Weltuntergang

Dea erkannte schon von weitem, dass irgendetwas nicht stimmte. Etwas war anders als sonst, und das Geschrei, das ihr aus der Ferne entgegenschallte, verriet deutlich, dass es nichts Angenehmes war.

In ihrer Hand hielt Dea den hölzernen Eimer, mit dem ihre Mutter sie zum Wasserholen geschickt hatte. Er baumelte an einem festen Strick aus Hanf; die Fasern schnitten in Deas Hand, als sie die Finger zur Faust ballte. Sie spürte ein seltsames Rumoren im Bauch, während sie sich langsam dem Brunnen näherte.

Giebelsteins Dorfbrunnen stand auf dem Platz vor der Kirche. Er war von einer runden, hüfthohen Mauer umgeben. Normalerweise saßen dort die Frauen, erholten sich von der schweren Arbeit und hielten den einen oder anderen Schwatz.

Jetzt aber saß niemand auf der Brunnenmauer. Alle Leute, die sonst um diese Stunde des Vormittags bei der Arbeit auf den Höfen, in der Schmiede oder der Weberei waren, hatten sich zwischen Brunnen und Kirche versammelt. Ihre Rücken versperrten Dea die Sicht.

Sie stellte den Eimer neben dem Brunnen ab – dort standen schon einige andere, alle leer – und eilte auf die Menschenmenge zu. Alle beobachteten angestrengt das Treiben vor der Kirche. Dea war zwölf Jahre alt und ein wenig zu dünn; das kam ihr nun zugute, als sie sich zwischen den Männern und Frauen hindurchzwängte. Die groben Stoffe, die die meisten von ihnen am Körper trugen, rochen muffig.

Etwa sechzig Menschen standen auf dem Platz, das war immerhin fast ein Drittel aller Einwohner Giebelsteins. Zwischen ihnen und der kleinen Holzkirche, in der sie täglich ihre Gebete sprachen, lag eine Fläche von zwanzig Schritten Breite. Normalerweise war dieser Platz leer, nur am Markttag schlugen hier ein paar Bauern und fahrende Händler ihre Stände auf.

Heute aber herrschte reger Betrieb. Fünf Pferdewagen hatten rechts und links des Kirchtors angehalten. Die Tiere schnaubten unruhig. Männer, Frauen und Kinder kletterten von den Wagen, luden Kisten und Säcke ab und trugen sie schnurstracks ins Innere der Kirche.

Ein einzelner Mann, sehr groß und sehr fett, überwachte das Treiben. Seine Kleidung war aus feinster Seide und Damast. Goldenes Geschmeide lag um seinen feisten Hals, an seinen Wurstfingern glänzten zahllose Ringe und Edelsteine. Fettiger Glanz schimmerte auf seiner Stirn.

Dea erkannte den Mann. Sein Name war Ottwald, ein reicher Händler, der einen halben Tagesritt entfernt ein prächtiges Gut unterhielt. Die Leute erzählten sich, sein Vermögen habe er nur Betrug und dem Handel mit verdorbener Ware zu verdanken. Niemand hier im Dorf mochte ihn, und kaum einer kaufte bei ihm ein. Deshalb war es umso merkwürdiger, dass es ihn heute hierher verschlagen hatte – noch dazu mitsamt seiner Familie und seinem Gefolge.

Und warum, um alles in der Welt, ließ Ottwald die Ladung seiner Karren in die Kirche tragen?

Als einige der Dörfler aufbegehrten und zu wissen verlangten, was hier vorgehe, baute Ottwald sich mit eitler Miene vor ihnen auf, stemmte die Hände in die Hüften und verkündete:

»Bewohner von Giebelstein! Die Sonne geht heute zweimal auf über eurem Dorf. Ihr dürft euch glücklich schätzen. Denn ich, Ottwald von Rehn, habe beschlossen, diese eure Kirche zu meinem neuen Zuhause zu machen.«

Ottwalds Stimme war dröhnend und Ehrfurcht gebietend, und nicht wenige der Giebelsteiner zuckten eingeschüchtert zusammen.

Auch Dea legte keinen Wert darauf, sich mit dem widerlichen Kerl anzulegen. Trotzdem war sie eine der wenigen, die Mut genug zum Widerspruch aufbrachte.

»Warum in unserer Kirche?« rief sie so laut, dass alle es hören konnten.

Von Seiten der Dörfler trafen sie erstaunte Blicke. Dea galt als kratzbürstig und eigensinnig. Sie hatte nicht viele Freunde im Dorf. Dass sie nun aber gegen den mächtigen Händler aufbegehrte, nötigte den meisten Respekt ab.

Im ersten Moment sah Ottwald aus, als wollte er ihren Einwurf gar nicht beachten. Als jedoch, angesteckt von Deas Kühnheit, weitere Rufe laut wurden, sorgte Ottwald mit einer herrischen Handbewegung für Ruhe.

»Es ist ein schönes Gebäude« begann er, »und –«.

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn im selben Moment öffnete sich eine Gasse in der Menschenmenge, und eine gebeugte Gestalt humpelte heran. Es war Hartwig, der Priester von Giebelstein. Er war alt und gebrechlich und musste sich beim Gehen auf einen Krückstock stützen. Ihm war anzusehen, dass er vor Zorn kochte.

»Ottwald!« schrie der Priester aufgebracht. »Was bildest du dir ein? Ein schönes Gebäude, sagst du? Pah!« Der Priester löste sich aus der Menge und blieb vor Ottwald stehen. Der Händler überragte ihn um mehr als eine Haupteslänge. »Ich weiß, was du planst!« brüllte der alte Mann dem Fetten ins Gesicht. »Die Jahrtausendwende naht. Allerorts spricht man davon, dass die Welt bald untergehen wird. Überall im Land fliehen Betrüger wie du in die Kirchen, weil sie glauben, darin vor dem Zorn des Herrn in Sicherheit zu sein.«

Ottwald lächelte dünn. »Nun, wenn du schon alles weißt, alter Mann, so müssen wir uns wohl nicht länger mit Erklärungen aufhalten.«

Mit diesen Worten zog er ein blitzendes Kurzschwert aus seinem Gürtel und hielt dem Priester die Spitze unters Kinn.

»Du wirst dich mir nicht entgegenstellen« zischte der Händler bösartig. »Ich, meine Familie und mein Gefolge beanspruchen diese Kirche vom heutigen Tag an für uns. Ihr alle mögt hier draußen verrotten, wenn das Jüngste Gericht über die Welt hereinbricht. Wir aber werden von dort drinnen zuschauen … und vielleicht, wenn ihr euch bis dahin freundlich verhaltet, ein Gebet für euch sprechen.«

Dea war überzeugt, dass Ottwald den Verstand verloren hatte. Was bildete dieser Kerl sich ein?

Die Nachricht, dass mit dem Wechsel ins neue Jahrtausend die Welt und die Menschheit ein Ende finden sollten, war keineswegs eine Neuigkeit. Schon lange geisterten Gerüchte darüber durchs Land und waren mit den fahrenden Händlern und Wanderpredigern auch nach Giebelstein vorgedrungen. Die Zeiten waren finster und unsicher, und die Menschen fürchteten den Wechsel ins neue Jahrtausend. Denn dann, so hieß es, würden die Engel des Herrn herabfahren, alles verheeren und die Seelen der Menschen mit sich vor den Thron des Allmächtigen führen. Dort würde über ihr Dasein nach dem Tod bestimmt: ewiges Glück im Himmel oder endlose Verdammnis in den Feuern der Hölle.

Hartwig jedoch, der Giebelsteiner Priester, hatte all dieses Gerede als Frevel abgetan. Die Kirche, so verkündete er, glaube nicht an die Gerüchte und unterstütze niemanden, der sie verbreite. Es werde keinen Weltuntergang und kein Jüngstes Gericht geben – nicht in diesem Jahr und nicht im nächsten. Den meisten Gläubigen hatte er mit seinen Worten die Angst genommen, wenn auch nicht die allerletzten Zweifel.

Auch Dea war keineswegs überzeugt, dass sie alle tatsächlich den Januar des Jahres 1000 erleben würden. Doch wenn nicht, was ließe sich daran schon ändern? Nicht das Geringste. Und ganz gewiss würde es niemanden retten, sich mit Gewalt in einer Kirche zu verschanzen.

Ottwald bedrohte den alten Priester immer noch mit seinem Kurzschwert. Als Hartwig seine Krücke zum Schlag gegen den Händler heben wollte, ließ dieser die Klinge unmerklich vorzucken. Die Spitze ritzte den faltigen Hals des Alten. Ein dicker Blutstropfen verschwand im Kragen seiner Kutte.

Die Zuschauer hielten den Atem an. Keiner wagte es, sich zu rühren. Eingeschüchtert warteten sie ab, was weiter geschehen würde. Niemand wollte das Leben des Priesters aufs Spiel setzen.

Ottwald schaute sich um. Sein Gefolge hatte vier der fünf Karren entladen und die Kisten und Säcke ins Innere der Kirche gebracht. Knechte lenkten die leeren Wagen davon, um Platz zu schaffen.

Der fünfte Karren aber blieb stehen. Seine Ladung war mit einer grob gewebten Plane abgedeckt. Jetzt machten sich mehrere von Ottwalds Leuten daran, den Stoff beiseite zu ziehen.

Darunter kam ein Berg aus Gold zum Vorschein.

Nicht einfach eine Kiste voller Geschmeide oder ein kleiner Haufen wertvoller Kleinode. Nein, dies war ein ausgewachsener Schatz! Mit ihm hätte man zehn Dörfer von der Größe Giebelsteins kaufen können und dazu alles Land, das sie umgab. Ottwald war sehr viel reicher, als sie alle geahnt hatten.

Auf Geheiß des Händlers wurde der Goldberg auf dem Platz vor der Kirche abgeladen. Knechte warfen mit Schaufeln die glitzernden Kostbarkeiten achtlos zu Boden, wo sie bald einen brusthohen Hügel bildeten. Anschließend wurde auch der letzte Karren fortgeschafft.

Ottwald schenkte dem Priester einen weiteren grimmigen Blick, dann gab er ihm einen brutalen Stoß, der ihn rückwärts in die Arme der Menge schleuderte.

»Dieses Gold ist meine Opfergabe an den Allmächtigen« rief Ottwald laut in die Runde, während sich sein Gefolge in die Kirche zurückzog. »Wer es anfasst, stirbt auf der Stelle.«

Damit deutete er auf das Dach der Kirche, wo drei Männer mit Langbögen Stellung bezogen hatten.

»Das Gold wird Tag und Nacht bewacht« verkündete Ottwald. »Es wird liegen bleiben, bis der Herr selbst vom Himmel steigt und es dankbar entgegennimmt.«

Hartwig warf ihm einen hasserfüllten Blick zu.

»Du kannst dich nicht mit Gold von deinem Schicksal freikaufen, Händler« rief er laut. »All deine Schätze und deine Überheblichkeit können nicht verhindern, was dir widerfahren wird. Deine Sünden lassen sich nicht in Reichtum aufwiegen. Nicht zur Jahrtausendwende und nicht zur Stunde deines Todes.«

Ottwald lachte nur hämisch über die Worte des Priesters. Dann drehte er sich um und trat in den Schatten der Kirche. Hinter ihm wurde das Tor zugeworfen. Die schweigenden Giebelsteiner hörten, wie an der Innenseite der schwere Riegel vorgelegt wurde.

Einen Moment lang herrschte atemlose Stille. Dann aber redeten mit einem Mal alle durcheinander.

Dea hörte eine Weile lang zu, dann machte sie sich auf den Nachhauseweg. Sie hielt kurz am Brunnen an, schöpfte Wasser in ihren Eimer und lief dann weiter. Dabei überholte sie Hartwig, der sich vom Vorsteher des Dorfes stützen ließ. Der Priester sagte gerade mit verbissener Miene:

»Das wird der Hundsfott noch bitter bereuen.«

Mit zittriger Hand wischte der alte Mann sich das dünne Blutrinnsal vom Hals.

»Was hast du vor?« fragte der Vorsteher.

»Ich werde nach Goten schicken lassen. Er ist der richtige Mann für diese Sache.«

»Goten? Der Hexenjäger?«

Dea sah noch, wie Hartwig nickte, dann war sie an den beiden Männern vorbei und rannte zu der Hütte am Ortsrand, in der sie allein mit ihrer Mutter lebte.

Während sie überlegte, mit welchen Worten sie daheim die Ereignisse schildern wollte, gingen ihr die Worte des Priesters nicht aus dem Kopf.

Goten.

Später, als sie am Herdfeuer davon erzählte, wurde ihre Mutter schlagartig bleich.

»Und er hat wirklich Goten gesagt?« fragte sie mit schwacher Stimme. Deas Mutter war klein und ein wenig pummelig. Sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihrer Tochter. Manchmal, in den düsteren Stunden nach Einbruch der Dunkelheit, ganz allein unter ihrer Decke, hatte sich Dea gefragt, ob sie ihre Mutter wohl auch hätte leiden können, wenn sie nicht mit ihr verwandt gewesen wäre. Ob sie sonst noch etwas verband? Bis heute hatte sie darauf keine Antwort gefunden.

»Er will nach Goten schicken lassen« bestätigte Dea. »Ich hab’s genau gehört.«

Daraufhin stand ihre Mutter auf und wandte sich wortlos zur Tür. Sie ging allein hinaus in den Wald, mit einem Gesicht so weiß wie frische Kuhmilch und Händen, auf denen sich blau jede Ader abzeichnete.

Dea schaute ihr hinterher und wusste, dass sie erst spät am Abend zurückkehren würde, mit trockenen Blumen im Haar und aufgeschürften Knien. So sah sie immer aus, wenn sie im Unterholz niedergekniet war und zu den uralten Göttern des Waldes gebetet hatte.

War etwa das der Grund, weshalb ihre Mutter den Hexenjäger fürchtete? Weil sie insgeheim noch immer eine Anhängerin des alten heidnischen Glaubens war?

Dea war ratlos.

Goten, dachte sie grübelnd. Der Hexenjäger.