Die Geschichtenerzähler

Es war einmal …

So beginnen Geschichten. Zugegeben, nicht alle Geschichten, aber viele von den schönsten.

Ich bin … nein, ich sollte sagen: Wir sind Geschichtenerzähler. Doch das, was wir zu berichten haben, ist nicht in längst vergangener Zeit passiert, oh nein. Was wir erzählen, wird erst viele Jahre später geschehen, und nur aus einem einzigen Grund: Weil wir es erzählt haben.

Ist das verwirrend? Ich fürchte, ja.

Es wird einmal …

So sollte meine Geschichte beginnen. Das klingt nicht besonders elegant, ich weiß, aber so liegen die Dinge nun einmal. Denn als ich diese Geschichte zum ersten Mal erzählte, hatte sie sich noch gar nicht zugetragen. Heute aber, da ihr dieses Buch in Händen haltet, liegen die Ereignisse, von denen ich berichten will, bereits viele Jahrhunderte zurück.

Wie das nun gehen soll, wollt ihr wissen?

Nun, das ist eine der Fragen, auf die ihr bald eine Antwort erhalten werdet. Habt nur noch ein kleines bisschen Geduld.

Es gibt sieben von uns. Sieben Geschichtenerzähler, die sich am Ende eines jeden Jahrtausends treffen und einander die Geschehnisse der kommenden tausend Jahre erzählen. Das, was wir einander im Schein unseres Lagerfeuers und inmitten behaglicher Pfeifenschwaden berichten, wird in der Zukunft genau so eintreten. Ob Kriege oder Friedensschlüsse, Freundschaft oder Feindschaft, Geburt oder Tod – wir wissen bereits davon, Jahre und Jahrhunderte, bevor sich all dies tatsächlich ereignen wird.

Niemand kennt uns.

Bisweilen allerdings, in dem einen oder anderen Zeitalter, gab es über uns so manches Gerücht. Die wenigen, die von uns hörten, hielten uns abwechselnd für Götter, Magier oder Hirngespinste. Und das ist gut so. Wenn ihr dieses Buch zu. Ende gelesen und die letzte Seite umgeblättert habt, dann tut einfach so, als wüsstet ihr nichts von all dem. Vergesst uns einfach. Glaubt mir, es ist am besten so.

Die Geschichte, die ich euch erzählen will, dreht sich um ein junges Mädchen namens Dea. Es lebte hier in diesem Land, vielleicht gar nicht weit entfernt von dem Ort, an dem ihr heute wohnt. Denkt einfach mal an sie, wenn ihr durch einen Wald spaziert oder über eine Wiese lauft – es könnte genau die gleiche Stelle sein, an der einst die junge Dea die wildesten Abenteuer erlebte. Genau hier, ja, hier, begegnete sie Hexen und Dämonen, blutrünstigen Wikingern und Wesen, denen ich lieber keinen Namen geben will. Denn Namen haben magische Macht. Aber auch darüber sollt ihr später mehr erfahren.

Bevor wir uns nun Dea zuwenden, die gerade in ihrem Heimatort Giebelstein den – zugegeben: nicht besonders aufregenden – Auftrag bekommen hat, frisches Wasser vom Dorfbrunnen zu holen, muss ich erwähnen, was zur gleichen Zeit an anderer Stelle geschah. Dies, so müsst ihr wissen, ist von allergrößter Wichtigkeit. Deshalb hütet euch, einfach darüber hinwegzublättern.

Denn fern von Giebelstein und seinem mittelalterlichen Treiben ereignete sich im Januar des Jahres 999 nach Christus folgende Begebenheit.

 

Im Wurzelwerk eines gewaltigen Baumes, höher als der höchste Turm und so breit, dass hundert Männer seinen Stamm nicht umfassen könnten, trafen sich sieben seltsame Gestalten.

(Nun ahnt ihr sicher schon, dass ich eine dieser Gestalten bin, aber ich will fortan nicht mehr von mir selbst als »ich« sprechen, sondern einfach so tun, als könnte ich das sonderbare Treiben ganz unbeteiligt von außen betrachten.)

Diese sieben trafen sich einmal alle tausend Jahre und erzählten sich Geschichten. Geschichten, die den Verlauf des nächsten Jahrtausends bestimmen sollten.

Zwei Jahre lang würden sie von diesem Tag an beieinander sitzen.

Im ersten Jahr würden sie berichten, was sie im vergangenen Jahrtausend erlebt hatten und wo sie gewesen waren; denn diese sieben Geschichtenerzähler sind auch sieben Wanderer, die im Verborgenen quer durch die Welt ziehen, vieles sehen und alles hören.

Im zweiten Jahr aber, das mit dem Januar des Jahres l000 beginnen würde, wollten sie die Ereignisse bis zum Jahr 2000 festlegen, und zwar jedes noch so winzige Detail.

Die Baumwurzel, in deren Verästelungen sie sich trafen, füllte ein ganzes Tal aus. Die meisten Wurzelstränge befanden sich über der Erde und waren dicker als der Leib eines Pferdes. Sie bildeten ein wahres Labyrinth aus hölzernen Torbögen, borkigen Schlingen und Gebilden, die nichts ähnelten, was ein menschlicher Baumeister hätte entwerfen können.

Hier, in dieser Wurzel, versammelten sich die sieben Geschichtenerzähler, entfachten ein Lagerfeuer und zogen Pfeifen aus ihren Bündeln. Die Kleidung aller war staubig, ihr Schuhwerk zerschlissen. Sie hatten lange Wege zurückgelegt, um hierher zu kommen. Einer rollte ein Fass kühles Bier heran, ein anderer pralle Lederschläuche mit herbem, duftendem Wein. Der Tabak in ihren Pfeifen stammte aus fernen Ländern, einer roch würziger und exotischer als der andere.

In keinem Wirtshaus des Mittelalters, an keinem Königshof und an keinem Lagerfeuer gab es in dieser Nacht größere Behaglichkeit als hier, an diesem geheimen Ort im geheimsten aller Wälder.

Denn mochten der große Baum und seine Riesenwurzel auch inmitten einer Lichtung stehen, so erstreckte sich doch rundherum das Dickicht eines tiefen, dunklen Waldlands. Wilde Tiere schrien und balgten in der Finsternis, Käuzchen riefen und Uhus gurrten. Aber keines der Tiere wagte sich an die Wurzel heran, und keines hätte versucht, einen der sieben anzugreifen.

Hier also versammelten sie sich. Sieben Wesen, die sich selbst ganz schlicht die Erzähler nannten, und die doch so viel mehr waren – die Meister des neuen Jahrtausends.

Und während die ersten Wolken von Tabakrauch in den Abendhimmel schwebten, während frisch gebackenes Bauernbrot und herzhafter Käse die Runde machten, begannen sie ihre Berichte, einer nach dem anderen.

Sie erzählten und erzählten, und keinem Menschen hätte je langweilig werden können bei dem, was sie zu berichten hatten.

Geschichten von Rittern und hübschen Burgfräuleins, von bettelarmen Leibeigenen und reichen, fetten Händlern. Von widderköpfigen Göttern und ihren blumengekrönten Priesterinnen. Von Ketzern und Kirchenmännern, von Marktweibern und Musikanten, von Seidenspinnerinnen und Sarazenenfürsten. Von Schlachten, Festen und verstohlenem Liebestreiben. Von großen und von kleinen Leuten, von Männern, Frauen und von Kindern.

Und einer von ihnen, einer der Meister des neuen Jahrtausends, erzählte auch von einem Mädchen im fernen Giebelstein.

Er erzählte von Dea.