Bei diesen Worten fiel Dea schlagartig wieder ein, was sie in den letzten Tagen fast völlig verdrängt hatte: Das Arkanum strebte danach, sich die Welt Untertan zu machen. Die Hexen wollten eine Schreckensherrschaft des Bösen errichten. Mochten sie auch noch so nett und freundlich zu Dea sein, sie durfte diese Tatsache nie vergessen! Niemals!

»Wie … ich meine, wie wollt ihr … wie wollen wir die Welt erobern?«, fragte Dea stammelnd.

Morgwen lächelte wissend. »Nicht erobern, Dummchen. Wir sind doch keine Krieger mit Schwert und Lanze. Nein, Dea, wir werden ganz anders vorgehen, und ohne dass irgendein gewöhnlicher Mensch es überhaupt bemerkt. Bald schon, in nicht einmal einem Jahr, wird es so weit sein. Dann wird der große Plan in die Tat umgesetzt.«

»Bestimmt bin ich noch zu jung, um mehr über diesen Plan zu erfahren, oder?«

Morgwen streichelte ihr freundschaftlich übers Haar. »Aber du bist doch jetzt eine von uns, Dea. Selbst wenn du dich dagegen wehren würdest, würde die Kraft in deinem Inneren doch immer wieder zum Vorschein kommen. Einmal eine Hexe, immer eine Hexe.«

Dann ist es also wahr, dachte Dea und spürte, wie abwechselnd heiße und kalte Schauer über ihren Körper rasten. Zum einen hatte sie Angst, ja, sie fühlte Abscheu vor sich selbst – zum anderen aber war sie auch ein ganz klein wenig stolz. Oh ja, das war sie wirklich, mochte sie sich auch noch so sehr dagegen auflehnen.

Eine Hexe. Eine grausame Hexe des Arkanums.

Aber, halt, sie war nicht grausam! Gut, vielleicht war sie eine Hexe – aber sie musste doch deshalb nicht genauso böse und durchtrieben sein wie Abakus und seine Dienerinnen! Es lag in ihrer Macht, das zu verhindern. Sie allein entschied sich für den Weg, den sie mithilfe ihrer Kräfte einschlagen würde, den zur hellen oder den zur finsteren Seite der Magie.

»Du willst also wissen, was wir vorhaben?«, fragte Morgwen.

Dea fuhr aus ihren Gedanken auf. »Würdest du das nicht, an meiner Stelle?«

»Du willst erfahren, wofür du eigentlich lernst, was?«

Dea schüttelte den Kopf. »Ich lerne, um Abakus und dem Arkanum zu dienen«, sagte sie hastig. »Das ist Grund genug.«

Morgwen grinste erfreut. »Du bist nicht nur talentiert, Dea, du bist auch gelehrig. Eine bessere Schülerin könnte sich keine von uns wünschen. Weißt du, woran das liegt?«

»Du wirst es mir sicher erzählen.«

»An deiner Herkunft.«

»Wie das?«

»Du bist das Kind einer gottlosen Liebe. Goten war Priester, und deine Mutter hatte ihr Leben als Nonne dem Christengott geweiht. Du hättest nie gezeugt werden dürfen. Und doch ist es geschehen. Du bist kein Kind Gottes, Dea. Der Gott der Christen hasst dich, er verabscheut dich. Beste Voraussetzungen also für eine wahrhaft große Hexe.«

Dea schluckte einen Klops in ihrem Hals herunter. »Wenn es in einem Jahr so weit ist, werde ich an eurer Seite stehen«, log sie und wurde nicht einmal rot dabei.

»Du wirst uns eine würdige Schwester sein«, bestätigte Morgwen nickend. »Und deshalb sollst du erfahren, was der Plan des großen Abakus ist.«

Dea spannte sich, als stünde sie vor einer schweren körperlichen Herausforderung. Sie konzentrierte sich so gut wie möglich, um sich alles ganz genau einzuprägen.

»Hast du je von den Meistern des neuen Jahrtausends gehört?«, fragte Morgwen.

Dea verneinte. »Sollte ich denn?«

»Wohl kaum«, gestand die Hexe ihr zu. »Kaum jemand weiß, dass es sie gibt. Die Meister des neuen Jahrtausends existieren im Verborgenen. Sie sind die Erzähler der Welt. Sie entscheiden, was geschehen wird.«

»Das verstehe ich nicht.«

Morgwen forderte sie auf, auf den Steinstufen vor dem Podest Platz zu nehmen. Dea setzte sich, und die Hexe hockte sich neben sie wie eine große Schwester. Verflucht, es war so schwierig, in Morgwen das böse Weib zu sehen, das sie in Wirklichkeit war!

»Die Meister des neuen Jahrtausends sind zu allererst Geschichtenerzähler. Du kennst doch Geschichtenerzähler, nicht wahr? Die alten Männer und Frauen, die auf Marktplätzen von Abenteuern in fremden Ländern berichten, von Helden und Prinzessinnen und Feuer speienden Drachen. Aber im Gegensatz zu diesen Geschichtenerzählern sind die Meister des neuen Jahrtausends zugleich auch Geschöpfe der Magie. Am Ende eines jeden Jahrtausends treffen sich die sieben Meister an einem verborgenen Ort zwischen den Welten und erzählen einander die Geschichten des folgenden Jahrtausends. Und genau so, wie sie es erzählen, wird alles eintreten.«

»Wie bei Wahrsagern?«

»Sie sind viel mehr als das. Ein Wahrsager berichtet nur, was er in der Zukunft beobachtet. Die Meister des neuen Jahrtausends aber bestimmen die Zukunft. Aus ihnen sprechen Wesen, die größer sind als wir oder gar der Gott der Christen. Was sie sagen, wird geschehen.«

»Dann wissen sie jetzt schon, was in hundert Jahren sein wird?«, fragte Dea ungläubig. »Oder in fünfhundert?«

»Im Augenblick berichten sie einander nur, was sie während der letzten tausend Jahre erlebt haben. Aber in zehn Monaten, zu Beginn des Jahres 1000, werden sie anfangen, sich ein Jahr lang die Zukunft zu erzählen. Und von da an wird alles feststehen, unabänderlich. Unser aller Schicksal entscheidet sich am Lagerfeuer der Meister.«

»Und was hat das mit dem Arkanum zu tun?«

Morgwen blickte sie durchdringend an. »Begreifst du nicht? Die Meister haben die Macht über die nächsten tausend Jahre, von heute bis zum Jahr 2000. Wer aber Macht über die Meister hat, der ist der Herr der Welt!«

»Dann wollt ihr die Meister des neuen Jahrtausends in eure Gewalt bringen?«

»Nein, Dea, wir wollen sie töten! Und dann die Geister, die in ihnen wohnen, in uns aufnehmen.«

Morgwen lächelte voller Stolz, wie ein Kind, dem man ein besonders großes Geschenk gemacht hat.

»Fortan werden wir es sein, die das Schicksal der Welt bestimmen – für alle künftigen Jahrtausende!«