Die Wurzel aller Welten

Der letzte Tag des letzten Mondes im letzten Jahr.

In der großen Festungshalle herrschte gespanntes Schweigen. Die sechs Hexen standen in einem Halbkreis rund um einen verblichenen Wandteppich. Jede trug auf der Schulter ihren Hexenkater – nur einer fehlte, jener, den Dea versehentlich versteinert hatte.

Vor dem Teppich, inmitten des Hexenkreises, stand Abakus, das Gesicht zur Wand gerichtet, beide Handflächen auf den Stoff des Teppichs gepresst. Winzige Funken stoben zwischen seinen Fingern empor. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, seine Augen waren geschlossen.

Dea nahm als Letzte ihren Platz im Halbkreis ein. Im selben Moment, als sie zwischen die Hexen trat, spürte sie den Fluss der Magie, die zwischen ihnen waberte. Schlagartig wurde sie von einer unbändigen Kraft erfüllt. Sie fühlte sich mit einem Mal ausgeruht und frisch, überschäumend von magischer Macht.

Aber sie spürte auch noch etwas anderes. Da war etwas in ihrem Geist, etwas Scharfes, Schneidendes, Fremdes. Etwas griff von außen in das Geflecht ihrer Magie und zog einen Faden daraus hervor wie mit einer Sticknadel.

Jemand zapfte ihre Macht an. Abakus! Er lenkte die Kraft seiner Hexen auf sich selbst um, verstärkte damit seine eigenen Fähigkeiten. Offenbar gelang es ihm nur auf diese Weise, das Portal zu öffnen.

Goten stand außerhalb des Kreises und betrachtete das Treiben der Hexen und ihres Meisters mit finsteren Blicken. Er hatte sein Schwert gegürtet. Dea hätte gerne länger zu ihm hinübergeschaut, vielleicht seinen Blick gekreuzt, doch das ging jetzt nicht mehr. Die Beschwörung des Tors nahm sie vollkommen in Anspruch.

Plötzlich erblühten Farben im Gewebe des Teppichs. Das Muster, das ihn einst geschmückt hatte, war über die Jahrzehnte völlig verblichen; jetzt schien die Farbe zurückzukehren, wurde heller und greller, floss in Strukturen, formte ein Bild.

Das Bild einer nächtlichen Waldlandschaft.

Doch dieses Bild bestand nicht aus Wolle oder Leinen. Es war die Wirklichkeit, die sich aus der grauen Eintönigkeit des gebleichten Stoffes schälte. Die Wirklichkeit einer Welt, die aussah wie diese hier und die doch durch unüberbrückbare Grenzen davon getrennt war.

Abakus trat als Erster durch das Tor. Dann folgten, eine nach der anderen, die Hexen. Dea war jetzt eine von ihnen, und sie betrat die andere Welt als Vierte.

Goten schritt als Letzter durch den Teppich. Noch im Gehen zog er sein Schwert blank, bereit für eine Attacke aus dem Schatten der Bäume.

Der Waldboden war weich und mit braunen Nadeln bedeckt. Die Luft roch würzig nach Tannengrün und Harz. Sogar ein Uhu schrie in der Ferne.

Diese Welt unterschied sich durch nichts von jener daheim, abgesehen davon, dass es hier wärmer war und kein Schnee lag. Offenbar herrschte hier eine andere Jahreszeit.

Das Tor blieb hinter der Gruppe als leichtes Wabern sichtbar, ein Flirren und Flimmern der Nachtluft. Dea hatte erwartet, dahinter das Bild der Festungshalle zu sehen, doch da war nichts dergleichen. Lediglich die nächstgelegene Baumreihe war zu erkennen, leicht verzerrt und vage.

»Dort entlang«, flüsterte Abakus und deutete vorwärts.

Dea, Goten und die Hexen folgten ihm. Der weiche Boden dämpfte ihre Schritte.

Nach einer Weile drang vor ihnen der ferne Schein eines Feuers durch das Gewirr der Äste und Stämme. Der Boden war uneben, immer wieder mussten sie in Senken hinabsteigen und auf der anderen Seite mühsam wieder aufwärts klettern. In Anbetracht der Tatsache, dass dies der erste Teil eines Plans war, eine ganze Welt zu unterjochen, erschien Dea ihr Vorgehen ziemlich erbärmlich. Die Hexen des Arkanums gegen die Meister des neuen Jahrtausends – wie pompös das geklungen hatte, als Morgwen davon gesprochen hatte. Stattdessen mussten sie sich nun mit einer Kletterpartie über lockeren Waldboden, Geröll und steinharte Baumwurzeln abfinden.

Trotzdem machte Dea nicht den Fehler, die Macht des Arkanums zu unterschätzen. Sie wusste, zu was die Hexen und Abakus fähig waren – denn ob sie wollte oder nicht, sie war nun selbst eine von ihnen.

Noch immer war ihr schleierhaft, wie Abakus’ Plan vereitelt werden sollte. Sie hatte allmählich das Gefühl, dass ihr Hiersein ein großer Fehler war. Sie hätte niemals mitgehen dürfen, sie nicht und nicht ihr Vater. Andererseits: Hatten sie denn jemals eine Wahl gehabt?

Der Feuerschein wurde heller, und bald erreichte die Gruppe eine bewaldete Anhöhe, von der aus sie in ein kleines Tal hinabschauten.

Der Anblick, der sich dort unten bot, ließ Dea vor Ehrfurcht erstarren.

Das Tal wurde von den Strängen einer gigantischen Wurzel ausgefüllt, keiner schmaler als der Leib eines Ackergauls, die größten so dick wie Türme. Aus ihrer Mitte erhob sich der Stamm eines gewaltigen Baumes, breit wie eine Burg, überzogen von dunkler, borkiger Rinde. Die Äste des Riesenbaumes waren nicht zu erkennen, denn nach rund hundert Schritt Höhe verschwand der Stamm in der Finsternis des sternenlosen Nachthimmels.

»Der Weltenbaum«, murmelte Morgwen atemlos an Deas Seite. »An seinen Zweigen hängen Welten wie Früchte an einem Obstbaum.«

»Wie hoch ist er?«, flüsterte Dea.

»Höher als alles, das du dir vorstellen kannst. Seine Äste umspannen das Diesseits und das Jenseits. So zumindest erzählt man es sich.«

Am Boden des Tals, inmitten des Wirrwarrs aus mächtigen Wurzelsträngen, brannte ein Feuer. Aber es zehrte nicht vom Holz der Wurzel. Seine Flammen ließen den Baum und seine Rinde völlig unangetastet.

»Wo sind sie?«, entfuhr es einer der Hexen.

Von den Meistern des neuen Jahrtausends war keine Spur zu entdecken. Das Wurzelgewirr rund um das Feuer lag da wie ausgestorben.

Abakus starrte düster ins Tal hinab. »Sie sind noch nicht lange fort. Ich kann sie spüren.«

Tatsächlich fühlte auch Dea etwas, eine fremde Präsenz, die sie wie einen exotischen Geruch wahrnahm – allerdings nicht durch die Nase, sondern allein mit der Kraft ihres Geistes. Hätte sie nicht gewusst, dass dieses Gefühl von den mysteriösen Meistern ausging, sie hätte es nicht zuordnen können. So aber hatte sie keinen Zweifel, dass Abakus die Wahrheit sagte. Die Meister waren bis vor kurzem hier gewesen.

Es gelang ihr, einen flüchtigen Blick auf Goten zu werfen. Er nickte ihr kurz zu, ließ aber offen, was er ihr damit bedeuten wollte. Vielleicht sollte das nur heißen, dass alles in Ordnung war. Dass sie nichts zu befürchten hatte. Dass er immer noch Herr seines eigenen Plans war.

Abakus begann den Abstieg ins Tal, seine Hexen folgten ihm. Goten ging als Letzter. Schlitternd und rutschend bewegten sie sich hügelabwärts, bis sie schließlich in die Schatten der äußeren Wurzelstränge traten. Die riesigen Arme der Wurzel erhoben sich vor ihnen wie Mauern und Torbögen aus Holz. Es war, als beträten sie ein Labyrinth, das ein verrückter Baumeister im Auftrag eines noch verrückteren Gottes ersonnen hatte.

Abakus schritt ohne Zögern weiter in die Richtung des Feuers. Goten hielt sich hinter ihm. Die Hexen jedoch wurden immer langsamer und blieben schließlich stehen. Dea war hin- und hergerissen. Sollte sie bei Morgwen bleiben oder aber Abakus und ihrem Vater folgen?

Abakus wirbelte abrupt herum. Zornentbrannt blickte er die Hexen an.

»Was ist in euch gefahren? Warum bleibt ihr stehen?« Seine Stimme war nur ein gefährliches Zischen.

Die Hexen wagten nicht, ihm zu antworten. Dann aber fasste sich Morgwen, die mächtigste von ihnen, ein Herz.

»Es ist anders, als Ihr gesagt habt«, sagte sie.

»Ganz anders«, pflichtete eine zweite Hexe bei.

»So?«, fragte Abakus lauernd. »Und was soll das bedeuten?«

»Ihr habt gesagt, die Meister wüssten nicht, dass wir kommen«, gab Morgwen aufgeregt zurück. »Ihr habt gesagt, wir hätten gewiss leichtes Spiel mit ihnen.«

»Du zweifelst an meinen Worten?« Der Blick des Hexenmeisters war jetzt so feindselig, dass er einen gewöhnlichen Menschen auf der Stelle getötet hätte. »Ist es das, Morgwen? Rieche ich … Rebellion?«

Morgwens Züge zuckten einen Moment lang, dann aber hatte sie sich wieder unter Kontrolle.

»Wo sind die Meister, Abakus? Warum habt Ihr nicht gewusst, dass sie fort sind?«

»Sie sind hier!«

»Dann zeigt uns, wo!«

 

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Ein Anflug von Raserei geisterte über das Gesicht des Hexenmeisters. Dann fuhr er plötzlich herum, riss beide Arme auseinander und warf seinen Kopf in den Nacken. Aus seinem Mund entwich ein hoher, spitzer Laut, vielleicht ein Wort in einer längst vergessenen Sprache.

Rund um die Gruppe stiegen Feuersäulen zwischen den Wurzeln empor und machten die Nacht zum Tag. Gleißende Glut waberte in die Höhe, zerriss die Schwärze und gewährte ihnen einen blitzartigen Blick auf das, was sich über ihnen befand, dort, wo klarer Nachthimmel hätte sein sollen.

Aber da war kein Himmel. Stattdessen spannte sich eine unendliche Masse aus Zweigen über dem Waldland, höher, als ein Vogel hätte fliegen können, und doch einen Herzschlag lang völlig klar und deutlich zu erkennen. Es war der fremdartigste und zugleich majestätischste Anblick, der sich Dea je geboten hatte. Und sie zweifelte, dass sie irgendwann in ihrem Leben noch einmal etwas Vergleichbares würde sehen dürfen.

Sie alle – Abakus, Goten, die Hexen – waren stocksteif geworden. Selbst der grausame Hexenmeister hatte der Faszination dieser endlosen Kuppel aus Holz nichts entgegenzusetzen. Mit seinen Feuersäulen hatte er die Meister aus ihren Verstecken locken wollen – dass sein Zauberlicht stattdessen ein solches Bild enthüllte, machte sogar ihn sprachlos.

Die Flammen vergingen so schnell, wie sie aufgelodert waren, und mit ihnen verschwand auch das Bild der weltumspannenden Baumkrone. Dunkelheit legte sich über den Himmel wie ein schwarzer Vorhang.

Als Abakus, Goten und die rebellischen Hexen aus ihrer Starre erwachten, waren um sie herum sieben Gestalten aus der Finsternis getreten. Ihre Gesichter lagen in den Schatten breitkrempiger Hüte, manche mit Federn geschmückt, andere mit bunten Bändern und Fransen. Sie trugen Kleidung aus Leder und Wolle, gezeichnet von tausendjähriger Wanderschaft.

Die sieben Meister waren in einem weiten Kreis um die Gruppe aufgetaucht. Einige standen am Boden, andere saßen hoch über den Köpfen der Hexen auf den Wurzelsträngen.

Abakus griff blitzschnell in die Falten seines Gewandes und zog ein gewaltiges Langschwert hervor. Er packte es mit beiden Händen und sah zu, wie weiße Flammen an der Klinge emporkrochen und sie in unirdisches Feuer tauchten.

»Tötet sie!«, kreischte er, und seine Stimme drohte sich vor Erregung zu überschlagen. »Tötet sie alle!«

Auch Goten hielt immer noch sein Schwert in der Hand, hatte die Spitze jedoch zum Boden gerichtet. Damit machte er deutlich, dass er die Waffe nicht gegen die Meister des neuen Jahrtausends erheben würde.

Abakus bemerkte es nicht einmal. Vielmehr zuckten seine Blicke über die sieben schattigen Gestalten hinweg, bohrten sich dann in den Pulk der Hexen. Dea spürte, wie die anderen um sie herum immer unruhiger wurden. Mehr als eine der Hexen verließ der Mut. Die Anschuldigungen Morgwens hatten ihnen vor Augen geführt, dass ihr Anführer keineswegs allmächtig war. Und obwohl er Recht behalten hatte – die Meister waren tatsächlich die ganze Zeit über hier gewesen –, vertrauten sie nicht länger darauf, dass Abakus’ Kräfte sie vor der Macht der Meister bewahren würden.

Eine der Gestalten ergriff das Wort. Es war ein Mann, der auf einem der hohen Wurzelbögen saß, ein Bein baumeln ließ und das andere angewinkelt und mit beiden Armen umschlungen hatte. Auch sein Gesicht blieb im Schatten der Hutkrempe unsichtbar.

»Warum richtest du deine Klinge gegen uns, Hexer?«, fragte er. Seine Stimme klang rau und heiser von vielen Nächten des Geschichtenerzählens.

Abakus gab keine Antwort. Stattdessen wies er mit der Spitze seines Flammenschwertes auf den Mann, der gesprochen hatte. Im nächsten Augenblick löste sich ein Feuerstrahl aus der Klinge und fraß sich durch die dunkle Nacht auf den Meister des neuen Jahrtausends zu.

Der Mann regte sich nicht. Nach allem, was Dea über sie gehört hatte, waren dies vertrauensvolle und friedliche Geschöpfe.

Die Flammenzunge aus Abakus’ Schwert raste auf den Meister zu, kam immer näher und näher. Dann aber, ganz plötzlich, verpuffte sie, keine zwei Handbreit vom Gesicht des Mannes entfernt.

Abakus riss die Augen auf. »Was –«. Er brachte die Frage nicht zu Ende. Denn noch im selben Moment erkannten alle, was geschehen war.

Dea hatte beide Arme ausgestreckt und zeigte mit allen zehn Fingern gleichzeitig auf den Meister, der immer noch oben auf der Wurzel kauerte. Schweißtropfen standen auf ihrer Stirn. Die Anstrengung war größer, als sie erwartet hatte. Dennoch war es ihr gelungen, Abakus’ Angriff auf den Meister des neuen Jahrtausends abzublocken. Sie hatte der Gestalt dort oben das Leben gerettet.

»Du?«, brüllte Abakus entgeistert. »Ich hätte es mir denken sollen!«

»Dea!« Auch Morgwen blickte fassungslos auf sie herab.

»Geht!«, brachte Dea zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Nimm die anderen, Morgwen, und verschwinde von hier. Geht zurück durch das Tor.«

»Verräterin!«, zischte eine der Hexen bösartig und wollte einen entschlossenen Schritt auf Dea zumachen.

Doch Morgwen hielt sie zurück. »Nein. Kein Kampf. Sie ist eine von uns.«

»Bin ich das wirklich?«, fragte Dea leise.

»Du hast dem Arkanum Treue geschworen.«

»Was hättest du getan, an meiner Stelle?«

Morgwen wollte etwas erwidern, doch Abakus kam ihr zuvor. Sein Ruf gellte durch das Tal, brach sich an den Strängen der Weltenwurzel und hallte über die Wipfel der Waldhänge. »Greift sie an!«, brüllte er und ließ das Flammenschwert durch die Luft wirbeln. »Tötet sie alle!« Sein Blick streifte Dea, die immer noch rund zehn Schritte von ihm entfernt stand. »Und du, Kind, wirst erleben, was es heißt, den Zorn des Abakus heraufzubeschwören.«

Dea ließ die Hände sinken. Wenn der Hexenmeister in diesem Augenblick eine seiner Flammenzungen auf sie geschleudert hätte, hätte sie ihm nichts entgegenzusetzen gehabt. Sie fragte sich, ob es an dieser Welt lag, dass selbst ein so einfacher Zauber wie der Schutzschild vor dem Gesicht des Meisters ihr solche Mühe abverlangte.

Zumindest aber bedeutete dies, dass auch Abakus und die anderen Hexen nicht im Vollbesitz ihrer Macht waren.

Vier Hexen lösten sich aus dem Pulk rund um Morgwen und Dea, teilten sich auf und sprangen vier Meistern des neuen Jahrtausends entgegen. Die rätselhaften Gestalten zwischen den Wurzeln blieben ungerührt auf ihren Plätzen, so als gäbe es für sie nichts zu befürchten.

Dea und Morgwen sahen einander an. Dea konnte nur ahnen, was in ihrer Lehrerin vorging. Morgwen war eine Hexe, die sich dem Bösen verschrieben hatte. Was sie jetzt zögern ließ, war nicht etwa ein Schwanken von der dunklen zur hellen Seite der Magie. Vielmehr war es Abakus selbst, der sie zaudern ließ. Ihre einstige Überzeugung von der Herrschaft des Hexenmeisters über das Arkanum war im Laufe des vergangenen Jahres gewichen, und als sie ihn jetzt so vor sich sah, tobend und außer sich, verfestigte sich in der Hexe endgültig der Widerstand gegen ihren Meister.

Morgwen nickte Dea kurz zu, dann wirbelten beide herum und sandten einen gemeinsamen Stoß aus gebündelter Magie in Abakus’ Richtung. Wie ein Rammbock aus glühendem Stahl krachte der Zauber in den Rücken des Hexenmeisters, schleuderte ihn vorwärts und prellte ihm das Flammenschwert aus der Hand.

Die vier Hexen, die sich den Meistern des neuen Jahrtausends entgegengestellt hatten, verharrten. Abwartend blickten sie auf ihren Herrn, der sich in diesem Augenblick vom Boden hochstemmte und das Gesicht Dea und Morgwen entgegenwandte.

Seine Augen brannten. Eisblaue Flammen schlugen aus den Höhlen, loderten an seiner Stirn empor und fauchten hoch über seinen Schädel hinaus. »Ihr wagt es …!«, brauste es aus seinem Schlund, und ein frostiger Windstoß wehte Dea und Morgwen ins Gesicht.

Die beiden wechselten in stummem Einverständnis einen erneuten Blick, dann ließen sie ihre Magie ein zweites Mal gegen den Hexenmeister anbranden. Abakus wurde getroffen, doch jetzt überraschte ihn der Angriff nicht mehr; diesmal schleuderte ihn der magische Hieb auch nicht zu Boden. Lediglich ein leichtes Beben lief durch seinen Körper. Das Feuer in seinen Augenhöhlen wurde zwei, drei Herzschläge lang so hell, dass Dea den Blick abwenden musste.

Um sie herum erstarrte die Welt. Die vier Hexen zögerten noch immer, ihren Angriff auf die Meister fortzusetzen. Die fünfte Hexe in Deas und Morgwens Rücken rührte sich nicht. Goten hielt sein Schwert mit beiden Händen, hob die Spitze aber nicht vom Boden – worauf er wartete, wusste wohl nur er selbst.

Die Meister verharrten auf ihren Wurzeln und am Boden, bewegten sich nicht um Haaresbreite und beobachteten das Treiben ihrer Gegner aus dem Dunkel ihrer Hutschatten, so als ginge es in diesem Kampf gar nicht um sie oder um das Schicksal der Welt.

Abakus stieß ein hohes Kreischen aus. Es klang, als schreie ein Dämon in seinem Inneren auf, eine Bestie, die nichts mit einem Menschen gemein hatte. Er ballte die Fäuste, öffnete sie abrupt wieder und schleuderte aus seinen Handflächen zwei glühende Feuerbälle auf Dea und Morgwen.

Als sie die Kugeln sah, wusste Dea, dass sie sie nicht abwehren konnte. Stattdessen warf sie sich zu Boden und kniff die Augen zu, damit das Feuer sie nicht blendete. Mit einem Fauchen raste der Flammenball über sie hinweg und schlug irgendwo hinter ihr in das Gewirr der Wurzeln.

Auch Morgwen bückte sich, wenn auch eine Spur zu spät. Die Hitze der Kugel versengte ihr langes Haar. Ihr Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Aber Abakus’ Zauber hatte sie nur gestreift, war über sie hinweggewirbelt und setzte beim Einschlag eine hohe Eiche in Brand.

Dea schaute besorgt zu ihrer Lehrerin auf. Morgwen war geschwächt, das musste auch Abakus erkennen. Doch statt einen erneuten Feuerstoß abzugeben, versuchte er es nun mit einer besonders tückischen List. Ganz nahe bei Dea und Morgwen befand sich immer noch die fünfte Hexe, die bis zuletzt gezögert hatte, sich auf eine der beiden Seiten zu schlagen. Doch nun ergriff Abakus’ Geist von ihr Besitz. Bevor Dea einen Warnruf ausstoßen konnte, war die Frau bereits heran, stürzte sich von hinten auf die ahnungslose Morgwen und verwickelte sie in ein wildes Handgemenge. Beide Hexen setzten ihre magischen Kräfte ein, und beiden wurde zu spät bewusst, was sie damit anrichteten.

Das Knäuel ihrer kämpfenden Körper wurde plötzlich von gleißendem Licht umhüllt. Dea schrie auf, doch sie war machtlos. Als der weiße Glutball erlosch, waren die beiden Hexen verschwunden, Morgwen ebenso wie ihre Gegnerin. Sie hatten sich gegenseitig in schwarzen Rauch aufgelöst.

 

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