Wer ist Goten?

»Die Frau, die dich aufgezogen hat, ist nicht deine leibliche Mutter«, erklärte Goten, nachdem Dea ein wenig ruhiger geworden war.

Tausend Fragen brannten ihr auf der Zunge, aber sie schwieg, weil sie hoffte, der Hexenjäger – ihr Vater? – würde von sich aus alles erzählen. Außerdem hätte sie wahrscheinlich gar kein Wort herausbekommen.

»Deine wirkliche Mutter«, fuhr er fort, »war eine Nonne im Kloster Sankt Angela. Sie war noch sehr jung, damals, genau wie ich. Ich stand kurz vor meiner Weihe zum Priester, und ich … wir verliebten uns ineinander.« Das kurze Zögern, das seine Verlegenheit verriet, passte so gar nicht zu jemandem, der gerade einen Menschen und eine ganze Kirche verbrannt hatte. Dea dachte, dass Goten wahrhaftig voller Widersprüche steckte. Das machte ihn noch rätselhafter.

Goten blickte geradeaus auf den Waldweg. Leichter Schneefall hatte eingesetzt. Die Flocken verfingen sich im borstigen Fell des Pferderückens.

»Unsere Liebe musste geheim bleiben, und eine Zeit lang gelang es uns, dafür zu sorgen, dass niemand davon erfuhr. Dann aber wurde deine Mutter schwanger, und die ganze Sache wurde bekannt. Die Kirchenoberen schlugen mit aller Härte zu. Deine Mutter und ich wurden getrennt … Ich habe sie seit damals nicht mehr wieder gesehen.«

»Du weißt nicht, was aus ihr geworden ist?«, brachte Dea stockend hervor.

»Sie starb«, gab Goten zurück. »Schon vor vielen Jahren. Eine ihrer Vertrauten sandte mir eine Botschaft. Es war das Scharlachfieber.« Er machte eine lange Pause, so als fehlten ihm mit einem Mal die Worte. Dea wünschte sich, einen erneuten Blick unter die Kapuze werfen zu können. Ob Tränen in seinen Augen waren? Nein, unmöglich, nicht bei einem Mann wie ihm, ein Mann, der seine Gnadenlosigkeit und Härte an diesem Tag nur allzu deutlich gezeigt hatte.

Schließlich sprach Goten weiter. »Die Freundin deiner Mutter teilte mir mit, dass man dich gleich nach deiner Geburt von ihr fortgebracht hatte – nach Giebelstein. Dort hatte man eine Frau gefunden, die sich bereit erklärte, für dich zu sorgen. Der Ruf dieser Frau war augenscheinlich nicht der beste, aber vielleicht hielt man das nur für angebracht, denn in den Augen der Kirche warst du ein Kind, das eigentlich nicht hätte leben dürfen. Ein Wunder, dass sie dich nicht gleich im nächstbesten Brunnen ertränkt haben.«

Je länger er sprach, desto verbitterter klang seine Stimme. Schon die ganze Zeit über lag Dea eine Frage auf den Lippen, und nun konnte sie sie nicht länger zurückhalten.

»Sag, bei allem, was die Kirche dir angetan hat – warum stehst du dann noch immer in ihrem Dienst?«

Darauf schwieg er abermals eine ganze Weile, während Giebelstein immer weiter hinter ihnen zurückblieb. Der Schnee wurde stärker. Große, federleichte Flocken fielen lautlos, und bald reichte ihre Sicht kaum noch über den Kopf des Pferdes hinaus.

Als Dea schon längst nicht mehr mit einer Antwort rechnete, sagte Goten plötzlich: »Ich wollte der Kirche dienen, seit ich ein kleines Kind war. Es war mein Traum, den Menschen das Wort Gottes zu verkünden, sie von ihren Sünden zu befreien … gut zu ihnen zu sein. Doch nachdem« – er zögerte abermals –, »nachdem das mit deiner Mutter geschehen war, wollte die Kirche mich nicht mehr. Zumindest nicht so, wie ich es mir erträumt hatte. Man stellte mir frei, ihr auf andere Weise zu dienen. Nicht die Predigt sollte meine Aufgabe sein, sondern das Gericht und die Bestrafung. Keine Verzeihung sollte ich gewähren, sondern nur Tod und Verdammnis bringen, all jenen, die sich gegen Gottes Vertreter auf Erden wandten.« Sein Tonfall klang jetzt, als ekele er sich vor sich selbst. »Ich wurde zu Goten dem Grausamen. Der Schrecken aller Ungläubigen und Frevler.«

»Du hättest Nein sagen können«, wandte Dea leise ein.

Er schaute abrupt zu ihr herüber, mit Blicken so stechend wie Messerklingen. »Ich wurde geboren, dem Guten zu dienen. Das ist meine Berufung, meine Bestimmung. Und genau das tue ich, Tag für Tag, Jahr für Jahr. Ich diene der Macht des Himmels. Auf meine Weise.«

Dea verstand nicht wirklich, wie er all das meinte. Macht des Himmels? Nach wie vor begriff sie nicht, was ihn so eng an die Kirche kettete. Allerdings hielt sie es für klüger, im Augenblick nicht weiterzubohren. Sie wollte nicht, dass er wütend wurde.

Außerdem waren da andere Dinge, die sie beschäftigten.

Goten war ihr Vater! Das allein reichte, um sie völlig aus der Fassung zu bringen. Alle Gedanken, alle Eindrücke wurden in ihr wild durcheinander gewirbelt.

»Hat deine Amme gut für dich gesorgt?«, fragte Goten nach einer Weile.

Dea überlegte einen Moment. »Mutter war … ich meine, sie war immer da. Ja, ich glaube, sie hat gut für mich gesorgt. Aber ich hatte nie das Gefühl, dass sie mich lieb hat.« Sie zögerte. »Ist es grausam, so was zu sagen?«

»Was weißt du in deinem Alter schon über Liebe?«

»Und du?«, erwiderte sie scharf. »Deine Liebe ist seit vielen Jahren tot. Kannst du dich überhaupt noch erinnern, wie das war, jemanden gern zu haben?«

Gotens Gesicht erstarrte zu einer Maske, und Dea erkannte, dass sie zu weit gegangen war. Aber sie war zu stolz, ihn um Verzeihung zu bitten. Was bildete er sich auch ein, sie wie ein dummes kleines Kind zu behandeln?

Doch als der Hexenjäger wieder sprach, war es keine Beschimpfung oder Drohung. Seine Stimme klang ruhiger als zuvor, fast ein wenig traurig.

»Deine Amme hat dich mir zurückgegeben. Das Schicksal hat es so gewollt. Ich wusste immer, dass es eines Tages so kommen würde.«

Bist du denn froh darüber?, wollte sie fragen, verkniff sich die Worte dann aber lieber.

»Ich möchte, dass du bei mir bleibst«, fuhr Goten fort. »So lange du magst. Ich zwinge dich nicht dazu. Es ist deine Entscheidung.«

Sie dachte zurück an Giebelstein, an die anderen, die sie stets gemieden hatten. Sie dachte auch an ihre Mutter … ihre Amme. Ob sie Dea vermisste? Ob ihr schon Leid tat, was geschehen war? Ja, dachte Dea betrübt, sie wird traurig sein. Aber wahrscheinlich war sie der Meinung, dass sich so für Dea alles zum Besten wenden würde. Als Tochter eines mächtigen Mannes. Als Tochter eines gefürchteten Mannes.

Dea selbst fürchtete sich nicht mehr vor Goten, obgleich er ihr nach wie vor unheimlich war. Etwas verbarg er vor ihr, da war sie ganz sicher.

Goten schaute sie von der Seite an, musterte ihre Züge. »Du siehst nicht aus wie deine Mutter.«

»Nein, wie mein Vater«, erwiderte sie kühl. »Ich hab’s gleich gemerkt, als ich dein Gesicht gesehen hab.«

»Willst du bei mir bleiben? Als meine Schülerin?«

»Was kann ich bei dir lernen? Wie man Menschen verbrennt?«

»Du hast ein scharfes Mundwerk.«

»Darum kann mich auch keiner leiden.«

»Ich mag es, wenn jemand sagt, was er denkt.«

»So? Warum sprichst du dann Gericht über all jene, die offen auf die Kirche schimpfen?«

Selbst unter der weiten Kutte konnte sie sehen, dass Goten zusammenzuckte. Hatte sie einen wunden Punkt getroffen? Noch einen?

»Ich richte niemanden, der seine Ansichten frei vertritt«, sagte er schließlich.

»Da habe ich anderes gehört«, entgegnete Dea freiheraus. »Die Kirchengerichte verurteilen wahllos, wer von anderen beschuldigt wird. Und dabei geht es gar nicht um echte Gerechtigkeit. Unschuldig ist der, der die Gottesprobe besteht und heil durch ein loderndes Feuer gehen kann. Wenn du mich fragst, ist gerade das Hexerei!«

»Viele Gerichte richten nach diesem Maß«, stimmte Goten ihr zu. »Beinah alle, aber –«.

»Aber du bist natürlich anders«, fuhr sie ihm frech ins Wort.

»Ja.«

»Und wie darf ich das verstehen?«

»Ich diene nicht der Kirche. Ich diene der Kraft des Guten. Das ist der große Unterschied. Nicht der Papst gibt mir Befehle, sondern mein eigenes Gewissen, mein Verständnis von Gut und Böse.«

»Aber du bist ein Hexenjäger der Kirche!«

»Nur nach außen hin.«

»Aber das –«.

»Was?« Er lächelte im Schatten seiner Kapuze. »Willst du mir erzählen, dass dich das erschreckt? Ach, Dea … Wäre ich wirklich der, für den du mich hältst, hätte ich dann nicht als Erstes deine Amme verurteilen müssen? Ich weiß, dass sie nichts vom Christentum hält. Sie huldigt den alten Göttern des Waldes und des Wassers. In den Augen mancher ist sie deshalb eine Hexe. Dennoch würde ich ihr niemals ein Haar krümmen.« Er schwieg einen Moment, dann fügte er hinzu: »Stattdessen habe ich den fetten Händler bestraft.«

»Aber du bestrafst, weil du es für richtig hältst!«, entfuhr es Dea aufgeregt. »Für wen hältst du dich? Für Gott?«

»Nicht Gott, Dea. Es gibt keinen Gott. Nur Menschen, die in seinem Sinne handeln.«

Sie starrte ihn fassungslos an. »Du bist Priester! Wie kannst du da sagen, dass es keinen Gott gibt?«

»Weil ich schon lange den Glauben an ihn verloren habe.« Seine Lippen verzogen sich im Schatten zu einem schmalen Lächeln. »Ich hab dich gewarnt: Ich mag es, wenn jemand ausspricht, was er denkt.«

»Trotzdem – wie kannst du allein entscheiden, wer gut ist und wer böse?«

»War denn Ottwald für dich kein Schurke? Er wollte zusehen, wie ihr alle draußen vor der Kirche zu Grunde geht, während er drinnen in Sicherheit sitzt!«

»Niemand wäre zu Grunde gegangen«, entgegnete sie leise. »Unser Priester sagt, die Welt wird nicht untergehen.«

»Natürlich wird sie das nicht. Aber Ottwald war davon überzeugt. Darum geht es. Er wollte euch sterben lassen. Und du behauptest, er sei kein böser Mensch gewesen?«

»Auf jeden Fall darf sich keiner das Recht herausnehmen, ihn deshalb bei lebendigem Leibe zu verbrennen.«

»Er hätte nicht gezögert, euren Priester zu töten, wenn der Alte es darauf angelegt hätte.«

Dea ballte die Fäuste. Allmählich gingen ihr die Argumente aus. Sie wusste, dass Goten im Unrecht war. Aber wie sollte sie ihm das klarmachen? Und, viel wichtiger: Was würde das schon ändern? Gar nichts.

»Gut«, sagte sie mit einem Seufzen. »Lassen wir das.«

Goten lachte. »Wir werden noch genug Zeit haben, über diese Dinge zu sprechen. Ich merke schon, wie sehr es mir gefällt, dich bei mir zu haben.«

Dea sah ihn zweifelnd an. »Wirklich?«

Der Hexenjäger nickte. »Wirklich.«

Eine solche Woge von Freude fuhr durch ihren Körper, dass sie Mühe hatte, ihre Gefühle zu verbergen. Aber sie wollte nicht, dass Goten bemerkte, was in ihr vorging – schließlich musste sich erst erweisen, ob sie tatsächlich Freunde werden würden.

Freunde, dachte sie verwirrt – und das mit einem Mann, der ohne eine Regung einen Menschen getötet hatte. Liebe Güte, wie war sie nur in solch eine verzwickte Lage geschlittert?

»Was ist nun?«, fragte er bald darauf. »Willst du meine Schülerin sein? Meine Gehilfin?«

Sie tat, als überlege sie, aber in Wahrheit stand ihre Entscheidung längst fest.

»Ja.« Sie schloss die Augen, um dann, als sie die Lider wieder öffnete, eine Welt vor sich zu sehen, die nicht mehr die ihre war. Gewiss, der Wald war derselbe, ebenso der Schnee. Und doch war irgendwie alles anders. Sie konnte es fühlen.

Sie war jetzt ein Teil von Gotens Welt. Der Welt eines Hexenjägers.

Und plötzlich war ihr schrecklich kalt.