Der Teufelsprediger

Fast vier Wochen vergingen, ehe Dea einen Vorgeschmack auf das erhielt, was ihr an der Seite Gotens noch bevorstehen sollte.

Vier Wochen – früher hätte ihr das nicht das Geringste bedeutet. In Giebelstein hatte es keine Kalender gegeben; man fand sie lediglich in Klöstern und an Königshöfen. Durchreisende Mönche und andere heilige Männer verkündeten den Dörflern, in welchem Jahr und welchem Mond die Welt sich gerade befand. Den meisten Giebelsteinern war das vollkommen gleichgültig, sie teilten ihr Dasein nach guten und schlechten Ernten ein. Erst als bekannt wurde, dass das Jahr 999 nach Christi Geburt angebrochen sei, waren die Ersten hellhörig geworden und hatten ein vages Interesse an dem rätselhaften Ding namens »Kalender« entwickelt. Doch selbst da war niemals von Wochen die Rede gewesen oder gar von den Namen der einzelnen Tage. All das lernte Dea erst von Goten. Er gab sich große Mühe, sie zu Gelehrsamkeit und Wissbegier zu erziehen, und sie musste sich eingestehen, dass ihr das Lernen bei ihm Spaß machte. Sie hörte von so vielem, das ihr vorher fremd gewesen war – so viele Namen, Länder und wundersame Wörter. Und je mehr er ihr erklärte, desto neugieriger wurde sie.

In diesen ersten vier Wochen hatte sie mehr über die großen Zusammenhänge der Welt erfahren als in all den zwölf Jahren zuvor. Dabei war sie ziemlich sicher, dass ihre Mutter – Dea nannte sie noch immer so und würde es wohl dabei belassen – ebenfalls über vieles Bescheid wusste. Das meiste aber hatte sie vor Dea verheimlicht, wohl aus Furcht, das Mädchen könne wie sie selbst in den Ruf einer Hexe geraten. Dabei war Deas Mutter doch nur klüger gewesen als all die anderen Dorfbewohner.

Am Ende der vierten Woche, inmitten heftiger Schneefälle, erreichten Dea und Goten eine Stadt. Es war die größte Ansiedlung, die Dea je gesehen hatte. Zuvor war sie nie aus Giebelstein herausgekommen, und sie hatte sich nicht vorstellen können, dass es Orte gab, an denen mehr als dreißig oder vierzig Hütten standen.

Dies aber war eine Stadt mit großen Häusern aus Stein, hohen, zinnenbewehrten Mauern und mit Türmen, auf denen Wimpel und Fahnen flatterten. Auf den Dächern leuchteten weiße Schneehauben. Am Stadttor standen Krieger mit Lederpanzern, Fellmänteln und Schwertern, die jeden, der hinaus- oder hineinging, gründlich begutachteten. Als die Männer Goten erkannten, wurden sie bleich und machten hastig den Weg frei.

Während der vergangenen Wochen waren sie durch mehrere Dörfer gereist, doch nirgends war Goten in seiner Funktion als Richter und Hexenjäger tätig geworden. Sie hatten in Wirtshäusern gegessen, am Kaminfeuer die Kälte des Februars ausgetrieben und auf strohgestopften Betten geschlafen wie jeder andere Durchreisende. Doch überall waren die Menschen still und ängstlich geworden, wenn ihnen klar wurde, wer sich da in ihrer Mitte aufhielt. Doch Goten hatte über niemanden Recht gesprochen – und das, obgleich mehrfach Männer und Frauen mit üblen Verleumdungen an ihn herangetreten waren. Goten hatte sie alle fortgeschickt.

In dieser Stadt aber, das spürte Dea auf Anhieb, wartete Arbeit auf den Hexenjäger. Es war fast, als würden die Abfälle und offenen Kloaken in den Gassen mehr als nur üblen Geruch verbreiten. Der Odem des Bösen schien zwischen den Häusern zu hängen wie eine feine Nebelbank. Es roch förmlich nach Tod und Verdammnis.

Der offensichtlichste Grund dafür waren die Menschen selbst. Sie hatten ihre Stadt verkommen und ihre Häuser verfallen lassen. Die Angst vor dem vermeintlichen Weltuntergang war hier schlimmer als an jedem anderen Ort, den Dea und Goten passiert hatten. Niemand kümmerte sich mehr um die Instandhaltung der Gebäude, weil ohnehin jeder glaubte, dass er das nächste Jahr nicht mehr erleben würde. Was nutzten einem am Tag des Jüngsten Gerichts die schönsten und reinlichsten Straßen, wenn man selbst von Gottes Zorn hinweggefegt wurde?

Überall lagen Berge von Dreck und Unrat. Die meisten Leute stanken erbärmlich, wenn man an ihnen vorüberging. Zerschlissene Kleidung wurde längst nicht mehr ausgebessert, Krankheiten nicht mehr behandelt. Alles steuerte dem baldigen Ende entgegen.

Immer wieder kam der Pferdekarren an Menschenaufläufen vorbei, die sich zu Pilgerzügen ins Heilige Land formierten. Die Menschen verließen ihre Heimat und erhofften sich vor den Toren Jerusalems segensreiche Rettung. Fanatische Schreihälse, die sich selbst Prediger nannten, stachelten die Menschen zu Panik und Verzweiflung auf. Fast täglich, so erfuhren Dea und Goten von einem Stadtgardisten, brachen neue Pilgerströme gen Süden auf, ließen verlassene Häuser, oft sogar ihre Familien zurück.

Die Lage war schlimm, viel schlimmer, als selbst Goten es sich vorgestellt hatte.

»Wenn nicht Gott der Welt den Untergang bringt, dann werden das wohl die Menschen selbst erledigen«, schimpfte er und warnte Dea davor, sich von der allgemeinen Niedergeschlagenheit anstecken zu lassen.

Dabei wäre dieser Ratschlag gar nicht nötig gewesen. Dea hatte nicht viel mehr als Verachtung übrig für Menschen, die sich derart gehen ließen. Verachtung, aber auch ein wenig Mitleid. Die Prediger, die an jeder Straßenecke standen und ihre schrecklichen Prophezeiungen auf das Volk herabbrüllten, waren der wirkliche Quell allen Übels. Sie schürten die Panik, sie führten die Leute fort in die Fremde. Es war längst an der Zeit, ihnen das Handwerk zu legen.

Wie sich bald herausstellte, war genau das der Grund, der Goten in die Stadt geführt hatte. Und nicht nur ihn allein. In der Zitadelle der Stadt fand eine Versammlung der Richter und Hexenjäger statt, auf der beschlossen werden sollte, wie man dem Übel der Wanderprediger Einhalt gebieten wollte. Der mächtigste aller Hexenjäger hatte zu dieser Versammlung geladen, ein Mann, der sich nur vor dem Papst persönlich verantworten musste. Goten hatte seinen Namen erwähnt, aber Dea hatte ihn wieder vergessen.

Was soll’s, dachte sie. Sie hatte sowieso nicht vor, diesen furchtbaren Menschen kennen zu lernen. Stattdessen nahm sie sich vor, die Stadt zu erkunden.

Goten setzte sie am Fuß der Zitadelle ab und gab ihr ein paar Ermahnungen mit auf den Weg, wovor sie sich an einem Ort wie diesem in Acht nehmen müsse. Dann lenkte er Karren und Ross durch das Tor der Burganlage. Dea blieb allein auf dem Vorplatz zurück.

Aufmerksam schaute sie sich um. Das wilde Treiben der Städter verwirrte sie noch immer. So viele Menschen! So viele Stimmen, die alle durcheinander redeten!

Der Schnee auf dem Platz war platt getrampelt und schlammig. Die Menschen waren in Felle und dicke Leinenmäntel gehüllt – zumindest jene, die es sich leisten konnte. Aber es gab auch Bettler und Kranke, die halb tot am Fuß der Mauern lagen, mit Gesichtern, die blau waren vor Kälte, und mit abgefrorenen Fingern und Zehen.

Dea hatte immer geglaubt, Städte müssten herrliche, prachtvolle Orte sein, doch diese hier bot nur ein Bild des Elends und der Not. Selbst die Reichen, die achtlos an den Erfrierenden vorüberstapften, wirkten bedauernswert in ihrer Gleichgültigkeit.

Ein wenig unsicher, aber auch fasziniert machte sich Dea auf den Weg. Sie trug warme Stiefel, ein langes Wams, das über ihre Hose fast bis zu den Knien reichte, und einen weichen Fellumhang, den Goten für sie gekauft hatte. Er sorgte gut für sie, und sie fand, dass er sich große Mühe gab, ihr ein echter Vater zu sein. Vieles, was er tat, um ihr zu zeigen, dass er sie mochte, wirkte ungeschickt und linkisch, aber gerade das verriet ihr, wie ernst es ihm war.

Dabei hatte sie manchmal durchaus das Gefühl, dass er selbst nicht damit gerechnet hatte, sie zu mögen. Die Verantwortung für eine Tochter war auch für ihn etwas Neues, Ungewohntes. Aber er tat sein Bestes, und allein das zählte. Gewiss, an manchen Tagen war er streng und mürrisch, aber Dea war kein Mädchen, das ständig jemanden zum Reden brauchte. Wenn sie merkte, dass er schlechte Laune hatte, dann ließ sie ihn einfach in Ruhe, stöberte in den Bücherkisten auf der Ladefläche des Karrens oder schaute sich die handgemalten Bilder in seiner wertvollen Bibel an. Noch konnte sie nicht selbst darin lesen, aber sie gab sich große Mühe, es zu erlernen. Goten hatte ihr versprochen, dass sie, wenn sie so gelehrig blieb wie bisher, bis zum Sommer so weit sein würde.

Im Augenblick aber dachte sie nicht an Bücher, sondern versuchte, auf eigene Faust etwas über die Welt um sie herum herauszufinden. Vom Vorplatz der Zitadelle bog sie in eine der Seitengassen ein. Ihr fiel auf, wie wenig Kinder es hier gab. Jene, die sie sah, wirkten arm und heruntergekommen. Einige hantierten bedrohlich mit Messern und Stöcken herum, so als warteten sie nur darauf, über irgendeinen reichen Kaufmann herzufallen.

Schließlich kam sie auf einen weiten Platz, größer noch als der am Fuß der Zitadelle. An den Rändern standen Marktbuden, aber die meisten waren verlassen. Im Zentrum des Platzes hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Die Leute standen rund um ein hölzernes Podest, von dem aus ein einzelner Mann über ihre Köpfe hinwegschaute und dabei eine lautstarke Rede hielt. Er trug eine weiße Kutte und einen breitkrempigen hellen Hut. In seiner Hand hielt er einen langen Stab, dessen Spitze in einem Kreuz auslief.

Noch ein Prediger, dachte Dea abfällig.

Das Gesicht des Mannes wurde vom Schatten des Hutes verdunkelt. Dennoch konnte Dea erkennen, wie schmal seine Züge waren. Von ferne sah es aus, als hätte er keine Lippen, fast wie ein Reptil.

»Im Heiligen Land erwartet euch die Absolution des Herrn«, rief er mit klangvoller Stimme in die Menge. »Alle Sünden werden euch vergeben, wenn ihr euch meiner Pilgerfahrt anschließt. Am Tag des Strafgerichts wird der Herr erkennen, wer sein treuer Diener war, aber auch, wer lieber daheim geblieben ist, aus Feigheit vor der Mühsal von Gottes Weg. Aber was ist schon die Mühsal gegen das, was euch Sünder im Jenseits erwartet? Schon schüren Dämonen die Feuer der Hölle, schon bringen sie die Marterwerkzeuge zum Glühen, mit denen sie euch quälen werden.«

Ein furchtsames Raunen ging durch die Menge. Dass ein Prediger ihre geheimsten Ängste aussprach, setzte den Leuten zu. Immer mehr schienen bereit zu sein, ihm ins Heilige Land zu folgen.

Dea wandte sich an eine junge Frau, die neben ihr stand und zuhörte. »Wer ist dieser Mann?«

»Die Leute nennen ihn den Weißen«, erwiderte die Frau, ohne ihren Blick von dem Prediger zu nehmen. »Er wird uns allen das Heil bringen.«

»Einfach nur ,der Weiße’? Hat er keinen richtigen Namen?«

Die Frau blickte unwirsch auf Dea herab. »Was zählt ein Name schon im Angesicht des Untergangs?«

»Aber es wird keinen –«. Dea unterbrach sich selbst. Es hatte keinen Sinn, gegen die Überzeugung der Frau anzureden, erst recht nicht an diesem Ort. Die Leute würden sie nur auslachen – oder Schlimmeres mit ihr anstellen.

Stattdessen fragte sie die Frau: »Wirst du mit ihm ziehen?«

Die Antwort kam schnell und herablassend:

»Natürlich.«

»Hast du keine Angst vor dem weiten Weg ins Heilige Land?« Dea hatte nicht die geringste Vorstellung, wie weit es bis dorthin tatsächlich war. Sie wusste nur, dass unterwegs Berge und Meere überquert werden mussten.

»Der Weiße wird uns sicher führen«, sagte die Frau voller Zuversicht. »Wer die eigenen Ziele und Wünsche vergisst und seinem Wort folgt, dem kann nichts passieren.«

Dea war erschüttert, wie viel Macht eine bloße Rede über die Leute zu haben schien. Andererseits: Wer Angst hatte, der glaubte wahrscheinlich fast alles, was man ihm erzählte – solange man ihm nur gleichzeitig seine Rettung versprach.

Sie beschloss, sich ein Stück näher zum Podest des Predigers vorzudrängeln. Die Menschen waren so gebannt von der Rede des Mannes, dass sie kaum bemerkten, wie Dea sie knuffte oder beiseite schob.

Nach einer Weile war sie weit genug gekommen, um dem Weißen geradewegs ins Gesicht zu schauen. Sie hatte erwartet, dass bei näherer Betrachtung irgendetwas Ehrfurcht Gebietendes an ihm sein würde. Augen, die Vertrauen einflößten, oder ein freundliches Lächeln. Doch der Weiße besaß nichts dergleichen. Ganz im Gegenteil: Dea fand, dass er böse und hinterhältig wirkte. Um nichts in der Welt hätte sie sich seiner Führung anvertraut. Da fürchteten sich die Menschen also vor einem Mann wie Deas Vater und folgten doch zugleich scharenweise einer verschlagenen Gestalt wie dem Weißen!

Der Prediger redete und redete, aber Dea hörte kaum zu. Sie konnte nur dieses finstere, reptilienhafte Gesicht anstarren.

 

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