Der Fremde

Eine Woche später, an einem frühen Abend Ende Januar 999, hallte der Hufschlag eines mächtigen Rosses durch die Wälder rund um Giebelstein. Holzfäller sahen von ferne einen weißen Schemen hinter den Bäumen dahinziehen, gefolgt von dem knirschenden Geräusch eiserner Karrenräder, die tiefe Furchen in den Waldweg schnitten.

Bald darauf kam auf der Dorfstraße ein wunderliches Gefährt zum Stehen – ein Wagen, beladen mit allerlei Kisten und Kästen, gezogen vom größten und stärksten Schimmel, den die Dorfbewohner je zu Gesicht bekommen hatten. Das Tier ähnelte eher einem Schlachtross als einem gewöhnlichen Zugpferd.

Doch mochte das Ross auch eines Ritters würdig sein, so war die einsame Gestalt auf dem Wagen alles andere als ein stolzer Krieger. Der Mann trug eine dunkle Kutte und hatte sich seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Augen und Nase lagen im Dunkeln, nur sein Kinn ragte aus den Schatten. Seine Hände steckten in schwarzen Handschuhen aus Leder, seine Stiefel waren edel verarbeitet und zeugten von Reichtum. Ein Breitschwert lag neben ihm auf dem Kutschbock, und sein Besitzer sah aus, als wüsste er damit umzugehen.

Trotzdem verriet ein silbernes Kreuz, das an einer Kette über seiner Brust baumelte, dass der Fremde ein Mann Gottes war.

Goten war nach Giebelstein gekommen, und wer ihm begegnete, eilte rasch aus seinem Weg in den Schutz der Häuser. Innerhalb weniger Herzschläge war die Dorfstraße wie leer gefegt.

Dea sah den Hexenjäger zum ersten Mal, als er die Stufen zum Wirtshaus hinaufstieg. Eigentlich erkannte sie nicht viel mehr als eine schwarze Gestalt, die hastig im Inneren des Gebäudes verschwand; es hätte ebenso gut der Schatten eines großen Raubvogels am Himmel sein können, der für einen Moment auf Giebelstein und seine Bewohner gefallen war.

Ein paar kleine Kinder näherten sich verstohlen dem Karren und warfen neugierige Blicke auf die Kisten, die auf der Ladefläche gestapelt waren. Doch als sie sich auf weniger als drei Schritte heranwagten, stieß das weiße Ross ein kraftvolles Schnauben aus, stampfte mit den Hufen und fletschte das riesige Gebiss. Nicht einmal Goten selbst hätte die Kleinen schneller in die Flucht schlagen können.

Dea umrundete das Wirtshaus, um nachzusehen, ob sie erkennen konnte, in welchem Zimmer sich der unheimliche Mann einquartiert hatte. Vergeblich. Falls sich Goten tatsächlich in einer der Kammern aufhielt, so hatte er keine Kerze entzündet.

Es war schon spät, als sie schließlich nach Hause lief. Irgendetwas sagte ihr, dass es wichtig war, ihrer Mutter von Gotens Ankunft zu berichten. Dea war gespannt, wie sie auf die Neuigkeit reagieren würde. Würde sie wieder hinaus in die Wälder gehen, zu einem der alten Kultplätze, und auf ihren Knien den halb vergessenen Gott der Bäume mit seinem mächtigen Hirschgeweih anflehen?

Doch als Dea ihre Hütte erreichte, erlebte sie eine Überraschung. Keine erfreuliche.

Die Tür war von innen verriegelt. Hinter einem der Fenster, die mit halb durchsichtigen Häuten bespannt waren, erkannte sie den Umriss ihrer Mutter. Doch als Dea sie rief, gab sie keine Antwort. Tat einfach, als sei niemand daheim.

»Was ist los?« fragte Dea und pochte erneut gegen die Tür. »Warum lässt du mich nicht rein?«

Keine Antwort.

»Mutter? Warum redest du nicht mit mir?«

Freilich war es nicht das erste Mal, dass ihre Mutter beleidigt tat. Doch für gewöhnlich kannte Dea zumindest den Grund.

Jetzt aber konnte sie sich beim besten Willen nicht erinnern, wie sie ihre Mutter verärgert haben könnte.

»Mutter! Mach bitte auf!«

Noch immer blieb es still in der Hütte.

Dea wurde allmählich unruhig. Erst wütend, dann verwirrt. Was, zum Teufel, sollte das? Sie hatte doch genau gesehen, dass ihre Mutter zu Hause war.

Sie versuchte es ein letztes Mal. »Sag mir doch wenigstens, was ich verbrochen habe.«

Dea stand an der Vorderseite der Hütte, als sie plötzlich im rückwärtigen Teil etwas zuschlagen hörte. Die Hintertür!

Hastig lief sie zur Rückseite. Von hier aus waren es nur wenige Schritte bis zum Waldrand, und sie vermutete schon, ihre Mutter sei abermals ins Unterholz gelaufen.

Aber sie irrte sich.

Am Fuß der Hintertür lag ein prall gefülltes Bündel. Dea besaß zwei Wämser, die sie abwechselnd trug; eines davon hatte sie auch heute an. Das zweite aber hing oben aus der Öffnung des Bündels, sie konnte es ganz genau an der hellgrünen Farbe erkennen.

Dea bückte sich und untersuchte den Inhalt des Bündels. Wenige Blicke genügten, um zu erkennen, dass sich all ihre Habseligkeiten darin befanden. Eine der beiden Männerhosen, die sie so gerne trug, und auch der stumpfe Dolch, den sie einmal vom Schmied geschenkt bekommen hatte; er war das Wertvollste, das sie besaß.

Sie hockte neben dem Bündel am Boden, ihre kargen Besitztümer in Händen, und spürte plötzlich, dass ihr Tränen über die Wangen liefen.

»Mutter?« schluchzte sie leise. Und noch einmal: »Mutter?«

Einige Atemzüge lang herrschte weiterhin Schweigen, nur Deas leises Weinen erfüllte die Dunkelheit. Dann aber raschelte es jenseits der Tür.

»Geh fort!«, sagte Deas Mutter hinter dem Holz. Sie klang nicht wütend, nur traurig. »Du musst fort von hier.«

»Warum?« Nur dieses eine Wort. Mehr bekam Dea nicht heraus.

»Ein anderer wird dir die Antwort darauf geben«, sagte ihre Mutter.

»Ein anderer?« Dea verstand überhaupt nichts mehr. »Was meinst du, Mutter? Wer?«

»Geh zu Goten! Er hat alle Antworten für dich.«

Ein eiskalter Schauder lief über Deas Rücken.

»Der Hexenjäger?« Allein die Vorstellung bereitete ihr Übelkeit. »Was soll ich bei ihm?«

Ihre Mutter schwieg wieder für eine Weile, dann sagte sie mit niedergeschlagener Stimme: »Leb wohl, Dea. Ich glaube nicht, dass wir uns wieder sehen werden.«

Dea sprang auf und hämmerte verzweifelt gegen die Tür, aber nichts, was sie tat oder brüllte, zeigte eine Wirkung. Ihre Mutter antwortete nicht mehr. Ihr Entschluss, die Tochter zu verstoßen, stand unabänderlich fest.

Schließlich löste sich Dea von der Tür. Der Schmerz in ihrem Inneren war entsetzlich. Sie hätte ihren Kummer nicht in Worte fassen können, so überwältigend, so allumfassend erschien er ihr. Sie hatte das Gefühl, als sei die dünne Hüttenwand, die sie von ihrer Mutter trennte, zu einem unüberwindbaren Hindernis geworden.

Aber aus Verzweiflung wurde allmählich Wut. Sicher, im Augenblick war es kalt und dunkel, und alles sah trist und hoffnungslos aus. Aber wie wollte ihre Mutter sie davon abhalten, bei Tageslicht zurückzukommen? Irgendwann würde sie die Riegel beiseite schieben und ins Freie kommen müssen. Und dann würde Dea sie erwarten und zur Rede stellen. Schließlich würden sie sich in die Arme fallen, und alles würde wieder sein wie früher.

Ja, genau. Nur hell musste es erst einmal werden.

Sie nahm ihr Bündel auf, warf es sich über den Rücken und entfernte sich von der Hütte. In einigen der benachbarten Behausungen flackerte noch Kerzenschein durch Ritzen im Holz, aber niemand war draußen im Freien. Hatten die Nachbarn nicht mitbekommen, was zwischen Dea und ihrer Mutter vorgefallen war? Oder stellten sich alle nur taub, um sich nicht einmischen zu müssen? Vielleicht hätten sie sich verpflichtet gefühlt, Dea ein Quartier anzubieten – aber keiner wollte sie bei sich haben.

Dea war bei den anderen niemals besonders beliebt gewesen, trotz ihres hübschen Aussehens. Die Abneigung der Dörfler war eines der wenigen Dinge, die sie mit ihrer Mutter gemeinsam hatte. Gewiss, der eine oder andere Junge schaute ihr manchmal hinterher, wenn ihr langes rotes Haar an ihm vorüberwehte, doch das war auch schon alles. Sie fühlte sich als Außenseiter, heute Nacht noch mehr als je zuvor.

Der Pferdewagen des Hexenjägers stand nicht mehr vor dem Wirtshaus. Der Knecht musste das Ross in den Stall gebracht haben. Dea ließ ihren Blick über die Fensterhäute des Gasthofs schweifen, aber nirgends flackerte Kerzenschein.

Geh zu Goten, hatte ihre Mutter gesagt.

Er hat alle Antworten für dich.