Dea frohlockte – sie hatte also Recht behalten. Abakus’ Festung lag versteckt zwischen zwei hohen Berghängen, Der Schnee am Boden des Hohlwegs war von zahllosen Füßen aufgewühlt. Tief hängende Äste waren umgeknickt, dickere Zweige sogar mit Axthieben von den Stämmen abgespalten. Vom Grund des Tals wehte ihnen der Geruch von verbranntem Holz entgegen.

Goten schwang sich vom Kutschbock. »Du bleibst hier beim Pferd und dem Wagen«, flüsterte er Dea zu. »Ich werd mich dort unten mal umschauen.«»Ich will mitkommen!«

»Kommt gar nicht in Frage.«

Dea sprang ungeachtet seiner Worte vom Karren und landete im zertrampelten Schnee. »Wie willst du mich denn daran hindern?«

Er funkelte sie böse an. Seine Augen schienen im dunklen Ausschnitt der Kapuze zu leuchten wie die eines Raubtiers. »Du bist frech, fordernd und undankbar!«

»Und du hast viel zu viel Angst um mich«, gab sie stur zurück. »Ich kann schon ganz gut allein auf mich aufpassen.«

Goten blieb einen weiteren Augenblick stehen, reglos und lauernd, dann drehte er sich rasch um und eilte den Hohlweg hinunter. »Führ das Pferd und den Wagen zwischen die Bäume. Dann komm leise hinter mir her. Und bring mein Schwert mit!«

Rasch tat sie, was er gesagt hatte, dann rannte sie mit der Waffe in den Händen durch den Schnee, bis sie ihn eingeholt hatte. Die Kälte biss durch ihre Fellkleidung, dennoch fror sie nicht. Sie war viel zu aufgeregt. Die Furcht, die sie eben noch beim Gedanken an die grausamen Nordleute verspürt hatte, verging mit jedem Schritt ein wenig mehr. Dea spürte sie noch in ihrem Bauch, aber zumindest konnte sie jetzt wieder klar und vernünftig denken. Wenn sie nicht zu nah an die Nordmänner herangingen, würde schon nichts passieren; die fremden Krieger würden genug mit ihrer Belagerung zu tun haben und wohl kaum nach einem einzelnen Mann und einem Mädchen Ausschau halten. Hoffte sie wenigstens.

Sie kamen an eine Stelle, wo das Gelände steiler abfiel. Von hier aus konnten sie über den verschneiten Wipfeln der tiefer gelegenen Bäume erkennen, was sich unten im Tal abspielte.

Goten hatte sich geirrt. Es mussten mindestens zwanzig Feuer sein, die das Treiben erhellten. Sie waren ringförmig um die Überreste einer einstmals mächtigen Festung platziert, von deren Stärke immer noch hohe Mauern und dicke, zinnenbewehrte Türme zeugten. Vielleicht lag es nur an der Dunkelheit, aber Dea kam das Gestein ungewöhnlich finster vor, beinah schwarz. Falls nicht die Bösartigkeit des Arkanums die Mauern durchtränkt hatte, musste das gesamte Bauwerk irgendwann einmal Opfer eines Brandes geworden sein.

Zwischen den Feuern, etwa einen Speerwurf von der Festung entfernt, wimmelten dunkle Silhouetten umher. Es waren nicht so viele Nordmänner, wie Dea befürchtet hatte, zumindest soweit sie dies von hier aus erkennen konnte. Dreißig, schätzte sie, allerhöchstens vierzig. Freilich waren auch das immer noch viel zu viele, um einfach zwischen ihnen hindurch zur Festung zu spazieren. Und wollten sie das denn überhaupt?

Goten hatte ihr nicht erzählt, wie er vorzugehen gedachte. Sicher, er wollte Abakus davon abhalten, das Arkanum noch größer und mächtiger zu machen. Aber wie sollten sie das verhindern? Zumal doch Abakus ein größenwahnsinniger Hexenmeister war, der sogar Vögel in tödliche Pfeile verwandeln konnte. Und wer wusste schon, was er noch alles auf Lager hatte.

»Die Nordmänner müssen hier aufgetaucht sein, kurz nachdem Abakus angekommen ist«, stellte Goten fest.

»Vielleicht sind sie ihm gefolgt.«

»So viele? Nein, das hätte er bemerkt. Wahrscheinlich war es nur ein dummer Zufall, dass sie ausgerechnet über diesen Ort gestolpert sind. Nicht einmal Abakus und seine Hexen sind gefeit gegen das Schicksal.«

»Gehen wir näher ran?«

»Wir?«, wiederholte Goten.

»Ach, komm schon …«, flüsterte Dea. »Ich kann dir helfen. Wirklich.«

Er überlegte einen Moment, dann nickte er.

»Einverstanden. Vielleicht ist das eine ganz gute Vorbereitung.« Damit lief er ein Stück nach links und eilte abseits des Weges den Hang hinunter. Dea folgte ihm.

Vorbereitung? Wie hatte er das nun wieder gemeint? Vorbereitung worauf? Und überhaupt: Das klang nicht, als würde ihm die Lage allzu großes Kopfzerbrechen bereiten.

Erneut holte sie auf und schlitterte an der Seite ihres Vaters den zugeschneiten Waldhang hinunter. Immer wieder stolperten sie über Wurzelstränge, die unter dem Eis verborgen lagen, oder sie mussten tückische Löcher umgehen, die sich nur schwach unter der Schneedecke abzeichneten.

»Kann Abakus die Nordmänner nicht einfach … hm, irgendwie weghexen?«, fragte sie im Flüsterton.

»Wer weiß«, murmelte Goten verbissen. »Um ehrlich zu sein, wäre es mir lieber, er könnte es nicht.«

»Weil die Nordmänner dir die Arbeit abnehmen?«

»Nein«, entgegnete er ernsthaft, »weil er sonst das Gleiche mit uns tun könnte. Oder mit jedem anderen lebenden Wesen.«

Darauf gab es nichts zu erwidern, und so schwiegen sie, bis das Licht der Feuer in einiger Entfernung vor ihnen durch die Baumstämme schien.

»Von jetzt an müssen wir vorsichtiger sein«, sagte Goten. »Sie haben sicher Wachen aufgestellt.«

Gebückt schlichen sie weiter. Dea hatte ihren alten Dolch unter ihrem Fellwams hervorgezogen und hielt ihn in der Hand, als wäre er die gefährlichste Waffe der Welt. Obwohl die Klinge stumpf und auch ein wenig rostig war, machte ihr der lederumwickelte Griff in ihrer Hand Mut. In diesem Moment hatte sie das Gefühl, als könnte sie es mit drei Nordmännern gleichzeitig aufnehmen.

Diese Vorstellung löste sich freilich in Wohlgefallen auf, als sie den ersten ihrer Feinde aus der Nähe sah.

Noch nie hatte sie einen so großen Mann gesehen. Gewiss, auch Goten war hoch gewachsen, doch der Nordlandkrieger überragte ihn um mehr als eine Haupteslänge. Er stand an einem der äußeren Feuer, in buschige Felle gehüllt, und stützte sich auf eine Lanze, die Dea allein wahrscheinlich nicht einmal hätte anheben können. Er hatte ihnen die linke Gesichtshälfte zugewandt und schien im Stehen zu schlafen. Er trug einen Helm mit zwei gewaltigen Hörnern, und sein feuerroter Bart war buschig und reichte ihm bis auf die Brust. Seine Arme schmückten stahlbesetzte Reife aus Leder, und das Schwert, das vor ihm im Schnee stak, war so breit wie Deas Oberschenkel.

Der Nordmann war allein am Feuer. Offenbar hatte er den Befehl, diesen Abschnitt des Waldrands zu bewachen. Vielleicht hätte es Goten sogar gelingen können, ihn im Schlaf zu überrumpeln – wären da nicht all die anderen Krieger gewesen, die etwa zwanzig Schritt entfernt standen und einen Angriff gegen den schwarzen Festungswall zu planen schienen. Die Flammen der Lagerfeuer warfen schimmernde Muster über ihre Kettenhemden und Schuppenpanzer. Beinahe jeder von ihnen trug einen gehörnten Helm über dem bärtigen Gesicht. Dea verstand jetzt, warum die Köhler sie für Dämonen gehalten hatten – und dabei hatte sie die Nordmänner noch nicht einmal während ihrer gefürchteten Kampfwut erlebt! Wenn sie erst zu Berserkern wurden, würden ihren Äxten, Schwertern und Kriegshämmern nicht einmal die alten Festungsmauern widerstehen können.

»Schau!«, flüsterte Goten Dea ins Ohr und deutete mit einem Kopfnicken zum Zinnenkranz der Hexenfestung.

Dort oben war eine einsame Gestalt erschienen, hatte beide Arme erhoben und den Kopf in den Nacken gelegt. Weite schwarze Gewänder flatterten im eisigen Nachtwind.

»Ist das Abakus?«, wisperte Dea fast lautlos. Der schlafende Wachtposten stand etwa zehn Schritte von ihnen entfernt und rührte sich nicht; dennoch wollte sie es nicht darauf anlegen, ihn zu wecken.

Goten gab keine Antwort. Sein Schweigen war Bestätigung genug.

»Was tut er?«, fragte Dea.

»Sieht aus wie eine Beschwörung.«

»Und was beschwört er?«

Gotens Blick traf sie kühl wie der Nordwind.

»Dea, ich hab dich sehr lieb … Aber, bitte, halt für einen Augenblick den Mund!«

Schmollend wandte sie sich von ihm ab und schaute wieder zu den Zinnen empor. Abakus stand unverändert da. Doch jetzt schien es plötzlich, als flimmere die Luft zwischen seinen erhobenen Händen wie von großer Hitze. Ja, genauso sah es aus: wie das Flirren über den Flammen eines Lagerfeuers.

Im nächsten Moment nahm das Flimmern einen rötlichen Farbton an, wurde heller und heller – und erlosch auf einen Schlag.

Dea stieß scharf die Luft zwischen den Zähnen aus. Was war geschehen? Sie hatte erwartet, dass magische Flammen aus Abakus’ Händen nach den Nordlandkriegern lecken und sie in Asche verwandeln würden. Oder dass Fangarme aus purem Zauber sie packen und zerquetschen würden. Irgendetwas, das Abakus’ Ruf als mächtigem Hexer gerecht werden würde.

Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen verharrte Abakus einfach nur regungslos auf dem Turm.

»Was soll das denn?«, flüsterte Dea irritiert.

Goten legte den Zeigefinger an die Lippen und bedeutete ihr, still zu sein. Der Wächter am Feuer war erwacht und blickte jetzt ebenso wie seine Brüder hinauf zu den Zinnen. Offenbar fragten sich alle, was eigentlich geschehen war.

Dea runzelte die Stirn. »Ist ihm sein Zauber nicht gelungen?«

Ihr Vater seufzte. »Was muss eigentlich passieren, damit du endlich ruhig bist?«

»Jemand müsste mir erklären, was hier vorgeht«, gab sie giftig zurück.

Der nahe Wächter war viel zu verwirrt von Abakus’ sonderbarem Auftritt, als dass er die beiden Beobachter am Waldrand bemerkt hätte. Dea fürchtete ihn nicht, solange er in eine andere Richtung blickte.

Goten atmete tief durch. »Das war kein misslungener Zauber«, wisperte er. »Vielleicht will er, dass die Nordmänner das glauben. Mag sein, dass er vorhatte, sie zu verwirren.«

»Wenn Abakus so gefährlich ist, wie du sagst, gibt er sich doch wohl kaum mit ein paar Kunststücken zufrieden.«

»Nein. Wahrscheinlich nicht.«

Der Wächter löste sich vom Feuer und ging zu den übrigen Kriegern hinüber. Auch er wollte wissen, was dort oben geschehen war.

Dea zitterte. Mit einem Mal begann sie, erbärmlich zu frieren. Der Wind, der von den schneebedeckten Berghängen in das enge Tal herabwehte, schien plötzlich kälter zu werden.

Auch Goten hatte es bemerkt. »Spürst du das auch?«

»Es ist kühler geworden.«

Er nickte. »Aber so plötzlich?«

Sie starrten einander an, und in beider Augen keimte Begreifen.

Ihre Blicke flogen zurück in Richtung Festung. Einige der Nordlandkrieger hatten die Hände vor ihren Mündern zu Höhlen geformt und bliesen warmen Atem hinein; andere rieben sich frierend die Oberarme. Und das, obwohl sie Frost doch gewohnt sein mussten.

»Dort, wo sie stehen, scheint es noch kälter zu sein als hier bei uns«, knurrte Goten. Die Worte nahmen als weißer Dunst vor seinem Gesicht Gestalt an.

»Das, was Abakus zwischen seinen Händen hatte, sah doch aus wie … wie Hitze«, meinte Dea.

»Glaubst du, er hat …«

»Er hat der Luft den Rest von Wärme entzogen? Ja, das könnte sein.«

»Aber warum?«

Goten hob die Schultern. »Ich hab das ungute Gefühl, dass wir gleich die Antwort darauf bekommen werden.«

Sie mussten nicht lange warten, bis sich seine Vermutung bestätigte. Doch als es so weit war, traf die Art und Weise, wie es geschah, sie dennoch vollkommen unvorbereitet.

Die Stelle, an der die drei Dutzend Nordmänner beieinander standen, schien mit einem Mal so unerträglich kalt zu werden, dass die Krieger wie eine Herde erschrockener Schafe auseinander stoben. Lediglich zwei von ihnen, die im Zentrum der Gruppe gestanden hatten, rührten sich nicht von der Stelle. Ihre Felle und Panzer waren mit einer Eisschicht überzogen. Der eine versuchte noch, sich zu bewegen, und tatsächlich bekam die weiße Kruste an seinen Gelenken Risse – dann aber erstarrte er völlig und regte sich nicht mehr. Sogar seine Augen schienen zu gefrieren, denn sie hörten schlagartig auf, in ihren Höhlen zu zucken. Sein Gesicht verharrte in einer Grimasse grenzenloser Panik. Er sah jetzt aus wie eine barbarische Statue, die ein Künstler aus einem Eisblock gehauen hatte.

Doch falls irgendwer geglaubt hatte, dass Abakus’ Zauber seine Gegner zu Eis gefrieren ließ, so sah er sich bald darauf getäuscht.

Denn es kam noch schlimmer. Viel schlimmer.

Ein Knirschen ertönte, als unter den beiden erstarrten Nordlandkriegern ein gezackter Riss durch den Schnee lief. Der Boden wölbte sich empor und öffnete sich entlang des zackigen Spalts. Doch was im ersten Moment aussah wie eine Öffnung im Erdreich, entpuppte sich als Schlund einer riesenhaften Bestie aus Eis und Schnee! Die Schneezacken wurden zu Fangzähnen, jeder so groß wie ein Kind, und aus dem dunklen Rachen wirbelte eine gewaltige Zunge aus funkelnden Eiskristallen, schlängelte sich um die beiden Männer und riss sie hinab in den Abgrund. Derweil wuchs die Wölbung im Boden immer höher, bis sie die Gestalt eines mächtigen Schädels annahm, gefolgt von einem monströsen Leib, aus dem Stacheln und Klingen aus Eis wucherten.

Dea spürte, wie sie von Goten nach hinten gerissen wurde, tiefer zwischen die Bäume, fort von dem Inferno aus aufstiebenden Eiswolken, dem wahnsinnigen Kreischen der Kreatur und den Schreien der Nordlandkrieger.

Die Bäume verdeckten Deas Sicht, aber sie musste nicht zusehen, um zu wissen, was geschah. Die Laute, die sie hörte, reichten aus, ihr Bilder der Tragödie vor Augen zu führen. Goten hielt sie fest in seinen Armen und blickte über ihre Schulter hinweg zurück zur Festung. Sie konnte fühlen, dass sein Körper starr und verkrampft war, wie versteinert vor Entsetzen über das, was Abakus mit einer einzigen Beschwörung in die Welt geboren hatte.

 

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