»Dea!«, brüllte in diesem Augenblick Goten. »Bring dich in Sicherheit!«

Während Dea ihren Tränen um Morgwen freien Lauf ließ, sah sie verschwommen, wie ihr Vater endlich sein Schwert emporriss und zu einem gewaltigen Schlag gegen Abakus ausholte.

Der Hexenmeister machte eine Handbewegung. Sogleich löste sich sein Flammenschwert vom Boden und landete in seinen Fingern. Er parierte Gotens Hieb im letzten Augenblick und holte dann selbst zu einem Vergeltungsschlag aus.

Derweil verließ die vier Hexen beim Schicksal ihrer beiden Schwestern endgültig der Mut. Sie erkannten, dass Abakus jede von ihnen, ohne zu zögern, opfern würde, wenn es nur seinen eigenen Zielen diente – so, wie er es mit Morgwens Gegnerin getan hatte.

Alle vier wandten sich von den regungslosen Meistern des neuen Jahrtausends ab und stürmten auf demselben Weg davon, der sie vorher hinab ins Tal geführt hatte. Sie passierten die brennende Eiche, dann waren sie im Dickicht des Waldes verschwunden. Irgendwo hinter dem Hügel waberte immer noch das offene Portal zwischen den Welten; wenn sie schnell waren, konnten sie es vielleicht erreichen, bevor sich alle ihre Träume und Wünsche von einer Herrschaft des Bösen endgültig in Wohlgefallen auflösten.

Goten und Abakus lieferten sich ein erbittertes Gefecht. Immer wieder prallten die Klingen aufeinander, doch bald schon wurde deutlich, dass Gotens Schwert aus Stahl jenem von Abakus nicht gewachsen war. Das magische Feuer um die Klinge des Hexenmeisters fraß sich zischend in Gotens Waffe. Es würde sie früher oder später zerbersten lassen.

Dea erkannte, wie es um ihren Vater stand. Sie versuchte verzweifelt, ihn mithilfe eines Abwehrzaubers zu schützen. Doch alles, was sie tun konnte, war, ihn vor Abakus’ Magie zu bewahren, nicht aber vor seiner Klinge. Wenn es dem Hexenmeister gelang, seine Abwehr zu durchbrechen, würde er Goten töten, so wie er es in einem gewöhnlichen Schwertkampf getan hätte. Kein Zauber der Welt würde ihr dann noch etwas nützen.

Da ertönte ein schrilles Knirschen. Gotens Waffe brach entzwei. Abakus verharrte und stieß ein höhnisches Lachen aus.

»Du hättest nicht versuchen sollen, mich zu hintergehen, Goten. Wir hätten wie Brüder sein können, Zwillingsherrscher auf dunklem Thron. Aber du hast das nie wirklich gewollt, nicht wahr? Ich habe mich von dir täuschen lassen, weil ich es so wollte. Oh, wie habe ich mir gewünscht, unsere Kräfte zu vereinigen – meine Magie und deine Weisheit. Aber du musstest dich ja unbedingt gegen mich stellen!«

Damit hob er sein Flammenschwert hoch über seinen Kopf, um es auf Goten herabsausen zu lassen.

Goten warf Dea einen traurigen Blick zu, und seine Lippen formten stumme Worte: Du musst weitermachen, Dea. Sei die Hüterin meines Erbes. Lass nicht zu, dass Abakus siegt.

Noch während Abakus’ Klinge auf ihn herabfuhr, stieß Goten überraschend den Rest seines zerbrochenen Schwertes vor. Es war nicht viel, was er in der Hand hielt, nur der Griff, die Parierstange und ein fingerlanges Stück der geborstenen Klinge. Dennoch reichte es aus. Der Klingenrest bohrte sich durch Abakus’ Gewänder und grub sich in seine Brust. Gleichzeitig traf das Schwert des Hexenmeisters seinen Widersacher und tötete ihn mit einem einzigen Hieb.

Dea schrie auf, als sie sah, wie ihr Vater zusammensackte.

Abakus ließ das Flammenschwert fallen und taumelte zurück. Er starrte den Schwertgriff in seiner Brust an, als könne er nicht glauben, was doch unumstößlich feststand: Goten hatte noch während seines letzten Atemzuges Abakus’ Herz durchbohrt.

Der Hexenmeister schaute fassungslos die weinende Dea an, blickte dann über die Schattengesichter der sieben Geschichtenerzähler. Er brach nicht zusammen und starb, wie es ein gewöhnlicher Mensch getan hätte. Die Klinge in seinem Herzen vermochte ihn nicht zu töten, und doch schwächte sie ihn. Ihm blieb keine andere Möglichkeit als die Flucht. Mit einem letzten Brüllen voller Zorn und Hass riss er sich den Griff aus der Brust, dann verwandelte er sich in eine Nebelwolke und schoss schnell wie ein Blitz den Hang hinauf, zurück zum Tor in die andere Welt.

Dea schleppte sich an die Seite ihres toten Vaters. Sie weinte laut und lange, bis ihr schließlich bewusst wurde, dass die Meister des neuen Jahrtausends sie immer noch beobachteten.

Mühsam richtete sie sich auf ihren Knien auf und wies anklagend mit dem Zeigefinger auf jenen der Meister, den sie vor Abakus’ Feuerstoß gerettet hatte.

»Es ging um euch, um euer Leben!«, rief sie mit tränenerstickter Stimme. »Aber ihr habt einfach nur zugeschaut! Ihr … ihr Feiglinge!«

Der Mann, zu dem sie gesprochen hatte, glitt von der Wurzel und kam vor ihr am Boden auf. Noch immer fiel kein Lichtstrahl auf sein Gesicht.

»Wir hätten nichts ändern können«, sagte er sanft. »Alles, was geschehen ist, stand seit tausend Jahren fest. Wir selbst haben es damals so festgelegt.«

In Deas Kopf herrschte ein solches Chaos aus Trauer und Wut, dass sie einen Moment brauchte, ehe sie begriff, was er da sagte. »Es war … es war nicht zu ändern?«, stammelte sie.

»Abakus hätte uns nie besiegen können. Er und seine Hexen hätten unsere Stellen niemals einnehmen können – ganz einfach, weil wir es nicht so bestimmt haben, damals, bei unserer letzten Zusammenkunft vor tausend Jahren.«

»Dann war alles umsonst?«, fragte sie fassungslos. »Alles vergebens?«

»Nein«, entgegnete der Meister des neuen Jahrtausends entschieden. »Dies alles ist geschehen, um dich zu uns zu führen, Dea. Dies ist der Weg, der dir seit tausend Jahren vorherbestimmt war. Denn wir werden dir etwas geben. Etwas, das dir helfen wird, den Wunsch deines Vaters in die Tat umzusetzen.«

Und damit glitten von allen Seiten die übrigen Meister heran, bis sie einen Halbkreis um Dea gebildet hatten.

»Streck deinen Arm aus«, sagte ihr Sprecher.

Dea tat, was er verlangte. Nicht, weil sie es wirklich wollte, sondern weil sie nicht mehr die Kraft aufbrachte, sich zu widersetzen.

Die sieben Meister berührten nacheinander ihren Unterarm. Und jeder hinterließ dort etwas. Ein Zeichen. Eine Rune. Einen rätselhaften Buchstaben.

Als Dea schließlich den Arm zurückzog, prangten darauf sieben Male. Sie sahen aus, als wären sie aufgemalt oder gar in die Haut eingebrannt.

»Die Sieben Siegel«, sprach jener Meister, der direkt vor ihr stand. »Sie werden dich auf deinem weiteren Weg begleiten, sichtbar oder unsichtbar. Schon bald werden sie verblassen. Doch wenn sich dir etwas Böses nähert, werden sie erscheinen und dich warnen. Aber gib Acht, kleine Dea: Die Siegel warnen nicht nur, sie locken auch! Die Mächte der Finsternis werden davon angezogen werden wie Motten vom Licht. Dein Leben wird ein einziger Kampf sein. Aber vielleicht, nur vielleicht, wirst du triumphieren. Du, oder einer der Siegelträger, die dir nachfolgen werden.«

Dea wollte das alles nicht hören. Sie wollte nur trauern – um ihren Vater, um Morgwen und ein wenig auch um sich selbst. Es war nicht gerecht, dass ausgerechnet ihr dies alles widerfuhr.

 

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Und trotzdem ließen die Worte des Meisters sie aufhorchen. Bevor sie aber eine Frage stellen konnte, fuhr das geheimnisvolle Wesen fort:

»Sei gewappnet, Dea. Wir werden dein weiteres Schicksal bestimmen. Du wirst unsterblich sein.«

»Un …, unsterblich?«

»Du bist zu wichtig – und zu mächtig –, als dass dir die Gnade des Todes gewährt werden könnte. Du wirst weiterleben, Dea. Du wirst die Mächte des Bösen bekämpfen, wann immer du auf sie triffst. Und du wirst Männer finden, die du liebst, und gemeinsam mit ihnen Kinder zeugen. Und irgendwann wird eines unter diesen Kindern sein, das würdig ist, dein Erbe anzutreten. Dann, vielleicht, wirst du zur Ruhe kommen. Ein Mädchen, eines wie du, Dea, wird geboren werden, und es wird zur neuen Trägerin der Sieben Siegel werden und deinen Kampf fortsetzen. So wie du von heute an weiterführst, was dein Vater begonnen hat.«

Dea hatte Fragen – dutzende; hunderte, vielleicht –, aber sie kam nicht dazu, auch nur eine einzige zu stellen. Die Meister des neuen Jahrtausends wichen einige Schritte zurück, hoben ihre Hände und schufen kraft ihres Willens ein neues Portal, gleich hier, vor Deas Augen. Und ehe sie sich versah, gab ihr von hinten etwas einen Stoß, eine Windböe vielleicht oder eine geisterhafte Hand. Sie fiel nach vorne, geradewegs in das Wabern und Flimmern der Luft, und das Nächste, was sie vor sich sah, war Stein. Der Steinfußboden der großen Halle.

Sehr langsam, sehr mühselig richtete sie sich auf. Hinter ihr glühte der Wandteppich noch einmal grell auf, dann zerfiel er zu Asche.

Von Abakus und den übrigen vier Hexen gab es nirgends eine Spur. Dea machte sich auf, die Festung zu durchsuchen, ehe ihr klar wurde, dass die Meister gewiss mächtig genug waren, Abakus’ Portal in eine andere Richtung zu lenken. Wer weiß, dachte sie, wohin es ihn und die anderen verschlagen hat! Hierher jedenfalls nicht.

Vor der Tür des Allerheiligsten blieb sie stehen. Halbherzig machte sie den Versuch, sie zu öffnen. Es gelang ihr nicht. Ohne Abakus’ magischen Schlüssel gab es keinen Weg in die Kammer und zum geheimen Buch der Namen. Ganz gleich, welchen Zauber sie auch auf das Schloss anwandte, alle blieben erfolglos. Nach einer Weile wandte sie sich ab und setzte ihren Streifzug durch die Festung fort.

Das Gemäuer war verlassen.

Fast, zumindest.

Als Dea kurz darauf auf Gotens Pferdewagen durch das Tor der Festung schaukelte, kauerte etwas neben ihr auf dem Kutschbock. Etwas Dunkles, Ledriges. Ihr neuer Hexengefährte.

Statt eines schwarzen Katers saß dort die Riesenlaus, rasselte leise und schmiegte sich mit ihrem kühlen Lederpanzer an sie.

Dea schenkte dem Rieseninsekt ein sanftes Lächeln, dann trieb sie das Pferd zur Eile. Der Wagen rollte den Hang hinauf, erreichte den Waldweg und bog nach Norden.

Der hohe, kalte Norden. Reich des Eises und der Einsamkeit. Ein Ort, an dem eine Kreatur wie Abakus sich wohl fühlen mochte. Dea war sicher, dass es ihn irgendwann dorthin verschlagen würde.

Sie würde ihn erwarten. Ihn bekämpfen und besiegen.

Warten war etwas, das ihr leicht fiel. Denn Dea hatte alle Zeit der Welt.