nicht, melde ich mich wieder. Und ich sage Ihnen eins: Drohungen liegen mir nicht. Aber wenn ich will, werde ich an Ihren Exmann leicht herankommen. Und dann werde ich Ihn befragen, ob es Ihnen passt oder nicht.«

»Aber was soll ich ihm denn sagen? Wirkt das nicht etwas komisch, wenn ich mich plötzlich nach der Vorbesitzerin erkundige?«

»Denken Sie sich was aus. Sagen Sie, Sie hätten irgendwas Interessantes in dem Haus gefunden. Sagen Sie, es würde Sie interessieren, eine Chronik des Hauses anzufertigen. Sagen Sie, Sie wollten die alte Dame um Fotos vom Haus im alten Zustand bitten. Oder Sie wollen von ihr wissen, wo irgendeine bestimmte Leitung verläuft … Lassen Sie sich was einfallen.«

»Meine Güte, Sie haben ja Fantasie.«

»Braucht man auch in meinem Beruf«, sagte ich.

Ich setzte mich in den Wagen und rief Frau Weitershagen an. Immerhin war sie weitläufig mit Jutta bekannt, und so erzählte ich auch, was mit ihr in dieser Nacht geschehen war.

»Das ist ja furchtbar«, sagte Frau Weitershagen. »Wie geht es ihr?«

»Sie ist noch nicht über den Berg«, sagte ich und spürte, wie mir die Kehle rau wurde. »Das Krankenhaus wird mich anrufen, sobald es etwas Neues gibt.« Ich versuchte, das Gefühl von Ohnmacht abzuschütteln, das sich plötzlich in mir auszubreiten drohte.

»Wenn Sie etwas brauchen, sagen Sie es mir.«

»Das ist sehr nett von Ihnen, Frau Weitershagen.«

»Sie sind so ein tüchtiger junger Mann. So was Furchtbares … haben Sie nicht verdient. Und Frau Ahrens erst recht nicht. Wenn ich gewusst hätte, was passiert, hätte ich Sie nie beauftragt, dieser Sache nachzugehen.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe«, sagte ich. »Ich werde herausfinden, was dahintersteckt. Ganz sicher.«

»Glauben Sie?«

»Natürlich.«

Ich verabschiedete mich und drückte den roten Knopf. Sollte ich zu Jutta ins Krankenhaus fahren? Es hatte keinen Sinn. Oder doch. Du kannst bei ihr sein, wenn sie stirbt, sagte wieder eine Stimme in mir. Und das ist wenigstens etwas, was du für sie tun kannst.

Ich fädelte mich in den Verkehr ein und geriet kurz darauf in einen hoffnungslosen Samstagmittagstau. Ich weiß nicht, wie viel Zeit ich eingekeilt auf der Straße verbrachte, aber irgendwann klingelte das Handy. Das Krankenhaus, dachte ich.

»Ja bitte?«, sagte ich.

»Richard hier. Ich habe nicht viel Zeit. Mein Mann hat mir den Namen gesagt.«

»Und?«

»Schreiben Sie mit?«

»Ja. Sagen Sie schon.«

»Mölich.«

»Was?«

»So hieß sie. Hannelore Mölich. Sie hat übrigens gar nicht selbst in dem Haus gewohnt. Jedenfalls zum Schluss nicht mehr.«

»Sondern?«, fragte ich mit belegter Stimme.

»Ihr Sohn.«