Ein rätselhaftes Angebot

Drei Tage später verließen Goten und Dea die Stadt. Auf ihrem Pferdewagen schaukelten sie durchs Tor und dann hinaus in die Weite der Landschaft.

Die Stadt war von dichten Wäldern umgeben, die sich finstergrün in alle Richtungen erstreckten und am Horizont mit dem Grau des Februarhimmels verschmolzen.

Dea saß neben Goten auf dem Kutschbock und gab sich Mühe, in einem seiner dickleibigen Bücher zu lesen. Mit einem Mal aber schaute sie auf.

»Vater?«

Goten brummte etwas Unverständliches und nickte. Er war wieder einmal tief in Gedanken, wie so oft, seit er mit den anderen Hexenjägern zusammengetroffen war.

»Du und Abakus – seid ihr eigentlich Freunde?«, fragte Dea.

»Freunde? Nein.«

»Aber ihr habt so … so vertraut gewirkt.«

»Abakus und ich kennen uns schon sehr lange. Aus einer Zeit, als wir noch vor der Weihe standen und er noch nicht solchen Einfluss hatte wie heute.«

Dea sprach einen plötzlichen Gedanken laut aus. »Wolltest du selbst diese Macht haben? Ich meine, ist er dir zuvorgekommen?«

Goten lachte laut auf, und Dea kam sich sofort sehr dumm vor. Eigentlich hätte sie es besser wissen sollen, so gut kannte sie ihn mittlerweile.

»Ich als Anführer aller Hexenjäger?«, rief Goten aus. »Möge mich der Himmel davor bewahren! Ich würde lieber in den nächsten Waldsee springen und jämmerlich ertrinken, als mir selbst so etwas anzutun.«

»Warum ertrinken?«, fragte sie verblüfft, und dann begriff sie: »Du kannst nicht schwimmen!«

Er schaute sie finster an. »Na und?«

»Aber … ich meine, jeder kann schwimmen!« Sie war so überrascht, dass es ihr schwer fiel, die Worte mit der nötigen Sorgfalt zu wählen. Wahrscheinlich würde er jetzt wütend auf sie werden. »Zumindest da, wo ich herkomme.«

»Viele Leute können’s nicht«, widersprach er mürrisch. Ihm war anzusehen, dass er gerne über etwas anderes gesprochen hätte.

»Oh, Vater … Du willst mir Lesen und Schreiben beibringen und kannst selbst nicht mal schwimmen? Ich meine, das … das ist so ungerecht!«

Goten grummelte vor sich hin, sagte aber nichts.

Dea grinste entschlossen. »Ich werd’s dir beibringen!«

»Kommt gar nicht in Frage.«

»Warum nicht?«

»Ich hasse Wasser!«

»Oh, komm schon …«

»Hm, vielleicht später.«

»Natürlich später. Jetzt ist es ja auch viel zu kalt.«

»Es wird ein langer Winter werden, ich kann das spüren.«

Dea lachte. »Ja, das kann ich mir vorstellen.«

So reisten sie weiter, ließen die Stadt hinter sich, plauderten mal über dieses oder jenes oder schwiegen wieder über lange Strecken und hingen ihren Gedanken nach.

Am nächsten Morgen fragte Dea Goten, wohin sie eigentlich unterwegs waren.

»Wir werden sehen«, erwiderte er vage.

»Was soll das heißen ,Wir werden sehen’? Willst du’s mir nicht sagen?« Das ärgerte sie ein wenig, obwohl sie wusste, wie sehr er Geheimniskrämereien liebte.

»Wart’s einfach ab!«, sagte er.

»Aber ich möchte es gern wissen! Fahren wir wieder in eine Stadt?«

»Vielleicht.«

»Du vertraust mir nicht.«

Er sah sie erstaunt an. »Warum sollte ich dir nicht trauen?«

»Sonst würdest du keine Geheimnisse vor mir haben.«

Goten seufzte. »Ich weiß noch nicht, wohin wir fahren.«

»Aber du musst doch eine ungefähre Idee haben.«

»Hab ich nicht.«

Schmollend kletterte sie nach hinten auf die Ladefläche des Karrens. Dieses kindische Frage-und-Antwort-Spiel war ihr zu dumm. Würde er eben auf ihre Gesellschaft verzichten müssen.

Doch nach einer Weile wurde sie des Beleidigtseins müde, legte ihr Buch beiseite und schob sich wieder neben ihn auf die Bank.

»Abakus ist mir unheimlich«, sagte sie.

»Das würden die meisten Leute auch von mir behaupten.«

»Du bist ganz anders als er.«

»So? Wie anders?«

»Na ja, ich weiß nicht …« Sie überlegte. »Abakus ist grausam.«

Goten verzog sein Gesicht zu einem Lächeln.

»Du hast mir noch vor gar nicht langer Zeit vorgeworfen, ich wäre grausam.«

»Aber bei dir habe ich inzwischen das Gefühl, du hast einen guten Grund dafür.«

»Gerechte Grausamkeit? Glaubst du wirklich, so etwas gibt es?«

Dea schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« Sie zwinkerte ihm zu. »Du hast gesagt, ich bin ein Kind, schon vergessen? Ich weiß nichts über solche Dinge.«

Wieder stieß er ein tiefes Seufzen aus. »Ich bin solche Gespräche nicht gewohnt, Dea. Ich bin dir nicht gewachsen, fürchte ich.«

»Du versuchst ja nur, dich rauszureden.«

Er grinste. »In einem hast du auf jeden Fall Recht: Ich bin nicht wie Abakus.«

»Nein«, entgegnete sie nachdenklich. »Vor dir hab ich auch keine Angst.«

»Ich bin dir wohl nicht streng genug?«, erkundigte er sich mit Unschuldsmiene.

»Genau«, gab sie kess zurück. »Prügel wären angebracht.« Und damit begann sie, mit beiden Fäusten spielerisch auf seine Schulter einzuhämmern, bis er lachend die Zügel losließ und versuchte, sich ihrer Attacken zu erwehren.

Unter Lachen und Scherzen ging die Reise weiter, und Dea fragte sich mehr als einmal, was wohl all die Menschen, die Goten fürchteten wie den Teufel selbst, denken würden, hätten sie ihn so gesehen, kichernd und witzelnd wie ein kleiner Junge. Er blieb ein Rätsel, auch für sie, und je länger sie ihn kannte, desto merkwürdiger – aber auch liebenswerter – fand sie ihn.

Als es dunkel wurde, war noch immer keine Herberge vor ihnen am Wegesrand aufgetaucht. Die dunklen Wälder wirkten Furcht einflößend und menschenfeindlich. Kein Wunder, dass sie unterwegs kaum jemandem begegnet waren.

»Sieht so aus, als müssten wir unser Lager unter einem Baum aufschlagen«, meinte Goten, lenkte den Karren eine Bogenschussweite zwischen die Bäume und sprang vom Kutschbock.

Bald hatten sie die dünne Schneeschicht so gut wie möglich beiseite geschaufelt und sich aus Decken zwei Nachtlager bereitet. Ein prasselndes Lagerfeuer wärmte ihre eiskalten Hände und Füße. Sie brieten ein Kaninchen, das Goten erlegt hatte, und tranken geschmolzenen Schnee aus Lederbechern. Goten bot Dea auch einen Schluck aus einem Weinschlauch an, aus dem er an manchen Abenden einen kräftigen Zug nahm, aber sie lehnte ab. Sie mochte den Geschmack nicht und fand auch nicht, dass das Gesöff sie von innen wärmte.

Bei solchen Gelegenheiten versuchte Dea manchmal, mehr über ihre Mutter herauszubekommen, doch meist reagierte Goten unwirsch und wechselte das Thema. Heute fing sie gar nicht erst davon an, obwohl sie es sich am Nachmittag fest vorgenommen hatte; sie wollte die gemütliche Stimmung nicht zerstören, indem sie ihn mit ihren Fragen verärgerte.

Irgendwann schlief sie ein, nah genug beim Feuer, dass ihr im Schlaf nicht die Nasenspitze abfrieren würde.

Spät in der Nacht erwachte sie von Lärm und fremden Stimmen, und als sie die Augen aufschlug, sah sie, dass sie und Goten nicht mehr allein waren. Schlagartig richtete sie sich auf und wirbelte in einem Anflug von Panik ihre Decke beiseite.

Ein scharfer Stich brachte sie wieder zur Besinnung. Die Spitze eines Schwertes lag unter ihrem Kinn und ritzte die Haut ihres Halses.

»Schön sitzen bleiben«, befahl eine grollende Stimme. Sie gehörte einem breitschultrigen Kerl, der in zerschlissener Kleidung steckte. An seiner Schwerthand sah sie, dass er erbärmlich fror; sein Handrücken war von einer Gänsehaut überzogen.

Zwei weitere Männer hatten ihre Klingen auf Goten gerichtet, der ebenfalls wach war und besorgt zu Dea herüberblickte. Als er sich vergewissert hatte, dass sie ruhig sitzen blieb und sich nicht gegen die Männer zur Wehr setzen würde, schaute er einem der Kerle fest in die Augen.

»Wisst ihr überhaupt, mit wem ihr es zu tun habt?«, zischte er in einem Tonfall, als würde er bereits ein Todesurteil über den Mann verhängen.

»Ich weiß, wer du bist, Hexenjäger«, sagte der Mann, der Dea bedrohte. Er schien der Anführer der Wegelagerer zu sein. »Aber wenn du frierst wie wir, wenn du Hunger hast wie wir und wenn du nichts zu verlieren hast wie wir, haben Namen keine Bedeutung. Du könntest ein König oder Kaiser sein, und wir würden dir trotzdem die Gurgel durchschneiden.«

Deas Gedanken überschlugen sich. Ihre Aussichten waren erbärmlich. Drei Bewaffnete gegen Goten, der wehrlos am Boden saß. Und sie selbst würde ihm keine große Hilfe sein, im Gegenteil: Bei einem Kampf würden die Räuber sie wahrscheinlich als Geisel nehmen. Sie war nicht verrückt genug, zu glauben, dass sie es tatsächlich mit einem von ihnen aufnehmen konnte.

Als wollte das Schicksal alles noch schlimmer machen, trat nun ein vierter Wegelagerer um die Ecke des Karrens. Er hatte bis jetzt wohl das Pferd untersucht, fraglos, um den Münzwert des Tieres auf dem nächstgelegenen Markt abzuschätzen.

»Ihr werdet alle sterben«, sagte Goten sehr ruhig.

»Oh, gewiss, Herr«, erwiderte der Anführer. An seinem Bart hingen winzige Eiszapfen. »Und zwar schon bald, wenn wir euch nicht all eurer Güter entledigen und uns und unseren Familien dafür etwas zu essen besorgen. Glaubst du wirklich, deine Drohungen könnten uns Angst machen?«

»Warum wollt ihr uns töten?«, fragte Dea.

»Sieh an, die Kleine kann sprechen«, höhnte der Mann am Karren. »Dachte schon, sie hätte vor Angst ihre Zunge verschluckt. Na, Kleine, wirst bald sterben. Was sagste dazu?«

Der Anführer löste seine Klinge einen kurzen Augenblick lang von Deas Kehle, machte einen Schritt nach hinten und schlug dem Mann am Wagen die geballte Faust auf den Mund. Mit einem Keuchen flog der Getroffene zurück und landete im Schnee.

»Sie ist nur ein Kind«, schrie der Anführer ihn wutentbrannt an. »Schlimm genug, dass wir ihr die Kehle durchschneiden müssen. Aber es gibt keinen Grund, sie zu verhöhnen, du Hundsfott!«

»Ah«, kam es von Goten abschätzig, »ein Räuber mit Anstand. Wie nobel.«

Der Anführer war einen Moment lang unschlüssig, dann richtete er seine Waffe erneut auf Dea. Allerdings schnitt die Spitze jetzt nicht mehr in ihre Haut.

»Töten wir sie endlich«, sagte der Mann, der sich mit blutender Lippe aus dem Schnee hochrappelte. »Was soll das ganze Gerede?«

Der Anführer wurde abermals zornig, aber diesmal ging er nicht mehr auf den anderen los. Das, was er nun würde tun müssen, missfiel ihm sichtlich, aber er wusste auch, dass er keine andere Wahl hatte. Niemand beraubte einen der gefürchtetsten Hexenjäger des Landes und ließ es dann darauf ankommen, ihm später einmal mit vertauschten Rollen gegenüberzustehen. Nein, aus der Sicht des Wegelagerers war der Tod seiner Opfer der einzige Weg.

»Gut«, sagte der Anführer, »bringen wir’s hinter uns.«

Dea und Goten wechselten einen letzten Blick, und immer noch suchte sie in den Augen ihres Vaters nach einem Ausweg, irgendeiner Hoffnung auf Rettung. Aber Schatten lagen über seinem Gesicht, und sie erkannte dort nichts als kalte, finstere Entschlossenheit.

Die Wegelagerer hoben ihre Klingen.

Vorne am Karren schnaubte das Pferd.

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