Das Arkanum

Zur gleichen Zeit an einem anderen Ort, viele Tagesritte von Giebelstein entfernt, fragte sich der böseste Mann der Welt, wie es wohl kam, dass er, ausgerechnet er, eine Laus in seinem Bart entdecken musste.

Abakus – seines Zeichens Hexenmeister und Magister der schwarzen Magie – stieß einen Fluch aus, der irgendwo in einem fernen Land wie von Geisterhand den Turm eines Tempels zum Einsturz brachte. Er selbst wusste freilich nichts davon, und hätte er es gewusst … nun, er hätte wohl herzhaft darüber gelacht. Und mehr noch über die Menschen, die lebendig unter den Trümmern des Turmes begraben wurden.

Aber da Abakus noch nicht herausgefunden hatte, wie mächtig er und seine Magie tatsächlich waren, passierten ihm manchmal solche Dinge. Er fluchte, und irgendwo geschah eine Katastrophe; er schnäuzte sich die Nase, und anderswo ging ein Wald in Flammen auf; er schnarchte im Schlaf, und draußen auf dem Meer brach der Mast eines Schiffes in Stücke. Ja, diese Dinge passierten, und gnade der Menschheit an jenem Tag, an dem Abakus erkennen würde, welche verheerende Macht wirklich in ihm schlummerte.

Er ahnte natürlich, dass er mächtig war, aber noch gelang es ihm nur, einen winzigen Bruchteil seiner Kräfte gezielt einzusetzen. Schlimm genug? Von wegen, dachte Abakus – je schlimmer, desto besser! Denn nichts wünschte er sich sehnlicher, als dass die ganze Welt unter seiner Schreckensherrschaft erzitterte.

Und nun das – eine Laus! In seinem ehrwürdigen Bart!

Abakus pflückte das winzige Insekt mit Daumen und Zeigefinger aus seinem Barthaar und beobachtete einige Herzschläge lang, wie es auf seiner Fingerkuppe umherirrte, auf der Suche nach einem Versteck. Das Tier hatte Angst, und das gefiel Abakus. Im ersten Moment wollte er die Laus einfach zerdrücken, aber dann fiel ihm etwas Besseres ein. War es nicht das größte Glück einer Laus, sich in den Haaren anderer Lebewesen festzusetzen? Dafür musste sie natürlich sehr klein und unauffällig sein. Wenn sie das aber nun nicht mehr war …? Abakus grinste. Was für ein herrlich teuflischer Gedanke, ganz und gar seiner würdig!

In Gedanken sagte er einen Zauberspruch auf, den er in einer uralten Pergamentrolle aus dem antiken Griechenland entdeckt hatte. Noch fehlte ihm das Geschick, diesen Zauber auch auf Menschen anzuwenden – für ein Insekt aber reichte es allemal.

Ein dumpfes Glimmen legte sich um die winzige Laus auf Abakus’ Fingerspitze. Ihre Beinchen zuckten, der ganze kleine Körper schien sich wie unter Krämpfen zu schütteln.

Abakus brach in schallendes Gelächter aus und schüttelte das Tier vom Finger. Wie ein glühender Funke stürzte es zu Boden. Sein Leuchten verriet deutlich, wo es in einer Fuge des Dielenbodens aufkam, nicht weit entfernt von der Treppe, die aus dem Turmzimmer hinab in die übrigen Kammern und Säle der Festungsruine führte.

Um die Veränderung besser erkennen zu können, ging Abakus neben der leuchtenden Laus in die Hocke. Da, jetzt ging es los!

Die Laus wuchs. Sie wurde größer und größer, erst wie eine Erbse, dann wie eine Kirsche, und immer noch wuchs sie weiter. Als sie so groß war wie ein Apfel, kam Abakus der Gedanke, dass es wohl an der Zeit sei, den Zauber aufzuhalten. Eine große Laus, die keine Nahrung mehr fand, war in seinen Augen ein gelungener Spaß! Eine Riesenlaus aber, die ihn oder eine seiner Hexendienerinnen gleich mit Haut und Haaren verschlingen würde, war nicht gerade das, was er sich unter einem Scherz vorstellte.

Oh nein, ganz bestimmt nicht!

Jetzt hatte die Laus schon die Größe einer Runkelrübe. Abakus sprang auf und betrachtete das wuchernde Insekt voller Abscheu. Es war längst zu groß, um es einfach unter dem Stiefelabsatz zu zertreten.

Hastig versuchte er, sich an einen Gegenzauber zu erinnern. Als ihm die Formel endlich einfiel, hatte die Laus die Höhe einer Katze.

Abakus wich zurück und murmelte dabei die magischen Worte. Augenblicklich erlosch das Leuchten rund um den schwarzen Insektenkörper, und das Wachstum der Laus hörte auf. Sie blieb so groß wie ein junger Wolf, und in Anbetracht ihrer vielen Beine und zuckenden Mundwerkzeuge war das wahrlich kein erfreulicher Anblick.

Einen Moment lang war das Tier wie gelähmt. Es schien keine Schmerzen zu haben – zumindest zuckte es nicht mehr so unkontrolliert. Es versuchte augenscheinlich, sich in der neuen Lage zurechtzufinden.

Abakus grübelte fieberhaft, wie er das Tier wieder klein bekäme, ehe er schließlich auf die Idee kam, dass das gar nicht nötig war. Es reichte, wenn er einfach einen Würgezauber aussprach, der den Panzer der Laus zerspringen ließ. Oder einen Feuerblitz, der sie in Asche verwandelte. Oder aber – Die Laus wirbelte auf ihren Beinen herum und huschte blitzschnell zur Treppe. Zum Teufel noch mal, sie war wirklich schnell wie der Blitz! Abakus hob rasch beide Hände, doch ehe er die magischen Silben herausbrachte, raste die Riesenlaus bereits die Stufen hinunter und verschwand in der Tiefe des Turms.

Wunderbar!, durchfuhr es Abakus wütend. Und das musste gerade ihm passieren! Die sieben Hexen, die sich unten in der Ruine versammelt hatten, würden sich hinter seinem Rücken vor Lachen ausschütten.

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