Unter Hexen

Der Schnee am Fuß des Festungswalls glich einem Schlachtfeld. Und doch deutete alles darauf hin, dass es keinen Kampf gegeben hatte. Keine Gegenwehr.

Die Kreatur, die Abakus heraufbeschworen hatte, war fort. Dort, wo sie sich aus Eis und Erdreich geformt hatte, klaffte ein zerfurchter Krater im Boden. An seinem Grund hatte sich etwas gesammelt, das nur auf den ersten Blick wie gewöhnliches Wasser aussah; die Flüssigkeit war fester und glitzerte silbrig.

»Wo … wo ist es?«, fragte Dea leise, während sie und Goten langsam das Schneefeld überquerten, geradewegs auf das Tor der Festung zu. Noch war niemand auf den Zinnen erschienen, aber beide zweifelten nicht, dass Abakus längst über ihre Ankunft Bescheid wusste.

Goten deutete auf den glitzernden Schleim unten im Krater. »Das ist alles, was von dem Wesen übrig geblieben ist. Es wurde nur zu einem einzigen Zweck heraufbeschworen, und den hat es erfüllt.«

Verstreut im Schnee gab es Spuren dessen, was die Bestie den Nordmännern angetan hatte. Dea bezweifelte, dass einem von ihnen die Flucht gelungen war.

»Was erwartet uns da drinnen?«, fragte sie und deutete auf das hohe Tor der Festungsruine.

»Das Böse«, erwiderte Goten knapp. Mehr nicht.

Am Fuß des hohen Eichenportals blieben sie stehen. Die Doppelflügel waren geschlossen. Aus dem Inneren drang kein Laut ins Freie.

Goten legte den Kopf in den Nacken und schaute zum Zinnenkranz der Mauern empor.

»Abakus!«, rief er, so laut er konnte.

Eine Weile lang geschah nichts. Nur das Echo von Gotens eigener Stimme antwortete ihnen aus der Weite des Tals, hallte verzerrt von den Berghängen wider wie das verzweifelte Jammern ruheloser Geister.

Ein hohes Kreischen ertönte, aber es war keine Stimme, sondern das Quietschen der mächtigen Torflügel. Unter lautem Knirschen schwang einer ein Stück weit nach innen. Der entstandene Spalt war dunkel und leer.

Dea biss die Zähne zusammen und wollte eintreten, doch Goten legte ihr eine Hand auf die Schulter und hielt sie zurück. Mit einem angedeuteten Kopfschütteln gab er ihr zu verstehen, dass sie noch nicht hineingehen sollte – und schon gar nicht als Erste.

»Abakus!«, brüllte er noch einmal an dem schwarzen Steinwall hinauf. »Ist dies vielleicht das herzliche Willkommen, das du mir versprochen hast?« Nach einer Pause fuhr er fort: »Erst zwingst du mich dazu, durch die Überreste dieser Barbaren zu stapfen, und dann höre ich nicht einmal ein freundliches Wort?«

Die Schatten in dem dunklen Torspalt nahmen schlagartig Form an, als eine Gestalt in schwarzen Gewändern ins Freie trat und nur einen Schritt vor Dea und Goten stehen blieb.

Dea fand, dass Abakus älter aussah als noch vor wenigen Tagen. Täuschte sie sich, oder ging er leicht vornübergebeugt? Tatsächlich wurde im selben Moment zwischen den Falten seines Gewandes ein Gehstock sichtbar, auf den er sich mit der Linken stützte.

»Verzeih mir meine Unfreundlichkeit«, wandte er sich an Goten. Seine Stimme klang heiser. »Ich konnte nicht schneller hier sein. Die Treppen haben mir … Schwierigkeiten bereitet.«

»Du siehst nicht gut aus«, sagte Goten freiheraus, ergriff Abakus’ Hand und schüttelte sie herzlich. Dea konnte ein Schaudern nicht unterdrücken, als sie die freundschaftliche Geste zwischen den beiden mit ansah. Abakus mochte noch so geschwächt wirken; sie konnte nicht vergessen, was er getan hatte – und auf welche Weise.

»Es war ein anstrengender Tag«, wich Abakus aus.

»Wir haben gesehen, was du vollbracht hast«, entgegnete Goten. »Recht eindrucksvoll, nicht wahr?« Aber er wartete nicht auf eine Antwort, sondern drehte sich um und zog sich durch den Türspalt zurück ins Innere der Festung.

Goten nickte Dea kurz zu, dann folgte er dem Hexenmeister. Dea ging als Letzte hinterher. Hinter ihrem Rücken schloss sich das Portal wie von Geisterhand.

Als sie sich umschaute, erkannte sie, dass sie durch eine weite Halle gingen, deren Decke von breiten Steinsäulen gestützt wurde.

»Teile dieser Festung stammen noch von den Römern«, erklärte Abakus, während er vorausging. »Die Teile, die sie aus Holz errichtet haben, wurden später aus Stein neu gebaut. Aber diese Halle und ein paar andere Winkel der Festung sehen wohl noch genauso aus wie vor tausend Jahren.«

Dea hatte nicht die geringste Ahnung, wer die Römer waren, aber sie sah, dass Goten schweigend nickte. Sie würde ihn später fragen, was es damit auf sich hatte.

Abakus führte sie aus der Halle über einen verschneiten Innenhof in ein weiteres Gebäude. Dort betraten sie schließlich einen Saal, in dessen Mitte eine gewaltige Tafel aus rissigem Holz stand. Daran saßen sechs Frauen in dunklen Gewändern. Die Kleider waren aufwändig und exotisch geschneidert, anders als alles, was Dea je zuvor gesehen hatte.

Die Blicke der Frauen musterten erst Goten und blieben schließlich an Dea hängen. Hexenaugen!, durchfuhr es sie, und sie fragte sich mit einem Schaudern, ob die Frauen ihr vielleicht gerade ihren Willen raubten, ohne dass sie es merkte.

Abakus nahm auf einem erhöhten Stuhl am Ende der Tafel Platz und sah Goten eingehend an.

»Ich spüre, wie meine Kräfte zurückkehren«, sagte er und legte den Gehstock vor sich auf den Tisch. »Spätestens morgen früh bin ich wieder der Alte. Nun, Goten, du hast es dir also überlegt?«

»Ja.«

»Das heißt, du willst mein Angebot annehmen?«

»Das will ich gern«, erwiderte Goten zu Deas Schrecken. Aber sie ahnte, dass er irgendeine raffinierte List einfädelte. »Unter einer Bedingung.«

Abakus hob eine Augenbraue, und ein Raunen ging durch die Reihe der Hexen. »Welche wäre das?«, fragte der oberste Hexenmeister.

»Ich will, dass meine Tochter bei mir bleiben kann. Und mehr noch: Ich will, dass deine Hexen sie in der schwarzen Kunst unterrichten und sie zu einer der ihren machen. Du weißt, dass sie das Talent dazu hat.«

Dea traute ihren Ohren nicht. Sie – eine Hexe? Aber das konnte er doch nicht von ihr verlangen! Das nicht!

Abakus blickte von Goten zu Dea und musterte sie. »Talent hast du, das ist wohl wahr. Die Tatsache, dass du den Dämon auf dem Marktplatz durchschaut hast, beweist, dass mehr in dir steckt, als es von außen den Anschein hat. Du bist kein gewöhnliches Mädchen. Ganz gewiss nicht.« Er lächelte, aber es sah keineswegs freundlich aus.

»Und die Prophezeiung des Dämons über deine weitere Zukunft lässt natürlich hoffen. Leid und Elend müssen die ständigen Begleiter einer Hexe sein, denn nur dann ist sie so ganz nach meinem Geschmack.« Er schaute mit einem verschlagenen Grinsen in die Runde der Hexen. »Nicht wahr?«

Die sechs Frauen nickten eifrig und kicherten.

Wieder wandte er sich an Dea. »Diese sechs sind die mächtigsten Hexen weit und breit, vielleicht auf der ganzen Welt. Wenn sie dich ausbilden, wirst du eine von ihnen werden. Und wie sie wirst du mir bedingungslos gehorchen. Willst du das tun?«

Sie spürte sich selbst nicken, brachte aber kein Wort heraus. Verstohlen schaute sie zu ihrem Vater hinüber, doch er blickte starr an ihr vorbei auf Abakus, so als fürchtete er sich vor dem stummen Vorwurf in ihren Augen.

»Ja«, krächzte sie schließlich. »Ja, das will ich tun.« Und sie hoffte bei Gott, dass dies alles tatsächlich ein Bestandteil von Gotens Plan war, Abakus’ Hexenbund zu zerschlagen. Unheilvoll erinnerte sie sich an die Zweifel, die ihr gekommen waren, als Goten ihr zum ersten Mal von seinem Vorhaben erzählt hatte. Er war ihr Vater, gewiss. Aber was, wenn er sie hereingelegt hatte? Wenn er selbst ein Hexer wie Abakus werden wollte und sich deshalb dem Arkanum anschloss? Schließlich musste Abakus irgendetwas in ihm gesehen haben, etwas Besonderes, sonst hätte er ihm wohl kaum das Angebot gemacht, Mitglied des Bundes zu werden – zumal das Arkanum neben Abakus nur aus Frauen zu bestehen schien.

Aber, nein, ihr Vater war auf der Seite des Guten, und in Wahrheit wusste sie das ganz genau. Ob es dieser verfluchte Ort war, der ihr solche Gedanken eingab? Durchsetzte sie der Einfluss des Arkanums schon nach so kurzer Zeit mit der Essenz des Bösen, mit Zweifel und Verschlagenheit?

»Goten«, sagte Abakus, »wir haben viel zu bereden. Bleib hier bei mir, und setz dich.« Er gab den Hexen einen herrischen Wink. »Und ihr nehmt euch der Kleinen an. Verschwindet mit ihr, und lehrt sie eure Kunst.« Er brach in schallendes Gelächter aus, bis es Dea in den Ohren schmerzte. Dennoch wäre sie lieber hier bei Goten geblieben, als mit den Hexen fortgehen zu müssen. Angst krallte sich um ihr Herz und raubte ihr fast den Atem. Sie würde mit den sechs schrecklichen Frauen allein sein. Niemand war da, der ihr Ratschläge geben oder sie im Notfall gar beschützen könnte. Sie war auf sich allein gestellt.

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