23

 

Es war wie eine Welle, die sie traf. Sie lief durch sie hindurch. Breitete sich schwappend aus, wie in einem Aquarium, in das jemand gerade einen Stein geworfen hatte.

„Und haben sie etwas gespürt?“

„Ja. Es fühlte sich gut an“, sagte Laima.

Dann kam die Übelkeit zurück. Ein warmer Schwall löste sich aus ihren Eingeweiden. Sie übergab sich.

„Also für mich sieht das nicht aus, als sei die Operation geglückt“, sagte Sam.

„Da haben sie recht“, sagte von Stein. „Wir bauchen jetzt ihre Hilfe“, sagte er zu den beiden Mönchen.

„Wenigstens kann ich jetzt selber gehen“, sagte Laima und versuchte aufzustehen. „Glaube ich zumindest.“

Lhatsen legte ihr seinen Arm um die Hüfte, um ihr zu helfen. Ihr wurde heiß. Ihr Atem ging schneller. Und ihr Herz schlug aufgeregt.

Er wirkte so sanft und weich. Sein Gesicht war männlich und doch von Zartheit und Sanftmut. Aus ihm strömte Ruhe.

Sie freute sich, dass er sie begleiten würde.

„Wir müssen aufbrechen!“, sagte er.

„Wir lassen alles, was wir nicht brauchen, im Kloster, wenn das möglich ist?“, sagte von Stein.

„Das ist eine weise Entscheidung“, antwortete der alte Mönch. „Alles, was du brauchst, besitzt du bereits!“

Dann verließen sie zusammen mit Lhatsen das Kloster. Sie ließen die Seen hinter sich. Vor ihnen der schneebedeckte Kailash.

 

Die Landschaft war karg. Auf ihrem Weg trafen sie Ziegenherden und Pilgergruppen.

„Was ist denn hier los?“, sagte Sam. „Da denkt man, man ist in der Wildnis. Aber hier gehts hektischer zu als in der New Yorker Rushhour. Was machen die alle hier? Warum haben die diese komischen Lederschürzen an und werfen sich dauernd in den Staub?“

„Die Pilger befinden sich auf der Kora“, sagte Lhatsen. „Sie umrunden den Kailash.“

„Und warum gehen die nicht normal wie jeder andre auch?“

„Sie messen mit ihrem Körper die Länge des Weges aus. So erfahren sie sich selbst im Verhältnis zum Universum“, sagte Lhatsen. „Das gilt als besonders verdienstvoll. Verdienstvoller, als bloß zu laufen.“

„Das dauert ja ewig!“

„Zwei Wochen“, sagte Lhatsen. „Aber hier vergeht die Zeit anders. Schließlich befinden wir uns im Zentrum des Universums. Bei der Umrundung wird einem bewusst, dass man selbst Teil des Ganzen ist.“

„Haben sie auch schon mal den Berg so umrundet?“, fragte Laima.

„Dreizehn Mal. Damit werden die Sünden eines Lebens gelöscht. Hundertundacht Umrundungen führen zur Erleuchtung.“

„Und hat es was gebracht?“, fragte Sam.

„Man erfährt sich als ein Teil von allem. Je länger man pilgert, umso mehr fällt jede Anhaftung ab. Man vereinigt sich wieder mit allem. Man wird selbst zu Shiva, der auf dem Berg sitzt und sich das Universum erträumt. Deswegen sehen wir den Kailash als den heiligen Berg Meru an. Er ist das Zentrum aller Dinge, in dem der Pilger mit allem verschmilzt.“

„Ist das Erleuchtung?“

„Manchmal ist der Weg das Ziel. Ob dreizehn oder hundertacht Umrundungen spielt da keine Rolle.“

Sie überholten die Pilger und kamen dem Berge immer näher. Laima konnte gut mithalten, auch wenn ständige Übelkeit sie plagte.

„Warum gehen wir nicht gerade auf den Pass zu?“, sagte Sam. „Hier ist doch nichts in dieser Einöde. Der Weg schlängelt sich dahin. Wenn wir gerade gehen würden, wären wir schon längst da!“

„Ist ihnen noch nie aufgefallen“, sagte von Stein, „dass alte Handelsstraßen nie gerade verlaufen? Das hängt nicht von der geologischen Beschaffenheit des Geländes ab.“

„Wie meinen sie das?“

„Sie folgen den geomantischen Feldern. Lasttiere wie die Yaks dort vorn haben diese Wege geschaffen. Tiere haben einen besonderen Sinn. Wie Tauben zum Beispiel, die sich ähnlich Flugzeugen am Magnetfeld der Erde orientieren. Die alten Routen folgen nie dem kürzesten Weg.“

„Und was haben sie davon?“

„Sie bewegen sich auf Wasseradern.“

„Und mit welchem Zweck?“

„Es geht sich leichter auf ihnen. Wasseradern fördern die Aktivität. Andersherum werden sie sich auf ihnen schlecht ausruhen. Deswegen legt man eine Rast immer abseits des Weges ein. Und wie der alte Mönch sagte, scheint das erdmagnetische Feld hier sein Zentrum zu haben.“

„Also ich weiß nicht. Erdmagnetismus. Achse des Universums.“

„Zumindest ist es doch ein seltsamer Zufall“, sagte Professor Carlsen, „dass sich genau auf der anderen Seite der Erdkugel eine weitere Hochkultur entwickelt hat. Nämlich auf der Osterinsel.“

„Sie wollen sagen, dass dieses Feld einer Ordnung folgt? Wie mit einem Nord- und Südpol?“

„An einer Karte dieses Feldes arbeite ich. Ja. Auf den Ley-Linien, die das magnetische Gitternetz der Erde bilden, liegen Stonehenge, die Kathedrale von Chartres und das Bermudadreieck, um nur einige der bekanntesten mystischen Stätten zu nennen.“

„Mir ist das alles zu viel. Dieses ganze Gequatsche von andren Welten!“

„Nach einem Sprichwort“, sagte Lhatsen, „existieren auf einem Haar Buddhas mehr Welten, als wir Sterne am Himmel sehen können.“

 

Sie stiegen weiter in Richtung Pass. Eine Gruppe Touristen kam ihnen auf Pferden entgegen.

„Die sehen aber gar nicht glücklich aus!“, sagte Schüssli.

„Nicht jedem sind die Götter wohlwollend gesinnt“, sagte Lhatsen. „Wer nicht in Demut kommt, dem wird sein Hochmut genommen.“

„Die Götter sind also nicht immer nur die Guten?“

„Die Befreiung von Hochmut ist ein Geschenk!“

„Warum nehmen wir uns keine Pferde?“, sagte Schüssli.

„Dann geht doch der Verdienst für unsere Umrundung an die Pferde“, sagte Slinkssons.

„Wir werden nach dem Pass die Kora verlassen und uns an den Aufstieg machen“, sagte Lhatsen.

„Ich dachte, der Berg sei heilig“, sagte von Stein.

„So ist es. Aber es gibt immer auch eine Ausnahme. In dieser Welt wie in der Welt der Götter. Wenn die Götter es wollen, werden wir Hilfe finden.“

 

Immer höher schlängelte sich der schmale Pfad zwischen den grauen Hängen. Dann erreichten sie den Pass. Bunte Gebetsfahnen spannten sich in langen Reihen und flatterten im Wind.

„Der Dolma La Pass“, sagte Lhatsen.

Sie setzten sich, um Rast zu machen.

Lhatsen zündete Räucherstäbchen an. Er hielt sie zwischen seinen Händen und verbeugte sich dabei in alle vier Himmelsrichtungen.

„Was macht er jetzt schon wieder?“, sagte Sam.

„Ich nehme an, er bittet um unseren Schutz“, sagte Laima.

„Glauben sie, dass wir hier im Zentrum des Universums sind?“, fragte er.

„Zumindest sehen es die Buddhisten so. Für sie ist es ihr heiliger Berg Meru, an dem die vier großen Flüsse der Welt entspringen. Symbol für Buddhas Reittiere, auf denen sich sein Geist in alle vier Himmelsrichtungen erstreckt. Der Indus im Norden entspringt dem Tal des ‚Löwenmauls’. Der Brahmaputra im Süden dem Tal des Pferdes. Der Karnali im Westen aus dem ‚Pfauenschnabel’. Und der Sutlej aus dem ‚Elefantenmaul’ im Osten. Wir bewegen uns also durch ein riesiges Mandala, das wie ein Wunder der Natur hier geschaffen wurde.“

„Also mit diesem ganzen religiösen Kram habe ich so meine Probleme.“

„Religion, also ‚religio’, bedeutet ja nichts weiter als ‚Wiederanbindung’.“

„An was denn, bitte schön?“

„An das, aus dem wir hervorgegangen sind.“

„Aus meiner Mutter?“

„Ich glaube“, sagte Slinkssons, „beim dem hilft gar nichts mehr.“

„Er ist einfach gottlos“, sagte Professor Carlsen und lachte.

„Ich dachte, sie sind Mitglied der Kirche? Church of Louisiana war es doch?“, sagte Laima.

„Ja, das stimmt“, sagte Sam verlegen. „Aber ich bin nur im Gospelchor! Meine Frau wollte, dass ich wegen meiner Stimme mitsinge.“

„Dann sing uns doch mal was, Goldkehlchen“, sagte Figaro Slinkssons.

Sam ‚The Rock’ Jacksons Gesicht wurde unter seiner Bräune rot.

„Ein andermal vielleicht.“

 

Lhatsen war fertig und verneigte sich ein letztes Mal, um sein Ritual zu beenden.

„Was sind denn das für Steinmauern dort?“, fragte Schüssli ihn. „Die Steine sind alle graviert.“

„Das sind Manisteine.“

„Und was bedeuten sie?“

„Sie werden wie die Fahnen mit Gebeten versehen. ‚Om mani padme hum’.“

„Und was bedeutet das?“

„Es ist zur Befreiung des Leidens aller Wesen. ‚OM’ steht für die Befreiung der Götterwelt. ‚MA’ befreit die Halbgötter. ‚NI’ die Menschenwelt. ‚PAD’ gilt dem Tierreich. ‚ME’ erlöst die Hungergeister und ‚HUM’ das Höllenreich. Unser Tun soll darauf ausgerichtet sein, alle fühlenden Wesen von ihrem Leid zu erlösen. Und sie zur Erleuchtung zu führen. Die Pilger wiederholen dieses Mantra zum Wohle aller, während sie den Berg umwandern.“

„He, die Frau dort malt ein Hakenkreuz in den Sand“, sagte Schüssli.

„Es hat bei uns nicht die Bedeutung, die Europäer aufgrund ihrer Geschichte darin sehen. Es ist ein Sonnensymbol.“

„Und was hat es damit auf sich?“

„Das werdet ihr noch sehen.“

 

Sie verließen die Passhöhe. Und es wurde immer nebliger. Eisflächen tauchten zu beiden Seiten auf. Der Himmel fing an, sich zu verdunkeln. Sie durchwanderten das Tal, kamen über eine kleine Anhöhe. Ein heftiger Wind blies ihnen entgegen. Das Wetter schlug um. Die Sonne brach durch die Wolken. Der Kailash lag in greifbarer Nähe vor ihnen. Die untergehende Sonne tauchte den Berg in rotes Licht. Alle blieben staunend stehen.

„Das ist Magie!“

„Der Spalt, der sich von der Spitze durch die Mitte nach unten zieht. Und die waagerechte Struktur. Und dort auf der Seite, die abfallenden Spalte. Und dort. Es leuchtet alles!“

„Ein riesiges Sonnensymbol!“

„Ein Feuerkreuz! Das ist, was du gemeint hast!“, sagte Laima zu Lhatsen.

„Ja“, sagte er und nickte.

„Das Kreuz zieht sich über die ganze Flanke des Berges. Leuchtend rot! Was für ein Anblick!“, sagte Schüssli. „Als ob er von innen leuchten würde.“

„Als sei der Berg aus Glas“, murmelte Laima. „Der Glasberg!“

 

Der Moment währte nur kurz. Das Leuchten wurde zu einem Glimmen, bis es schließlich ganz verschwand. Sie stiegen in das trockene, schneefreie Tal vor ihnen, in dem einige Schafe und Pferde den harten Boden nach Flechten absuchten.

„Lhatsen“, sagte von Stein, „was ich schon die ganze Zeit fragen wollte. Was wissen sie über die Lichterscheinungen um den Kailash? Wir haben im Rakshastal ein helles Flugobjekt gesehen.“

„Also ich habe nichts gesehen“, sagte Sam.

„Wie?“, fragte Slinkssons. „Du warst doch im Boot. Du hättest es doch aus dem Wasser kommen sehen müssen?“

„Ich glaube nicht an Ufos, also habe ich weggeschaut.“

„Das ist mal eine Logik.“

„Wir leben damit“, sagte Lhatsen. „Es ist für uns nichts Ungewöhnliches. Nichts, das außerhalb unserer Welt liegt, wenn sie das meinen. Die Menschen aus dem Westen sind immer überrascht, wenn sie hier etwas sehen, das es für sie nicht geben dürfte. Es wird ihnen beigebracht, dass so etwas nicht existiert. Bei uns ist das anders.“

„Es ist also ganz normal für sie?“

„Ja!“

Sie gingen an der Herde von Tieren vorüber und bewegten sich auf den Hang am Rande des engen Tals zu.

„Wir werden jetzt bald ganz in die Nähe der Stelle kommen, wo wir mit dem Aufstieg beginnen werden“, sagte Lhatsen.

„Und wissen sie zufällig etwas über eine Stadt der Götter?“, fragte Gerold von Stein.

„Sie meinen Shambhala?“

„Vielleicht.“

„Was ist Shambhala?“, fragte Sam.

„Es ist ‚Das Reine Land’“, sagte Lhatsen. „Der Legende nach umgeben von tausend Bergen. Von dort wird der letzte König kommen, um die Erde am Ende des jetzigen Zeitalters von ihren Gegenkönigen zu erlösen, wenn diese es am wenigsten erwarten. Es wird ohne Blutvergießen geschehen. Er wird auf einem weißen Pferd reiten und uns vom Samsara der Illusion befreien.

Es wird der Beginn eines neuen Zeitalters sein. Ein Zeitalter ewig währenden Friedens. Deswegen war Tibet zu allen Zeiten so wichtig. Jeder wollte die Kontrolle über Shambhala haben. Erst die Russen, dann die Nazis und jetzt die Chinesen.“

„Dann war es nicht Shambhala, wo wir waren“, sagte Roger Schüssli.

„Ich glaube nicht“, sagte Lhatsen und schmunzelte. „Dort findet man nur Einlass, wenn man in seiner persönlichen Entwicklung weit fortgeschritten ist. Vorher zeigt es sich einem nicht.“

„Waren sie schon einmal dort?“, fragte von Stein.

„Ja.“

„Ja?“

„In einer Vision.“

„Und ich war im Traum schon mal Papst!“, sagte Sam ‚The Rock’ Jackson.

„Träume unterscheiden sich grundlegend von Visionen“, sagte Lhatsen. „Vergessen sie das nie!“

Als plötzlich die Erde begann, sich unter ihren Füßen zu bewegen.

 

 

 

Die Wesen
titlepage.xhtml
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_000.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_001.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_002.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_003.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_004.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_005.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_006.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_007.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_008.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_009.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_010.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_011.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_012.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_013.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_014.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_015.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_016.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_017.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_018.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_019.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_020.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_021.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_022.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_023.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_024.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_025.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_026.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_027.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_028.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_029.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_030.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_031.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_032.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_033.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_034.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_035.html