Echte und falsche Dämonen

»Verdammt!«, fluchte Goten zwei Tage später. »Wir haben Abakus’ Spur verloren.«

Er brachte den Karren an einem verschneiten Kreuzweg zum Stehen. Ein Schwarm Krähen erhob sich aus den Zweigen und stob zum grauen Himmel empor. Das Ross schnaubte in seinem Zaumzeug und scharrte mit einem Huf im Schnee.

»Ich hab mich schon die ganze Zeit gefragt, wie du die Spuren seines Pferdes von denen der anderen Reisenden unterscheiden kannst.«

»Das kann ich gar nicht«, gab Goten zurück. »Ich kann Abakus … spüren.«

Dea starrte ihn mit großen Augen an. »Kann man so was lernen?«

Ihr Vater zuckte die Achseln. »Ich fühle ihn einfach. Das kennst du doch auch, oder? Eigentlich sieht man niemanden, aber plötzlich weiß man, dass da jemand hinter einem steht. Das ist so ähnlich wie mit mir und Abakus. Wahrscheinlich geht es ihm genauso. Deshalb wusste er auch, dass wir auf der Straße hinter ihm waren.«

»Dann weiß er auch, dass wir ihm immer noch folgen?«

»Ich hoffe, er hat ein paar wichtigere Sachen im Kopf, die ihn von uns ablenken.«

Dea verzog das Gesicht. »Klingt beruhigend.«

Goten sprang vom Kutschbock und stapfte durch den Schnee zur Mitte der Kreuzung. Dort schaute er sich aufmerksam um. Die Wege, die sich hier trafen, führten alle tiefer in die Wälder. Im Osten wurde das Land hügeliger, um in einiger Entfernung in schroffe Berge überzugehen. Ihre Gipfel verschwanden in der dichten Wolkendecke.

»Sein Vorsprung ist zu groß«, meinte Goten, als er zu Dea zurückkam. »Zuletzt muss er uns drei Tage voraus gewesen sein.«

»Aber ich dachte, du weißt, wo er hinwill.«

Goten nickte. »Er und seine engsten Dienerinnen haben ein Versteck, in dem sie sich treffen und einander von ihren neuesten Schandtaten berichten. Es kann nicht weit von hier sein.«

»Was ist es? Ein Haus? Eine Höhle?«

»Denkst du wirklich, Abakus würde sich in einer feuchten Höhle verkriechen, wo Wurzeln von der Decke hängen und man bis zu den Knöcheln in irgendwelchen Pfützen steht?«

Dea verdrehte die Augen. »War ja nur ein Vorschlag.«

»Es muss eine Burg sein. Eine alte Festung. Vielleicht eine, die unbewohnt war, bis Abakus kam, und deshalb auf keiner Karte verzeichnet ist.«

»Wir hätten im letzten Gasthaus danach fragen sollen.«

Goten lächelte. »Das hab ich getan.«

»Und?«

»Der Wirt hat gesagt, es gäbe eine alte Ruine hier in der Gegend. Sie hat weder einen Namen noch irgendeinen Besitzer.«

»Und wo finden wir die?«, fragte Dea aufgeregt.

»Der Wirt meinte, immer der Nase nach«, brummte Goten unwirsch. » ,Ihr könnt sie gar nicht verfehlen’, hat er gesagt. ,Ihr werdet sie schon finden.’«

Dea seufzte. »Wahrscheinlich kommt er nicht oft aus seinem Wirtshaus heraus.«

»Auf jeden Fall hat er nichts von einem Kreuzweg erwähnt.«

Goten blickte sich noch einmal um, dann trieb er das Pferd an und lenkte es in den Weg zur Linken. Nach Osten, auf die Berge zu.

»Wieso glaubst du, dass das der richtige Weg ist?«, wollte Dea wissen.

»Festungen liegen meist auf Bergen.«

»So was nennt man Glücksspiel.«

»Wenn das hochwohlgeborene Fräulein einen besseren Einfall hat, würde ich ihn gerne hören«, knurrte Goten.

»Ich glaube ja auch, dass das hier die richtige Richtung ist«, erwiderte sie. »Aber nicht, weil die Festung irgendwo auf einem Felsen liegt. Das wäre doch viel zu offensichtlich. Jeder könnte schon von weitem sehen, dass dort Feuer brennen oder Menschen ein und aus gehen. Nein, ich schätze eher, die Ruine liegt in einem Tal. Völlig versteckt von der Außenwelt.«

Goten öffnete den Mund – zweifellos um ihr zu widersprechen –, schloss ihn dann aber wieder. Dea sah ihm an, dass er überlegte, ob sie nicht vielleicht doch Recht hatte, auch wenn er es niemals zugegeben hätte. Das machte sie mächtig stolz. Außerdem war sie überzeugt, dass sie diesmal den richtigen Riecher hatte.

Er wird noch froh sein, mich dabeizuhaben, dachte sie ziemlich unbescheiden.

Den ganzen restlichen Tag lang folgten sie dem Weg, bis der Karren zwischen schneebedeckten Waldhängen immer stärker hin und her schlitterte und der Himmel sich allmählich dunkel färbte. Die Dämmerung schob sich wie ein Schwarm Fledermäuse über das Land, und bald funkelten die ersten leuchtenden Augenpaare im Dunkel zwischen den Bäumen. Nachtjäger machten sich bereit für ihren Beutezug.

Plötzlich zerrte Goten an den Zügeln. Der Karren blieb stehen.

»Was ist?«, flüsterte Dea alarmiert.

»Still!«, fauchte er aus dem Schatten seiner Kapuze.

Angestrengt horchte sie in die Finsternis der Wälder. Oben in den Bergen schrie ein Adler. Etwas anderes hörte sie nicht. Als sie sich umschaute, fiel es ihr schwer, die nächsten Bäume im Halblicht des Abends zu erkennen, geschweige denn irgendetwas oder jemanden, der dahinter stehen mochte.

»Da ist nichts.«

»Horch – da!« Goten hob eine Hand, als könnte er damit sogar das Rauschen der Wälder verstummen lassen.

Doch das war gar nicht mehr nötig. Denn diesmal hörte Dea, was er meinte.

Gesang. Wildes Singen aus zahlreichen Kehlen.

Der Wind trieb die Laute von Osten heran, bei jeder Böe ein wenig lauter und deutlicher. Worte in einer fremden, kehligen Sprache. In der Dunkelheit klangen sie noch unheimlicher, noch bedrohlicher als bei Tageslicht. Doch selbst bei Sonnenschein hätte es Dea angesichts dieser Gesänge vorgezogen, auf der Stelle umzukehren.

»Sind das die Nordmänner?«, fragte sie tonlos.

Goten spähte angestrengt nach vorne. Der Weg machte gleich vor ihnen eine Biegung nach rechts, sodass nicht das Geringste zu erkennen war.

»Das ist keine Sprache, die ich kenne«, flüsterte er zurück. »Das müssen sie sein.«

Dea wurde schlagartig schlecht. »Kommen die etwa auf uns zu?«

»Nein. Sie sind nicht auf dem Weg. Sie müssen irgendwo im Wald sein, noch ein ganzes Stück entfernt.« Goten ließ die Zügel locker. Das Pferd trabte langsam vorwärts.

»Du willst doch wohl nicht weiter in diese Richtung?« Dea spürte, dass ihre Knie zitterten, und das lag nicht nur an der Kälte.

»Wir haben doch vor, Abakus zu finden, oder? Und wer sagt denn, dass da, wo die Nordmänner sind, nicht auch er ist?«

»Du meinst, die stecken alle unter einer Decke?«

»Abakus und die Nordmänner? Oh nein, bestimmt nicht! Trotzdem …« Mehr sagte er nicht, wie es so seine Art war, und in jeder anderen Lage hätte Dea ihn dafür würgen mögen. Verprügeln. An seinen Haaren ziehen. Und noch Schlimmeres. Jetzt aber war sie viel zu froh, dass er bei ihr war.

Der Karren bog um die Kurve, und da sahen sie erstmals etwas, das ihnen mehr über den genauen Aufenthaltsort der Nordleute verriet.

Drei, vier Bogenschussweiten entfernt lag ein goldener Schimmer über den Baumwipfeln. Feuerschein!

»Ist das der Wald, der da brennt?«, fragte Dea.

Goten verneinte. »Das sind nur kleine Feuer, mindestens ein halbes Dutzend, schätze ich. Eher aber wird es die doppelte Zahl sein.«

»Zwölf Feuer?«, entfuhr es ihr erschrocken. »Aber dann … dann müssen es mindestens sechzig oder siebzig Männer sein!«

»Das kommt drauf an, ob es Lagerfeuer sind – oder Belagerungsfeuer!«

Vor Aufregung brauchte sie einen Augenblick, ehe ihr der Unterschied klar wurde. »Aber was sollten sie denn belagern? Ich denke, hier draußen gibt es keine Höfe?«

»Das ist die große Frage, nicht wahr?« Er lächelte verbissen, und da begriff sie endlich, was er meinte.

»Abakus’ Festung!«, zischte Dea zwischen den Zähnen und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Sie belagern den großen Abakus persönlich!«

»Sieht ganz danach aus.«

Sie kamen an eine schmale Abzweigung. Ein überwucherter Hohlweg führt durch das Tal, über dessen Wipfeln der Feuerschein waberte.

 

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