Der Schrecken aus dem Nordland

Obwohl der Februar schon seinem Ende entgegenging, wurde der Schneefall in den folgenden Wochen wieder stärker. Der Boden war jetzt kalt genug, dass die frisch gefallenen Schneeflocken nicht mehr tauten, und bald wurde es für das Pferd immer schwieriger, den Karren durch den pulvrigen Neuschnee zu ziehen. Goten und Dea kamen nur mühsam voran.

Eines Abends saßen sie im Schankraum eines Wirtshauses, wärmten sich am offenen Kaminfeuer, kauten auf zähem Wildfleisch und verbrannten sich die Zungenspitzen an heißem Met.

Eine Hand voll Köhler, die einsam in den Wäldern lebten und einander nur an den Abenden im Gasthaus begegneten, war in ein heftiges Gespräch vertieft. Der Wirt, ein dicker Mann mit schmutziger Lederschürze, balancierte Holzkrüge und Becher umher, schwatzte mit einigen der Gäste und warf immer wieder scheue Blicke zu Goten herüber. Offenbar hatte er den Hexenjäger nicht erkannt – sie waren zu weit abseits von Gotens üblichen Reisewegen. Wohl aber spürte der Wirt, dass etwas Unheilvolles den Mann in dem dunklen Gewand umgab. Zum ersten Mal wurde Dea klar, dass die düstere Aura ihres Vaters auf sie selbst abfärbte; auch ihr begegneten die Menschen mittlerweile mit Zögern und sichtlicher Unruhe.

Vom Tisch der Köhler drangen vereinzelte Sätze herüber.

»Sie schlachten alles ab, was ihnen vor die Klingen läuft.«

»Keiner kann es mit ihnen aufnehmen.«

»Sie haben Hörner auf den Köpfen, und Haare wachsen ihnen sogar aus den Augen und den Mündern.«

»Ich hab mit eigenen Ohren gehört, wie sie den Teufel um Hilfe anriefen.«

»Sie bringen Menschenopfer dar, am liebsten junge Mädchen.«

»Und wisst ihr auch, dass sie sich in Dämonen verwandeln? … Ja, das ist die Wahrheit – sie verwandeln sich in reißende Bestien, wenn ihr Blut in Wallung gerät!«

Spätestens jetzt wurde Dea hellhörig. Das schien mehr zu sein als das übliche Gerede bei Bier und Wein. Zu ihrem Erstaunen blieb ihr Vater jedoch gelassen und schaute nicht von seiner Mahlzeit auf.

»Hast du das gehört?«, flüsterte sie ihm zu.

»Hm?«

»Ob du gehört hast, was die Leute sich erzählen?«

Er nickte. »Mhm.«

»Und?«

»Was ,und’?«

»Willst du dich nicht darum kümmern, großer Hexenjäger?«

Er funkelte sie giftig an. »Ich esse gerade.«

»Das seh ich.« Dea dachte nicht daran, einfach aufzugeben. »Aber, ich meine, diese Leute reden von Dämonen! Von Menschenopfern! Von Teufelsanbetern! Macht dir das gar nichts aus?«

»Nicht im Moment.« Er schob sich ein weiteres Stück Fleisch zwischen die Lippen und kaute lustlos.

»Was ist los mit dir?«

»Ich hab Hunger, und ich versuche, etwas dagegen zu unternehmen.«

Seine Gleichgültigkeit machte sie fassungslos. Was war nur los mit ihm? So kannte sie ihn gar nicht.

Wütend schob sie ihren Schemel zurück und stand auf. »Wenn du dich nicht darum kümmerst«, sagte sie wild entschlossen, »dann tu ich es eben.«

Goten seufzte und verdrehte die Augen. »Die reden doch nur Unsinn. Ich kenne so was, glaub mir.«

»Ach ja? Und was, wenn sie Recht haben?«

»Dann haben wir trotzdem keine Zeit, uns damit abzugeben.«

»Aber das ist deine verdammte Pflicht!« Sie hatte so laut gesprochen, dass der Wirt ihnen einen verwunderten Blick zuwarf.

»Dea, bitte! Wir haben anderes vor. Etwas … Größeres!«

»So? Und was ist das? Seit Tagen bitte ich dich, mir mehr darüber zu erzählen. Aber du sagst nichts. Nicht das Geringste! Ich bin nicht dein Pferd, verflucht, ich bin deine Tochter! Ich denke manchmal über dich nach, über dein Benehmen. Und das, was mir dabei durch den Kopf geht, gefällt mir überhaupt nicht.«

Es war, als hörte er zum ersten Mal an diesem Abend wirklich, was sie sagte. »Wie meinst du das?«

»Ach, vergiss es!« Wutentbrannt fuhr sie herum, rückte ihr Wams zurecht und ging mit festen Schritten durch die Schankstube zum Tisch der Köhler.

Die Männer saßen in einer Wolke aus Schweißgeruch und dem üblen Gestank ihrer Stiefel, die sie unter dem Tisch ausgezogen und zum Trocknen abgestellt hatten. Doch nicht einmal das vermochte Dea in diesem Augenblick abzuschrecken. Sie hatte das Gefühl, dass es an der Zeit war, Goten etwas zu beweisen. Dass sie erwachsen geworden war, in der Zeit mit ihm. Dass sie groß genug war, um es selbst mit Hexen und Dämonen aufzunehmen. Und hatten die Ereignisse in der Stadt nicht gezeigt, dass sie über ein besonderes Talent verfügte? Sie hatte die Maske des Dämons durchschaut. Das sollte ihr erst mal einer nachmachen.

»Seid gegrüßt«, sagte sie laut, als sie sich zwischen zwei der Köhler drängte und von hinten einen Hocker heranzog.

Die sechs Männer verstummten schlagartig. Sie schauten einander an und fragten sich wohl, was dieses kleine hübsche Ding hier zu suchen hatte.

»Können wir dir helfen?«, fragte einer der Männer, der jünger war als die anderen und einen argwöhnischen Blick über Deas Schulter hinweg auf Goten warf.

»Ich habe gehört, über was ihr redet, und ich war neugierig«, erwiderte sie und tat dabei betont einfältig. Es war nur zu ihrem Vorteil, wenn die Männer sie unterschätzten.

Die Köhler flüsterten und grinsten einander an. Deas Befürchtung, sie könnten wütend darüber sein, dass sie gelauscht hatte, erwies sich als grundlos.

»Bist auf der Reise durch die Wälder, was?«, fragte einer.

Dea nickte. »Ganz schön unheimlich da draußen.«

Der jüngste der Männer nickte stolz. »Wir leben in den Wäldern. Jeder für sich, ganz allein. Ich sag dir, es ist verflucht unheimlich da draußen … Aber wir sind dran gewöhnt.«

Dea beugte sich mit Verschwörermiene vor.

»Aber was ist mit den Dämonen?«, fragte sie im Flüsterton.

»Das ist kein Kinderkram«, erwiderte einer der Köhler. »Nichts für Mädchen.«

»Sie schlitzen Mädchen wie dich auf, von oben bis unten, und das, was übrig bleibt, opfern sie ihren Göttern.«

»Aber woher wisst ihr, dass es Dämonen sind und keine Menschen?«, wollte Dea wissen.

»Sie kommen aus dem Norden.«

»Ja, es sind Nordmänner.«

»Man erzählt sich, sie seien auf Drachen übers Meer geritten.«

»Und jetzt sind sie in unseren Wäldern. Sie töten alles und jeden, sie rauben und brandschatzen und beten ihre bösen Götzen an.«

»Im Kampf, wenn sie Blut geleckt haben, verwandeln sie sich. Ja, das tun sie! In Bestien! Dann zeigen sie ihr wahres Gesicht.«

»Es sind Dämonen. Dämonen in der Gestalt riesiger Männer.«

Dea blickte aus dem Augenwinkel zu Goten. Er würdigte sie und die Köhler mit keinem Blick, war stattdessen immer noch völlig in sein Essen vertieft. Genüsslich leckte er sich die fettigen Finger ab. Wahrscheinlich wollte er sie mit seinem Verhalten nur reizen. Gerade das machte sie noch wütender. Sie war fest entschlossen, das Rätsel dieser Dämonen zu lösen, hier und jetzt.

»Und was unternehmt ihr gegen sie?«, fragte sie die Männer.

»Was sollen wir schon unternehmen?«, kam die Antwort. »Wir sind ihnen nicht gewachsen. Einer von denen nimmt es mit zehn von uns auf, so stark sind sie.«

»Ihre Schwerter sind breit wie Flüsse.«

»Ihre Muskeln so dick wie Baumstämme.«

»Ihre Augen sind schwarz wie Brunnenschächte.«

»Ihr Haar lodert gelb und rot wie Feuer.«

»Ihre Zähne zerreißen ein Kind mit einem einzigen Biss.«

Der jüngste Köhler beugte sich vor und stützte sich auf beide Ellbogen. »Wir können nichts unternehmen. Wir sind nur Köhler.«

»Was ist mit denen, die schon ihre Familien verloren haben?«, erkundigte sich Dea.

Die Männer lachten bitter. »Wer seine Familie an sie verloren hat, dem ist es egal, denn er ist genauso tot wie sein Weib und seine Kinder. Wo die Dämonen gewütet haben, gibt es keine Überlebenden.«

»Keine Gnade.«

»Keine Gegenwehr.«

Dea atmete tief ein und wieder aus. Sie hatte plötzlich das Gefühl, den bösen Odem der Nordmänner riechen zu können, sogar hier im Gasthaus, inmitten all der Gerüche nach Bier und Wein und Essen.

»Wo hat man sie zuletzt gesehen?«, fragte sie.

»Überall und nirgends. Sie tauchen auf und verschwinden wieder. So machen es alle Dämonen.«

»Ja«, sagte Dea nachdenklich. »Das machen sie wohl.« Mit einem Ruck erhob sie sich von ihrem Hocker. »Ich danke euch jedenfalls, dass ihr mir all das erzählt habt.«

»Gib Acht auf deiner Reise!«, riet ihr der junge Köhler. »Sie können jederzeit über dich herfallen. Wir sind nicht verrückt oder so was. Was wir sagen, ist die Wahrheit.«

»Daran zweifle ich nicht. Habt Dank.« Damit drehte sie sich um und ging zurück zu Goten. Die sechs Köhler schauten ihr nach, musterten auch Goten, dann steckten sie die Köpfe zusammen und flüsterten wieder.

»Und?«, fragte Goten und klang amüsiert. »Hast du neue Freunde gefunden?«

»Mach dich nur über mich lustig!«

»Was hast du herausbekommen?«

»Es sind Dämonen aus dem Norden, die auf Drachen reiten«, gab sie triumphierend zurück, stolz darüber, dass sie etwas erfahren hatte, von dem Goten nichts wusste. »Die Wälder wimmeln nur so von ihnen. Sie töten Frauen und Kinder, und natürlich die Männer.«

»Aha.«

»Ist das alles?«, fauchte sie zornig.

»Was soll ich sonst sagen?«

»Wie wär’s mit: ,Darum müssen wir uns kümmern’?«

»Aber das müssen wir nicht.«

»Ein schöner Hexenjäger bist du!«

»Das ist eine Sache des Königs. Er muss Krieger schicken, die die Nordleute vertreiben. Uns geht das nur so weit etwas an, dass wir auf unserer Reise ein wenig vorsichtiger sein müssen.«

Dea verzog das Gesicht. »Und sonst ist ja immer noch Abakus da, der uns rettet – wenn du es schon nicht selbst zu Stande bringst.«

Zum ersten Mal seit Wochen sah sie ihn zornig, und sie bedauerte ihre Worte, kaum dass sie sie ausgesprochen hatte.

»Willst du mit mir streiten?«, zischte er.

»Vielleicht wäre das mal wieder angebracht«, gab sie mutig zurück, obwohl sie einen mächtigen Knoten im Hals spürte. Sie bekam Bauchschmerzen, während sie versuchte, seinem wutentbrannten Blick standzuhalten.

»Diese Dämonen, von denen deine Freunde faseln, sind ganz gewöhnliche Menschen«, sagte er und hatte merkliche Mühe, seine Stimme im Zaum zu halten. »Es sind Männer aus dem Norden, wahrscheinlich Händler im Auftrag des Nordlandkönigs. Sie führen keinen Eroberungszug. Vielleicht rauben sie ein paar Höfe aus auf ihrem Weg, das ist alles.«

»Und die Drachen?«

»Die Buge ihrer Schiffe sind geformt wie Drachenköpfe.«

»Aber die Verwandlung in Dämonen, wie willst du die erklären?«

»Die Nordmänner sind bekannt dafür, dass sie sich im Kampf in eine Art Wahn hineinsteigern. Ein schrecklicher Blutrausch, der sie stärker, zäher und nahezu unbesiegbar macht. Berserker nennen sie sich, wenn sie in diesem Zustand sind. Das hat nichts mit dem Teufel zu tun. Oder mit Dämonen.«

»Die Menschenopfer?«

»Die Wikinger glauben an grausame Götter, deshalb sind sie selber grausam. So war es schon immer, und so wird es auch bleiben.«

Dea platzte fast vor Wut, aber auch vor Enttäuschung. »Du kannst wohl alles irgendwie erklären, was?«

»Fast alles.«

»Du bist ein Besserwisser.«

»Ich bin ein Gelehrter.« In einem Anflug von Betroffenheit fügte er hinzu: »Wenigstens war ich das einmal.«

»Was bringt sie hierher?«

»Wahrscheinlich sind sie auf dem Heimweg aus Byzanz. Sie treiben mit den Herrschern dort rege Geschäfte. Manchmal kommt es vor, dass sie sich auf dem Weg über Land verirren. Sie sind Seefahrer, keine Fährtensucher oder Kundschafter. Wenn sie ihre Richtung nicht mehr finden, werden sie wütend und verzweifelt. Dann beginnen sie zu plündern und zu brandschatzen. Das ist schlimm und traurig, aber nichts, an dem ich irgendetwas ändern könnte.«

Sie schwiegen eine Weile, und Dea widmete sich lustlos ihrem kalt gewordenen Essen. Schließlich legte sie den hölzernen Löffel ab und schob die Schale von sich.

»Ich hab dich schon ein paar Mal gefragt, und du hast mir nie eine Antwort gegeben. Aber jetzt will ich die Wahrheit wissen: Was für ein Angebot war das, von dem Abakus gesprochen hat?«

»Psst«, machte er und legte den fettverschmierten Zeigefinger an die Lippen. »Sprich seinen Namen nicht so laut aus. Abakus war hier, erst gestern oder vorgestern. Die Leute erinnern sich an ihn. Ich will nicht, dass uns irgendwer mit ihm in Verbindung bringt.«

»Abakus ist hier gewesen?«, fragte sie erstaunt. »Dann sind wir immer noch hinter ihm?«

»Ja.«

»Warum reisen wir nicht mit ihm zusammen?«

Goten schüttelte den Kopf. »Das willst du doch nicht wirklich, oder?«

»Nein, aber ich dachte, vielleicht du.«

»Ich sag’s dir noch mal: Abakus ist nicht mein Freund.«

»Zu ihm hast du was anderes gesagt.«

»Für Abakus gibt es nur Freunde und Feinde. Mir ist lieber, er hält uns für Freunde.«

»Du hast Angst vor ihm«, stellte Dea fest.

»Das ist es nicht ganz. Nicht Angst um mich – Angst um die ganze Welt!«

»Wie, zum Teufel, meinst du das nun wieder?«

Deas Gedanken kreisten in einem einzigen Taumel aus Wut und Verwirrung. Diese Geheimnistuerei brachte sie noch um den Verstand!

Goten zögerte, bevor er sich schließlich entschloss, ihr ein wenig mehr zu verraten. »Abakus ist nicht der, für den er sich ausgibt.«

»Sondern?«

»Er behauptet, Hexen und Dämonen zu jagen, aber das ist nicht die Wahrheit. Sicher, er sucht sie überall im Land – die echten Hexen, meine ich –, aber statt sie vor Gericht zu stellen, unterbreitet er ihnen ein Angebot.«

»So wie dir?«

»Ich bin kein Hexer. Aber, ja, auch mir hat er dieses Angebot gemacht. Er versucht, die Hexen – und mich – auf seine Seite zu ziehen. Auf die Seite des Arkanums.«

»Was ist das, ein … ein …?«

»Das Arkanum. Ein geheimer Bund der übelsten und grausamsten Hexen, die du dir vorstellen kannst. Abakus ist ihr Anführer. Als Hexenjäger verurteilt er nur Unschuldige. Die wahren Hexen aber überredet er, dem Arkanum beizutreten. Innerhalb weniger Wochen hat er seine Fühler in alle Richtungen ausgestreckt. Schon gibt es überall im Land Hexen, die ihm dienen.«

Dea war blass geworden. »Du hast zu ihm gesagt, du überlegst dir, ob du sein Angebot annimmst.«

»Glaubst du denn wirklich, das würde ich tun?«

»Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht.«

Seine Augen schienen sie anzuflehen. »Vertrau mir, Dea. Das ist das Wichtigste überhaupt. Du darfst nicht an mir zweifeln. Versprichst du mir das?«

»Ich …« Sie zögerte noch immer. »Ja … ja, ich versprech’s.«

»Gut.« Über den Tisch hinweg ergriff er ihre Hand und hielt sie fest zwischen seinen eiskalten Fingern. »Du bist meine Tochter, Dea. Und seit du bei mir bist, bist du für mich das Teuerste auf der Welt. Wir müssen immer zusammenhalten. Immer, verstehst du?«

»Ja.« Sie war zutiefst gerührt von seinen Worten. Und doch: Ganz weit hinten in ihrem Verstand regte sich immer noch eine Spur von Zweifel, ja, Misstrauen sogar. Sie verabscheute sich dafür, aber sie konnte nichts daran ändern.

»Und was geschieht weiter?«, fragte sie schließlich.

»Wir folgen Abakus«, sagte Goten mit gedämpfter Stimme. Es klang unheilvoll wie eine uralte Prophezeiung von Elend und Tod. »Wir folgen ihm mitten ins Zentrum seiner Macht.«