Der Schatten der Zukunft

Zehn Monde vergingen.

Zehn Monde, die Dea in den Fängen des Arkanums verbrachte. Tag für Tag wurde sie von Morgwen und den anderen in den schwarzen Künsten unterwiesen, und mit jedem Tag und jeder Nacht wurde ihr Wissen um die Macht der Magie ein wenig größer und gefährlicher.

Am Ende des Sommers gelang es ihr zum ersten Mal, einen von Morgwens Zaubern nicht nur nachzuahmen, sondern sogar zu übertreffen.

Im Herbst verwandelte sie versehentlich einen der Hexenkater zu Stein, und als seine Besitzerin ihr vor Wut Blitze entgegenschleuderte, versetzte Dea ihr einen magischen Hieb, der die Frau drei Tage ans Bett fesselte. Die anderen lachten schadenfroh und freuten sich, dass ihre Schülerin solche Fortschritte machte.

Zu Beginn des Winters schließlich spürte Dea erstmals, dass die anderen Hexen sie fürchteten – alle außer Morgwen, denn ihre Lehrerin war die stärkste der sechs Frauen, und in den meisten Belangen der Magie war sie Dea immer noch ebenbürtig, wenn nicht gar überlegen.

Ende Dezember nahm Morgwen ihre Schülerin beiseite. »Du bist jetzt eine Hexe des Arkanums«, sagte sie. »Du hast mehr Macht als unsere fünf Schwestern, und bald wirst du auch stärker sein als ich.«

»Ich werde niemals eine größere Hexe sein als du«, widersprach Dea, und ihr wurde ganz übel dabei.

»Doch, das wirst du, Dea.« Morgwen lächelte und sah dabei dennoch ein wenig traurig aus. »Die Zeit seit deiner Ankunft hier in der Festung hat gezeigt, dass mehr in dir steckt, als wir alle vermutet haben. Die Kraft in deinem Inneren ist wie ein Feuer, das viel heißer und höher brennt als das von uns anderen. Wenn zu dem, was ich dir beigebracht habe, erst noch die Erfahrung kommt … wer weiß, zu was du dann fähig sein wirst.« Sie beugte sich vor und flüsterte die letzten Worte in Deas Ohr. »Gib Acht auf Abakus! Er wird niemanden dulden, der ihm an Macht gleichkommt. Merk dir das, Dea! Der Meister wird ein Auge auf dich haben.«

»Glaubst du, er wird –«.

Morgwen schüttelte den Kopf und schaute sich aufmerksam nach Zuhörern um. »Er wird dir nichts zu Leide tun. Nicht heute und nicht morgen. Aber hüte dich vor der Zukunft, Dea!«

Sie befanden sich in einem kleinen Innenhof der Festung, kühl und schattig wie alle Winkel des Gemäuers. Außer ihnen war niemand hier. Trotzdem sah Dea ihrer Lehrerin an, dass sie fürchtete, belauscht zu werden. Abakus’ Augen und Ohren waren überall.

»Werde ich –«, begann Dea, schluckte dann und begann noch einmal von neuem: »Werde ich irgendwann einmal Abakus’ Macht haben? Meinst du das?«

»Schon möglich«, entgegnete Morgwen knapp. »Aber lass uns nicht mehr davon sprechen. Solche Worte … solche Gedanken sind gefährlich.«

Sie verließen den Hof und wanderten gemeinsam durch die verwinkelten Steinflure der Festung. Einmal glaubte Dea, ein verstohlenes Rasseln zu hören, doch als sie sich umschaute, war es bereits verstummt.

»Was ist?«, fragte Morgwen argwöhnisch.

»Nichts«, gab Dea zurück. »Ich hab mich getäuscht, glaube ich.«

Morgwen blieb sofort stehen. »Hast du etwas gehört?«

Dea winkte ab. »Schon gut. Da ist nichts. Nur ein paar Ratten oder der Wind.«

Aber die Hexe blieb besorgt. »Wenn uns jemand belauscht hat …«

»Du hast Angst vor Abakus, nicht wahr?«

Morgwen schüttelte den Kopf, aber es wirkte unecht und viel zu hastig. »Nein.«

Dea spürte, dass Morgwen nicht die Wahrheit sagte. Sie erinnerte sich nur zu gut an ihre ersten Tage in der Festung; damals war Morgwen Abakus’ rechte Hand gewesen. Wie es schien, hatte sich dies jedoch geändert. Denn warum sonst hätte Morgwen ihren Meister mit einem Mal derart fürchten müssen? Fast ein Jahr war seit damals vergangen. Vielleicht hatte die Hexe erkannt, dass Abakus bei allem, was er tat, immer nur sein eigenes Wohlergehen, seinen eigenen Machtgewinn im Auge hatte. Morgwen hingegen hatte ihre eigene Vorstellung von dem Arkanum, einem Bund, in dem es nicht um den Einzelnen, sondern nur um das eine große Ziel ging: Macht über die Menschheit zu erlangen.

Die beiden erreichten eine Kreuzung im Zentrum der Festung. Dea blieb stehen. »Ich will versuchen, meinen Vater zu finden. Ich muss mit ihm reden.«

»Er wird bei Abakus sein, wie üblich«, gab Morgwen mürrisch zurück. War es das? Glaubte sie, Goten habe ihr den Platz an der Seite ihres Herrn streitig gemacht? Ja, dachte Dea, das musste es sein.

»Du hast deinen Vater in letzter Zeit nicht oft gesehen, was?«, fragte Morgwen, plötzlich mit einer Spur von Mitgefühl in der Stimme.

»Er ist ständig beim Magister«, sagte Dea bedrückt. »Seit wir hier bei euch sind, habe ich höchstens ein halbes Dutzend Mal mit ihm gesprochen.« Sie seufzte. »Ich komme einfach nicht an ihn ran. Abakus nimmt ihn völlig in Beschlag.«

»Ja«, erwiderte Morgwen grimmig. »Den Eindruck hab ich auch.«

In stillen Nächten, in der Einsamkeit ihrer Kammer, hatte Dea oft über Gotens rätselhafte Beziehung zu Abakus nachgedacht. In jenen Momenten hatte sie sich immer wieder eine einzige Frage gestellt: War ihr Vater selbst jener Macht verfallen, die er eigentlich hatte bekämpfen, ja, vernichten wollen?

Hatte Abakus ihn auf seine Seite gezogen?

Sie schüttelte sich bei dem Gedanken.

»Geht es dir gut?«, fragte Morgwen sorgenvoll und streichelte ihre Wange. »Dein Gesicht ist ganz kalt.«

»Ich bin aufgeregt«, gab Dea schnell zurück. »Wegen des großen Plans.«

Morgwen nickte verständnisvoll. »In ein paar Tagen ist es so weit. Am letzten Tag des Dezembers brechen wir auf.«

Dea deutete einen Gang hinunter. »Ich muss in diese Richtung. Ich will sehen, ob mein Vater in seiner Kammer ist.«

»Viel Glück.« Morgwen tätschelte noch einmal ihre Hand, dann fuhr sie mit wirbelndem schwarzem Haar herum und verschwand in einem anderen Korridor. Nachdem sie im Schatten verschwunden war, hörte Dea noch lange das Klappern ihrer Schritte von fernen Steinwänden widerhallen.

Sie atmete tief durch, dann machte sie sich auf, ihren Vater zu suchen. Vor der Tür seiner Kammer blieb sie stehen und horchte am Holz. Von der anderen Seite drang kein Laut herüber. Im ersten Moment wollte sie wieder gehen und es im Stall versuchen. Sie wusste, dass er manchmal dort hinunterging und bei seinem treuen Ross im Stroh saß, leise auf das Tier einredete oder einfach nur ins Leere blickte und nachdachte. Zweimal hatte sie ihn bei einer solchen Gelegenheit dort angetroffen.

Ohne große Hoffnung hob sie die Hand und pochte an die Tür.

»Wer ist da?«, ertönte von innen Gotens Stimme.

Dea seufzte erleichtert. »Ich«, sagte sie leise, »Dea.«

Er ließ sie ein, verriegelte die Tür und schloss Dea dann lange in seine Arme. »Es tut mir Leid«, sagte er leise. »Ich … wir hätten uns öfter sehen sollen.«

»Es gab kaum Gelegenheit dazu«, entgegnete sie. Gerne hätte sie kühl und distanziert geklungen, doch das gelang ihr nicht. Sie war viel zu froh, endlich wieder allein mit ihm zu sein – soweit man an diesem Ort überhaupt von Alleinsein sprechen konnte. Es bestand immer die Gefahr, dass Abakus mit magischen Ohren durchs Gestein lauschte.

Himmel, durchfuhr es sie, du benimmst dich schon wie Morgwen!

Sie setzten sich vors flackernde Kaminfeuer, inmitten zahlreicher Schriftrollen und aufgeschlagener Bücher. Dea musste Goten alles über ihre Ausbildung erzählen. Nur wenn sie etwas sagen wollte, das vielleicht den wahren Grund ihrer Reise zur Festung des Arkanums verraten hätte, legte Goten blitzschnell einen Finger an die Lippen und bedeutete ihr, still zu sein.

»Wir werden bald zum Versammlungsort der Meister des neuen Jahrtausends aufbrechen«, sagte er schließlich. »Aber das weißt du ja.«

Dea nickte. »Am letzten Tag des letzten Mondes des letzten Jahres. Das Einzige, was man mir noch nicht gezeigt hat, ist das Tor, durch das wir gehen werden.«

»Die Meister versammeln sich an einem Ort, der so weit von hier entfernt ist, dass man ihn zu Fuß oder auf Pferden in einem ganzen Leben nicht erreichen könnte«, erklärte Goten. »Er befindet sich in einer anderen Welt.«

»Ich weiß«, meinte Dea. Morgwen hatte ihr beigebracht, dass es viele Welten wie diese hier gab, und auf allen herrschte ein beständiger Kampf zwischen den Mächten des Guten und des Bösen. Und obwohl die Meister des neuen Jahrtausends über die Zukunft von Deas Welt bestimmten und sie sogar tausende Jahre lang selbst durchstreift hatten, hielten sie ihre Versammlung doch anderswo ab. Denn nur dort, so glaubten sie, konnten sie das Ritual des Geschichtenerzählens ungestört vollziehen.

»Das Tor, durch das wir gehen werden«, fuhr Goten fort, »ist ein magisches Tor. Ein Portal zwischen den Welten, das Abakus nur für diesen Zweck erschaffen wird.«

So viel hatte Dea bereits gewusst. Ein Rätsel blieb ihr jedoch, auf welche Weise Abakus das Portal schaffen und öffnen würde. Nichts von dem, was sie in den vergangenen zehn Monden gelernt hatte, hätte sie zu einem solchen Zauber befähigen können.

Aber Abakus war der Herr des Arkanums, der Großmeister der Finsternis. Ihm gehorchten Mächte, von denen die anderen Hexen nur träumten. Dea schauderte erneut bei dem Gedanken an das, was Morgwen zu ihr gesagt hatte – dass sie eines Tages ebenso mächtig sein mochte wie Abakus. Würde auch sie dann Tore zwischen den Welten öffnen können? Sie hatte Angst davor. Immer wieder kam ihr dabei derselbe Gedanke: Wenn es dem Arkanum gelänge, in die andere Welt überzuwechseln, konnte dann nicht auch etwas von dort hierher gelangen? Und wer wusste schon, ob die Schrecken dort draußen nicht viel größer und gefährlicher waren als alles, was Dea und Goten und jeder andere Mensch sich auszumalen vermochten?

Nein, es war keine Frage von Gut oder Böse, ein solches Portal aufzustoßen – es war ein Fehler, schlicht und einfach. Davon war Dea überzeugt.

Sie und ihr Vater redeten noch eine Weile länger, dann nahmen sie Abschied. Zu gerne hätte Dea ihn gefragt, was er und der Hexenmeister all die Monde lang zu besprechen gehabt hatten. Was hielt Goten von Abakus’ Plan, die Stelle der Meister des neuen Jahrtausends einzunehmen und selbst die Geschicke der Welt zu bestimmen? Und, wichtiger noch, was gedachte er, dagegen zu unternehmen?

Doch all diese Dinge mussten unausgesprochen bleiben. Sie hatten es zu lange in der Festung des Arkanums ausgehalten, um jetzt alles aufs Spiel zu setzen. Dea konnte nur abwarten, was ihr Vater tun würde, wenn sie das Portal durchschritten – und dabei so nah wie möglich an seiner Seite bleiben.

Goten gab ihr einen Kuss auf die Stirn, als er sie zur Tür brachte. Es war das erste Mal, dass er sie küsste.

Und das letzte.