20

 

Als sie abhoben, fühlte Laima sich einfach leer.

Nichts war da. Kein Schmerz. Keine Trauer. Keine Wut.

Sie hatte versucht, sich in Erinnerungen zu flüchten, sich an etwas festzuhalten, aber es war nicht möglich. Es war nichts da, an das sie sich klammern konnte. Alles war einfach Leere.

Sie fühlte sich nicht mal selbst. Sie hatte sich aufgelöst. Als sei sie zu Luft geworden, schien ihr der Widerstand, den ihr Körper der Welt bot, wie weggeblasen. Nur ein Punkt war geblieben, wie die Flamme einer Kerze in der Dunkelheit des Nichts. Mehr war es nicht, was sie zu spüren fähig war.

Unter ihnen glitt die schier endlose Wüste dahin. Farblos, konturlos, formlos.

Auch wenn die Dinge da waren, so waren sie doch für Laima ohne Bedeutung. Nichts hatte mehr Bedeutung. Nicht der Schmerz. Nicht die Welt. Nicht mal der Tod ihrer Mutter. Alles war eins. Ein riesiges Nichts, in dem sich Dinge spiegelten. Sie tauchten auf und verschwanden wieder, wie Fata Morganas in der Wüste.

Alle schwiegen in dem kleinen Flugzeug. Selbst Roger Schüssli hatte angesichts der Situation kein Theater gemacht. Er hatte sich eine Binde über die Augen gelegt, sodass er nicht aus dem Fenster sehen konnte und versuchte, sich zu entspannen.

Niemand wollte weiter in Laimas Leid vordringen und alle versuchten, sich einigermaßen normal zu verhalten.

Sie hatten sich von Tsin verabschiedet. Es war ein sehr herzlicher Abschied. Er hatte sie alle als Freunde wieder eingeladen. Sie müssten möglichst bald wiederkommen.

Thian hatte sich stangenweise mit Zigaretten eingedeckt und Professor Carlsen hatte dem alten Schnapsbrenner, zur Sicherheit, eine kleine Reserve von zwölf Litern seines Destillats abgeschwatzt. So waren sie gut gerüstet aufgebrochen. Der Professor schnarchte lautstark und seine Fahne breitete sich im ganzen Flugzeug aus.

 

Laima fing an, den Zustand, in dem sie sich befand, nicht als etwas Bedrohliches zu sehen. Sie nahm ihn als etwas Eigenes wahr.

War diese Leere, die sie fühlte, vielleicht nicht ein Nichts, sondern ein Etwas? Waren Etwas und Nichts nicht das Gleiche? Zwei Seiten einer Medaille. Hielt sie damit die ganze Medaille in ihrer Hand?

Dieser Zustand fühlte sich nicht schlecht an. Auch wenn es eine grenzenlose Leere war, die sie zu spüren glaubte. War es nicht auch grenzenlose Freiheit? Die Freiheit von Schmerz? Die Freiheit von Liebe? Dieser Gedanke erschreckte sie. War es nicht falsch, die Freiheit von Liebe zu wollen? War man dann nicht herzlos? Oder dachte sie gerade darüber nach, was andere Leute von ihr denken konnten? Dachte sie darüber nach, was sie gelernt hatte?

Liebe deinen Nächsten! Und wenn nicht? Wenn sie ihn weder liebte noch hasste. Wenn sie ihn einfach ließ, wie er war. Wenn sie einfach war, wie sie war. Was dann? War sie ein schlechter Mensch? Sie war einfach.

Sie war verwirrt. Dieses Nichtsein würde bald wieder vergehen.

 

„Bald werden wir die Seen am Fuße des Kailash erreichen“, sagte von Stein.

„Was war das für eine Geschichte mit diesen zwei Seen?“, fragte Slinkssons.

„Der Legende nach ist der Manasarovar, der sanfte, positive und freundliche See“, sagte von Stein. „Der hinduistische Ramayana-Epos sagt, wer immer auch den Manasarovar berührt oder in ihm badet, wird ins Paradies eingehen. Wer von seinem Wasser trinkt, wird in Shivas Himmel kommen. Der Rakshastal hingegen gilt als der dunkle, zerstörerische See. Das Wasser soll sogar tödlich sein, wenn man es trinkt. Dabei sind beide Gewässer, was ihre chemische Zusammensetzung angeht, identisch. Soweit man weiß. Tatsächlich sind bis jetzt alle wissenschaftlichen Untersuchungen gescheitert.“

„Warum?“

„Der Manasarovar gilt nicht nur als sanft, sondern seine Oberfläche ist auch immer ruhig. Sein Wasser türkisblau und klar. Der Rakshastal dagegen ist immer aufgewühlt und schwarz. Über dem Rakshastal herrscht immer Sturm, egal wie das Wetter auf dem Manasarovar auch ist.“

„Das ist doch alberner Aberglaube“, sagte Sam.

„Zumindest gibt es im Rakshastal keine Wasserpflanzen oder Fische wie im Manasarovar. Soviel steht fest. Eine wissenschaftliche Erklärung dafür wurde oder konnte noch nicht gefunden werden.“

„Und dazu wollen sie da jetzt hin?“

„Genau.“

„Und sie denken, dass es so einfach wird, wenn niemand es bis jetzt geschafft hat?“, fragte Sam.

„Ich dachte, es ist sowieso nur alberner Aberglaube. Also warum sollte ich es nicht schaffen?“

„Warum fliegen wir die ganze Zeit so niedrig? Landen wir schon?“, fragte Professor Carlsen.

Thian sagte etwas zum chinesischen Piloten. Der deutete nur auf seine Geräte. Die Zeiger der Anzeigen drehten sich wie wild rückwärts. Der Kompass rotierte um seine eigene Achse.

„Er sagt, wir befinden uns in einer anormalen magnetischen Zone. Sie ist neben dem Bermudadreieck als das gefährlichste Gebiet der Welt in den Aviationskarten verzeichnet. Er fliegt so niedrig, damit wir im Fall eines kompletten Ausfalls aller Geräte nicht so tief stürzen.“

„Sieht so aus, als wären bereits alle Geräte ausgefallen“, sagte Schüssli.

„Alle hieße, auch der Motor. Er sagt, die Geräte laufen hier rückwärts, weil eine magnetische Umpolung stattfindet.“

„Das ist ja mal wieder beruhigend“, sagte Figaro Slinkssons. „Wenigstens fallen wir dann dieses Mal nicht so tief.“

„Sehen sie dort“, sagte Laima. „Der Kailash!“

Vor ihnen tauchte der imposante Berg mit seiner weißen pyramidalen Spitze auf, die in der Sonne glänzte.

„Dann sind wir bald da“, sagte von Stein.

„Mit jedem Meter, den wir hinter uns haben, sind wir ein Stück mehr in Sicherheit“, sagte Sam.

„Ich dachte gerade, mit jedem Meter wächst die Gefahr eines tödlichen Crashs?“, sagte Slinkssons.

„Der eine sieht, was er hinter sich hat“, sagte der Professor. „Der andere, was er noch vor sich hat. Und das ist früher oder später der Tod. So ist es, mein Lieber.“

 

„Dort vor uns, die Seen!“

„Der Rechte ist wirklich türkis und der Linke ist tiefschwarz“, sagte Sam.

„Du wirst uns doch nicht abergläubisch werden“, sagte Slinkssons.

„Ich glaube nur, was ich sehe“, sagte Sam.

Sie landeten unsanft auf der Pistenstraße, genau zwischen beiden Seen.

„Hurra! Und vergiss nicht zu klatschen, Roger!“, sagte Sam, als der Flieger ausrollte.

Schüssli verzog nur abschätzig das Gesicht und stieg als Erster aus.

Sie schlugen ihr Lager an der schmalsten Stelle zwischen dem Manasarovar und dem Rakshastal auf. Nachdem sie alles ausgeladen hatten, bezahlte von Stein den Piloten, der sich dankend verabschiedete. Mit leichter Wehmut sah Schüssli dem Flugzeug nach.

„Jetzt geht es nur noch nach vorne, mein Lieber“, sagte Professor Carlsen und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter.

„Keine Wurzeln schlagen, Roger“, sagte von Stein, „schließlich sind wir zum Arbeiten hier.“

„Auch zum Feiern, meine Lieben“, sagte Professor Carlsen und hielt eine Flasche Schnaps hoch, die ihm beim Ausladen zufällig in die Hände gefallen war.

„Sie finden wohl immer einen Grund zum Feiern, Professor?“, sagte von Stein. „Aber erst wird das Lager aufgeschlagen.“

„Das ist doch ein Wort, mein Lieber. Ein Strenges zwar, aber ich akzeptiere es.“

 

Es dauerte nicht lange, bis sie alles aufgebaut hatten.

Sam brutzelte etwas verführerisch Riechendes auf mehreren Gaskochern gleichzeitig. Und Laima hatte sich auf ihrer Matte unter dem hellblauen Himmel ausgestreckt und sah den Sternen dabei zu, wie sie langsam hervortraten, während die Nacht sich herabsenkte.

Der Professor hatte zwar bereits mit dem Einsiedler getrunken, streichelte aber unentwegt die Schnapsflasche und ließ sie nicht aus den Händen.

Er wartete auf von Steins Kommando. Als sie schließlich nach dem Essen zwischen den Zelten saßen, nahm er einen erlösenden Schluck, mit dem er fast ein Viertel der Flasche leerte.

„Thian, du auch“, sagte er und hielt ihm mit unmissverständlicher Geste die Flasche hin.

Er wollte erst ablehnen, aber der Professor drückte sie ihm regelrecht unter die Nase. Dann nahm Thian einen kleinen Schluck und steckte sich dazu eine Zigarette an.

„Weißt du was, mein guter Thian?“

Von Stein übersetzte, da der Professor des Russischen nicht mehr ganz mächtig zu sein schien.

„Ich will mit dir Freundschaft trinken, mein Lieber.“

Thian ließ sich, angesichts dieser Geste, zu einem weiteren Schluck verleiten. Er verzog bitterlich sein Gesicht von dem starken Geschmack.

„Das hätten wir schon viel früher tun müssen!“

„He, nicht so geizig, ihr beiden“, sagte Sam und bekam mit einem Lächeln des Professors ebenfalls die Falsche gereicht.

So begann, mit hereinbrechender Dunkelheit, eine vielversprechende Nacht.

 

„Ich weiß ein schönes Spiel“, sagte Professor Carlsen und holte ein Messer aus der Tasche. „Das ist mein treues Messer.“

Das Messer hatte eine durchgehende Klinge und war etwas über zwanzig Zentimeter lang.

„Reich mir doch mal eins deiner Holzbretter, mein lieber Sam.“

„Aber klar doch, Professorchen. Aber keinen Blödsinn machen.“

„Aber nicht doch. Keineswegs, mein Lieber. Außerdem wäre das nicht so schlimm. Ich bin ein alter Mann. Wenn ich einen Finger verlieren würde, wäre es ja nicht für lange. Also seht her ...“

Er legte seine Hand flach auf das Brett und spreizte die Finger.

„He, vorsichtig!“, sagte von Stein.

„Ich bin ein groß genuger Junge“, sagte der Professor, wobei er leicht lallte.

„Also ich bin da nicht so sicher“, murmelte von Stein.

„Meine Lieben, aufgepasst!“

Er schlug das Messer mit voller Wucht ins Holz.

Laima schrie auf.

„Nix passiert. Nix passiert, kleines Fräulein. Ich kann das.“

Dann ließ er träge das Messer zwischen seinen gespreizten Fingern ein Mal vor und ein Mal zurücklaufen, wobei er es immer wieder ins Brett stieß.

„So! Gesehen? Kann ich doch. Jetzt Zeit stoppen, bitte. Machen sie das, lieber Sam?“

„Klar doch.“

„Los gehts!“, sagte Professor Carlsen und versuchte dieses Mal besonders schnell die Messerspitze ins Holz, zwischen seine Finger zu bringen.

„Jahh! Geschafft. Welche Zeit habe ich?“

„Sieben Komma drei Sekunden genau“, sagte Sam.

„Diese Genauigkeit ehrt sie, mein lieber Sam. Wer mich schlägt, muss keinen Schnaps trinken!“

„Ob das eine Strafe ist?“, sagte von Stein.

„Versuchen sie es, mein Lieber?“, sagte Professor Carlsen und reichte Gerold von Stein das Messer.

„Nein, nein“, sagte er. „Ich hänge zu oft an meinen Fingern. Die werde ich noch brauchen. Nichts für mich also. Und wer verliert, muss trinken?“

„Genau! Slinkssons? Mal gegen den Chef gewinnen?“

„Danke. Zu viel der Ehre, aber ich passe.“

Thian streckte die Hand aus.

„Sieben Komma drei. Das schaffst du locker, mein Lieber.“

Thian hatte deutlich weniger getrunken als der Professor. Was keine Kunst war. Allerdings beschlich Laima das Gefühl, dass der Professor eine gewisse Übung in diesem Spiel hatte.

„Schiedsrichter! Sam, der Gerechte, bitte!“

„Auf die Plätze!“

Thian machte sich bereit.

„Eins muss ich noch sagen“, warf der Professor ein und hob die Hand. „Wer sich verletzt, trinkt die Flasche auf Ex!“

Von Stein übersetzte. Thian hatte das Messer bereits in der Hand und nickte, zum Zeichen, das er die Regeln akzeptierte.

„Auf die Plätze, fertig, ... los?“

Sams Arm schnellte herunter, als hielte er eine unsichtbare Fahne wie bei einem Wettrennen in der Hand. Alle Muskeln in Thians Körper spannten sich an. Hölzern und verkrampft schaffte er die Strecke hin und hätte beinah den letzten, den kleinen Finger, erwischt. Dann wieder zurück. Die Sekunden rasten dahin.

„Stopp!“, schrien alle aus einer Kehle, als Thian das Messer zum letzten Mal ins Holzbrett rammte. Sam kippte vor Anspannung mit dem ganzen Oberkörper nach vorn, während er die Stoppuhr drückte.

„Sechs Komma ...“

Alle schrien jubelnd auf.

Thian hatte gewonnen. Sie gratulierten und klopften ihm auf die Schulter.

„Sechs Komma vier Sekunden ist die neue Bestmarke!“, rief Sam in den Freudentaumel hinein.

„Trinken, trinken ...“, riefen alle im Chor.

Der Professor ließ sich nicht zwei Mal bitten und nahm einen tiefen Schluck.

„Das werde ich aber nicht auf mir sitzen lassen!“, sagte er, wischte sich den Rest des Schnapses mit dem Ärmel vom Mund und stellte mit kriegerischer Geste die Flasche auf den Boden. Er krempelte die Ärmel auf und riss das Messer aus dem Brett.

„Sieger, Sieger“, rief der Professor, um sich zu motivieren. Er stieß dazu das Messer in den schwarzen Nachthimmel. Dann legte er seine Hand auf das Brett und ließ der scharfen Klinge ihren Lauf.

Sam drückte gerade noch die Stoppuhr. Tak, tak, tak ...

Die Messerspitze berührte das Holz nur kurz, um in einem minimal ausgeführten Bogen über die Finger zu huschen. Nicht mal ein Zucken der Hand. Sie lag wie angeschraubt da.

... tak, tak.

„Jaahhh!“, schrie der Professor und riss die Arme in die Luft.

„Fünf Komma neun!“

„Sieger, Sieger“, schrie Professor Carlsen außer sich. „Trinken, trinken, trinken. Los, mein lieber Thian! Pivo! Pivo!“

Thian setzte die Flasche an und nahm einen ordentlichen Schluck. Dann riss er dem Professor das Messer aus der Hand.

„Thian, Thian“, feuerten ihn alle an.

Er wollte gewinnen.

Man konnte deutlich sehen, dass Thians Bewegungen bereits stark vom Alkohol gezeichnet waren. Er zog das Brett zu sich heran, um besser seine Hand draufzulegen. Dann wartete er kaum ab, bis Sam die Stoppuhr zurückgestellt hatte. Er konnte Thian gerade noch zunicken, als dieser bereits das Messer in das Brett schlug. Seine Bewegungen waren weitaus unorganischer, ja klobig und vom Schnaps ungenau. Die Klinge glitt zwischen zwei Fingern durch die Haut, er merkte es gar nicht, dann traf die Spitze den kleinen Finger, den sie vorher nur knapp verfehlt hatte.

Jetzt erst schrie er auf und sah das Blut.

„Scheiße“, lallte er.

Alle waren sprachlos.

„Du redest ja nicht nur Russisch und Chinesisch!“

„Scheiße, nein. Verbinde mir doch einer die Hand!“

Alle waren so verblüfft, dass sich niemand bewegte.

Dann holte von Stein einen Verband.

„Ich sollte nicht so viel saufen!“, sagte Thian. „Das bekommt mir nicht. Das war schon immer mein Problem. Schon in Cambridge.“

„Du hast in Cambridge studiert?“

„In Cambridge und Moskau!“

„Und was sollte das ganze Theater? Ich dachte, es wäre ein Fehler von Professor Bersinsch gewesen, dass wir einen russischen Führer gekriegt haben“, sagte von Stein, als er ihm seine Hand verband.

„Nein. Ich sollte euch so besser ausspionieren. Gib mir einen Schluck Schnaps. Jetzt ist sowieso alles egal. Immer wenn ich besoffen bin, fange ich an zu reden.“

„Und was solltest du rauskriegen?“

„Es war nur eine Tarnung. Damit ihr denkt, ich verstehe nichts. Damit ihr euch frei unterhaltet!“

„Ich dachte mir schon, dass da was nicht stimmt“, sagte Laima.

„Und was hätten wir sagen können?“

„Können! Alles könntet ihr sagen. Aber wir wollen vor allem, dass ihr in diese Höhlen kommt, oben auf dem Kailash. Niemand hat es bisher geschafft. Nicht nur weil der Berg heilig ist, steigt niemand rauf. Die Tibeter glauben, es sei der Sitz der Götter, Shiva und all der Kram. Aber der Berg lässt niemanden an sich ran. Die Höhlen sind durch Assuri geschützt. Energien oder Geister oder so was, die alles blockieren.“

„Und wozu dann ausspionieren?“

„Das machen wir immer so. Ich sollte sicherstellen, dass ihr es auch bis hierher schafft!“

„Na, das ist dir auch gelungen“, sagte von Stein. „Obwohl ich schon dachte, du seist schuld an dem Flugzeugzwischenfall mit Kapitän Ranjid. Schließlich bis du damals gerade vorher zu uns gestoßen!“

„Nein, damit habe ich nichts zu tun!“

„Dann haben wir von dir ja auch nichts zu befürchten“, sagte Sam.

„Wenn du auch die Wahrheit sagst“, wandte Professor Carlsen ein. „Vielleicht tischst du uns auch jetzt ein paar Lügen auf, um dich gut Freund zu machen.“

„Ich schwöre. Gib mir einfach Schnaps statt Wahrheitsserum.“

„Na gut“, sagte von Stein. „Belassen wir es dabei. Gehen wir schlafen.“

„He! Seht die Lichter dort!“, rief Schüssli.

Alle drehten sich um.

„Die Sterne da haben sich gerade bewegt.“

„Ich glaube, du bist sternhagelvoll, mein Lieber“, sagte der Professor.

„Scheiße, jetzt sehe ich es auch“, sagte Figaro Slinkssons. „Sie bewegen sich!“

Selbst Laima sah in der Nähe des im Mondlicht leuchtenden Kailash einige helle Punkte. Sie waren deutlich heller, als die umgebenden Sterne und bewegten sich mit unglaublicher Geschwindigkeit.

„Die bewegen sich in Formation“, sagte Slinkssons. „Schnell mein Fernglas. Eine Kamera. Das müssen wir aufnehmen.“

„Wenn die zu uns runterkommen?“, sagte Schüssli.

„Wenn die deine volle Hose riechen, hast du gute Chancen, dass sie schnell wieder abhauen“, sagte Sam.

„Sie bewegen sich langsamer! Jetzt beschleunigen sie wieder!“

„Von null auf hundert in einer Sekunde.“

„Wow, die müssen rasen. Jetzt wechseln sie die Richtung im rechten Winkel.“

„Wie geht denn so was?“

„Ohh ... Jetzt sind sie weg!“

„Waren das gerade Ufos?“, fragte Laima.

„Ich weiß nicht, was es war“, sagte Professor Carlsen. „Aber es waren definitiv keine Flugzeuge!“

„Hatte es Ähnlichkeit mit dem, was sie schon mal in England gesehen haben?“, fragte sie von Stein.

„Schwer zu sagen auf diese Entfernung. Wir haben damals ein diamantförmiges großes Licht gesehen.“

„Vielleicht ihre Geister!“

„Sam, bitte. Als Koch haben sie keine wissenschaftliche Kompetenz und können sagen, was sie wollen. Aber alles lächerlich zu machen, ist einfach eine zu billige Methode. Auch wenn sie immer wieder aus der Mottenkiste geholt wird.“

 

Als Laima am folgenden Morgen aufwachte, hörte sie Ziegen. Als sie den Kopf aus dem Zelt steckte, sah sie, dass sie sich mitten in einer riesigen Herde befand. Einige der Ziegen leckten gerade die Reste aus den Töpfen des gestrigen Abends. Ein Hirte kam angelaufen, um die Tiere wegzuscheuchen.

Von Stein kam, mit Resten von Rasierschaum im Gesicht, vom Manasarovar zurück. Thian stieg aus seinem Zelt. Von Stein bat ihn, einige Worte an den Hirten zu richten. Offensichtlich erinnerte sich Thian nicht mehr an den Verlauf des gestrigen Abends, da er immer wieder fragend auf seine bandagierte Hand starrte und versuchte, sie in seine Erinnerungen einzubauen, was ihm nicht zu gelingen schien.

Der Hirte machte eine ausladende Geste über den Himmel und die Umgebung, faltete dann die Hände zum Gebet und verabschiedete sich, indem er freundlich mit dem Kopf wackelte.

„Was haben sie ihn gefragt?“, wollte Laima wissen.

„Ich habe ihn zu den Lichterscheinungen befragt.“

„Und? War er überrascht?“

„Überhaupt nicht. Er meinte, es sei ein offenes Geheimnis, dass es hier dauernd zu sehen gäbe. Es verleihe dem Ort seinen Ruf, als Sitz der Götter. Deswegen die Klöster hier um den See. Es sei seit Jahrhunderten bekannt.“

„Glauben sie das?“

„Glauben, glauben. Ich sehe etwas. Weiß ich, ob es das ist, was ich glaube? Weiß ich überhaupt etwas?“

„Entschuldigung, ich wollte sie nicht gleich in philosophische Abgründe stoßen.“

„Ich glaube vor allem, ich brauche erst mal einen Kaffee“, sagte er und lächelte.

 

„Wir werden heute damit beginnen, Wasserproben aus beiden Seen zu entnehmen“, sagte er nach dem Frühstück. „Der Manasarovar ist durchgehend flach. Das bedeutet, wir können vom Boot aus die Proben nehmen. Der Rakshastal hingegen ist ziemlich tief und ich hätte gern aus allen Schichten Proben. Dazu werden wir tauchen müssen. Wir haben vier Ausrüstungen dabei. Es sind zwar nur kleine Luftflaschen, sie sollten aber für den kurzen Tauchgang auf vierzig Meter reichen. Wer hat einen Tauchschein?“

Professor Carlsen, Figaro Slinkssons und Laima hoben die Hand.

„Perfekt! Das kommt genau hin. Roger, sie könnten während des Tauchgangs auf dem Manasarovar die Proben nehmen. Das sollten sie auch alleine schaffen.“

Schüssli nickte.

„Sam und Thian werden dann mit uns rausrudern und auf uns warten, während wir unter Wasser sind. Sam, würden sie mit Roger das Boot rüber an den Manasarovar tragen?“

„Selbstverständlich!“

„Dann würde ich sagen, los gehts! Wir checken noch die Pressluftflaschen und tragen die Sachen rüber.“

Schüssli und Sam nahmen eines der Schlauchboote und trugen es zum Manasarovar, in dem einige Pilger badeten. Laima und die andren zogen ihre Neoprenanzüge an und watschelten mit den Flossen, Masken, Pressluftflaschen und den Gummibooten Richtung Rakshastal.

„Versuchen sie zu vermeiden, vom Wasser zu trinken!“, sagte von Stein. „Ich kann nichts garantieren, bevor ich nicht selbst eine Analyse gemacht habe.“

Sie setzten die Boote auf die unruhigen Wellen, die ans Ufer schlugen. Sam holte sie ein.

„Sie haben recht“, sagte er. „Drüben liegt der Manasarovar tatsächlich flach wie ein Spiegel. Und hier meint man, am Atlantik zu stehen. Außerdem fängt es an zu regnen.“

Sie stiegen in die Boote und ruderten gegen die Brandung an. Es kostete sie viel Kraft und es kam Laima vor, als wehre sich der See regelrecht gegen ihr Eindringen. Die Wellen klatschten gegen die Boote und spritzten ihnen ins Gesicht. Der Wind wurde stärker und der Regen heftiger.

„Ein wahres Unwetter innerhalb von zehn Minuten“, sagte Professor Carlsen, mit dem Laima in einem Boot saß.

Alle ruderten in geduckter Haltung, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten. Es schien ihr, als drückte der Sturm sie zurück an Land. Unter Wasser sollte es ruhiger werden. Aber sie wusste auch, dass starker Wind auf der Oberfläche unter Wasser zu gefährlichen Strömungen führen konnte.

Die Boote schaukelten auf den Wellen. Der Wind peitschte ihnen den kalten Regen ins Gesicht, als sie auf der Mitte des Sees angekommen waren. Der Himmel hatte dichte, tiefhängende Wolken zu einer düsteren grauen Masse zusammengeschoben, als ob er sie alle darunter begraben wollte.

„Bindet die einzelnen Boote zu einer Insel zusammen. Sam und Thian, versucht die Position zu halten, während wir tauchen. Alles klar?“

„Alles klar“, sagte Sam und schloss Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis, was unter Wasser soviel wie alles in Ordnung bedeutete.

„Alle in Position!“

Alle Taucher setzten sich auf den Rand der Boote mit dem Rücken zum Wasser. Die Atemgeräte im Mund.

„Und los!“

Dann ließen sie sich ins eiskalte Wasser des Rakshastals fallen.

Tiefe Schwärze umfing Laima, da von oben wenig Licht durch die graue Wolkendecke drang. Sie knipste eine Unterwasserlampe an, die sie aus einem Stoffbeutel holte, in dem auch die Behälter für die Proben waren. Die Probenröhrchen waren mit der jeweiligen Tiefe beschriftete, in der sie zu entnehmen waren. Jeder von ihnen sollte alle fünf Meter, von einer Tiefe von vierzig Metern aufwärts, Proben nehmen.

Laima glitt hinab. Sie sah, wie die andren Lampenkegel im dunklen Wasser auseinanderdrifteten und sich verteilten. Die Lichtpunkte wurden immer kleiner und schwächer. Das Gleiten durch das Dunkel erinnerte sie an das Gefühl des Nichts, das sie erlebt hatte. Ein schwereloses Nichts, in dem sie sich auflöste.

Sie hörte das beruhigende Blubbern des Atemgerätes und spürte den Druck auf den Ohren, der sie an den Ausgleich erinnerte. Langsam arbeitete sie sich weiter in die Tiefe vor. Sie musste sich beim Tauchen immer wieder zur Ruhe zwingen. Sie wusste, dass man nicht schnell auftauchen durfte. Es war eine Übung, sich selbst zu kontrollieren. Überstürztes Handeln oder Panik war in dieser Umgebung ein Todesurteil.

 

 

Thian starrte auf seine verbundene Hand.

Sam wunderte sich über ihn. War der Kerl wirklich so blöde? Oder stellte er sich einfach dumm? Hatte er wirklich alles vergessen, was gestern Abend geschehen war? Dass er sich offenbart hatte? Dass er ihnen verraten hatte, dass er ein Spion war?

Aber es war Sam egal.

Sein Auftrag war fast erledigt. Endlich. So viele fehlgeschlagene Versuche hatten ihn verärgert. Es blieb nur noch Schüssli auszuräumen. Es würde ihm nicht mehr Mühe machen, als eine Kakerlake zu zerquetschen. Alles andere war bereits eingefädelt. Die Falle war zugeschnappt. Es würde sich wie von selbst lösen. Je tiefer sie kamen, um so sicherer war ihr Tod.

Er spielte bereits seit geraumer Zeit mit einem Holzgegenstand in seiner Hosentasche. Sein Finger glitt langsam in die Schlaufe, bis das Gambretta festsaß.

Dann schnellte seine Hand hervor.

 

 

 

Die Wesen
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