11

 

Laima erwachte. Sie war verwirrt. Etwas war anders. Ganz anders, als es sein sollte.

Die Anderen schliefen noch. Die Sonne stand, nach dem Licht zu urteilen, bereits knapp über den Berggipfeln.

Sie trat ins Freie. Ihr Gefühl verstärkte sich auf unerklärliche Weise. Etwas lag direkt vor ihr, aber sie konnte es nicht greifen. Sie sah es und doch blieb es ihrem Verstand verborgen. Niemand war zu sehen. Sie verspürte ein Verlangen nach Weite und Freiheit. Laima stieg die Treppe herunter und ging durch das Felsentor zum Landeplateau.

Das Flugzeug, die Mimi, stand verwaist da. Laimas Blick wanderte über die Schlucht. Sie atmete tief durch. Die Sonne stand gerade über den Bergen. Sie trat an den Rand der Klippe und sah hinunter. Ganz auf dem Grund des Tals, neben dem Fluss, lag ihre Ausrüstung. Einer der Fallschirme blähte sich träge im Wind und fiel dann wieder in sich zusammen.

Ein Krächzen schreckte sie auf. Bergkrähen hatten sich um das Flugzeug versammelt. Etwas raschelte am Heck. Sie trat näher.

Mein Gott, dachte sie, als sie die riesigen Geier entdeckte, die über die offene Ladeluke hüpften. Die weißen Federkränze um ihre Hälse waren blutrot. Ein Geier hielt ein rohes Stück Fleisch in seinem Schnabel und versuchte es gegen die anderen zu verteidigen. Gierig schlang er es mit hastigen Bewegungen hinunter. Die Krähen forderten ungeduldig ihren Anteil. Sie wagten sich aber nicht in die Nähe der imposanten Geier, die mit ihren kahlen Köpfen auf Laima abstoßend wirkten.

Vier, fünf dieser Riesenvögel drängten sich um etwas, das im Laderaum des Flugzeugs lag. Sie verdeckten in ihrer ungezügelten Gier die Sicht. Und Laima traute sich nicht, sie zu verscheuchen. Zum einen wegen ihrer beeindruckenden Größe, zum anderen weil sie keine Vorstellung hatte, wie sie reagieren könnten, wenn man sie beim Fressen störte. Sie konnte sich nicht vorstellen, was sich unter dem raschelnden Gefieder verbergen mochte. Es knackte und matschige Geräusche reißenden Fleisches waren zu hören.

Sie beschloss, von Stein zu holen. Eilig lief sie zurück. Niemand war zu sehen. Keiner der Dropa weit und breit. Das Unbehagen wuchs in ihr. Sie hastete die Stufen zum Schlafraum hinauf. Sie lief durch die Schlafenden und rüttelte von Stein wach.

„Was ist los, Laima?“

„Kommen sie schnell! Ich habe ein ganz schlechtes Gefühl.“

Von ihrer Aufregung wachten auch die andren auf und folgten ihnen.

„Hier entlang. Im Flugzeug.“

Sie umrundeten die Maschine.

„Die Geier machen sich da drinnen über etwas her. Ich habe mich nicht getraut, sie zu verscheuchen.“

„Das ist auch ganz vernünftig, dass sie mich geholt haben“, sagte von Stein.

Er umwickelte seinen Arm mit der Jacke.

„Sch, sch“, machte er und wedelte dazu, um die Tiere zu verscheuchen. Die Vögel schnappten nach ihm, rissen ein Stück aus seiner Jacke und hüpften davon. Sie ließen sich träge über die Klippe fallen. Kurz darauf stiegen sie im Gleitflug wieder auf und begannen, über ihnen zu kreisen.

Von Stein machte einen Schritt auf der Ladeklappe, hinein ins Dunkel des Flugzeuginneren. Die Anderen rückten nach, konnten aber nichts erkennen.

Mit einem würgenden Geräusch drehte sich von Stein zu ihnen und hielt sich dabei die Hand vor den Mund.

„Was ist? Was haben sie gesehen?“, fragte Laima.

„Nichts Gutes. Sehen sie selbst.“

„Ich will mir das gar nicht antun“, sagte Schüssli.

Laima machte einen Schritt vor.

Was sie sah, verschlug auch ihr den Atem.

Der Dropaolat lag tot auf dem Boden der Maschine. Seine Augen aufgerissen vor Schreck, als habe er den Teufel gesehen. Sein Gesicht verzerrt zu einer Maske der Angst.

Es war kaum zu unterscheiden, was die Vögel angerichtet hatten. Denn sein kleiner Körper trug die gleichen Bissspuren wie die zwei Attentäter in der Bione Corporation. Es ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. Etwas oder jemand war hier. Es verfolgte sie. Es war immer in ihrer Nähe gewesen. Es hatte sie hier wiedergefunden.

War der Dropaolat getötet worden, weil er etwas über die Expedition sagen wollte? Etwas, das in der Zukunft lag und unausweichlich auf sie zukam? Hätte er ihnen etwas sagen können, das sie davor rettete?

Laima trat aus dem Dunkel wieder ans Licht. Sie fühlte die Einsamkeit. Einsam und verlassen waren sie. Ihrem Schicksal und ihrem Tod schutzlos ausgeliefert. Sie nahm Abstand von der Gruppe und trat an die Klippe. Es wäre nur ein kurzer Schritt zur Erlösung. Sie würde fallen. Dann wäre alles vorbei. War es nicht besser, als seinem schleichenden, grausamen Tod durch die Hand eines Untiers entgegenzusehen? Gab es noch Hoffnung?

Welch schöne Momente hätte das Leben noch für sie bereitgehalten? Die Liebe? Die Geborgenheit einer Familie? Es erschien ihr zu früh, das alles wegzuwerfen. Was auch kommen sollte, sie wollte dafür kämpfen, dass ihre Träume doch noch zu einem glücklichen Ende fanden.

Eine starke Böe fegte ihr ins Gesicht und drückte sie von der Klippe zurück. Sie beschloss, dass es ein Zeichen sein sollte. Sie wandte sich wieder den Anderen zu.

Schüssli übergab sich, obwohl er die Leiche nicht mal gesehen hatte. Alle andren hatten sich ein Bild gemacht und Professor Carlsen kniete für eine eingehende Untersuchung neben der Leiche des Dropaolat.

„Figaro, helfen sie mir doch bitte, den kleinen Mann ans Licht zu schaffen“, sagte Professor Carlsen.

Beide zusammen hievten sie den Leichnam des Oberhauptes der Dropa aus dem Flugzeug. Das Licht machte seinen Anblick noch unwirklicher. Die Eingeweide waren nahezu komplett entfernt.

„Sehen sie seinen Kopf“, sagte Professor Carlsen. „Unter dem Bowler verbarg er einen proportional übergroßen Schädel.“

„Unglaublich, vielleicht war das die Erklärung für seine besonderen Fähigkeiten“, sagte Sam.

„Das glaube ich nicht“, sagte von Stein. „Er erwähnte keinen Unterschied zwischen uns und den Dropa, der dafür nötig gewesen wäre.“

„Vielleicht wollte er verbergen, was er unter seinem Hut für ein Superhirn versteckt hielt?“, sagte Figaro Slinkssons.

„Wenn er sich aber der gleichen Abstammung der Dropa und uns bewusst war, warum sollte er versuchen uns über seine Fähigkeiten zu täuschen?“, fragte Professor Carlsen.

„Keine Ahnung.“

„Vielmehr interessiert mich, was den armen Kerl so zugerichtet hat“, sagte Sam. „Mir sieht das verdammt nach dem Ungeheuer aus, das die zwei Bombenleger erledigt hat. Etwas mit gesundem Appetit, würde ich sagen.“

„Auf jeden Fall macht es einen weiten Bogen um deine Küche“, sagte Slinkssons.

„Ich hoffe, es gibt keinen Ärger mit den Dropa“, sagte von Stein. „Es wird auch ihnen nicht entgangen sein, dass es zwischen unserem Aufenthalt und dem Tod des Dropaolat einen Zusammenhang gibt. Es könnte für uns ziemlich unangenehm werden, ihnen das erklären zu müssen.“

„Ich denke, dazu wird es nicht kommen“, sagte Laima. „Ist euch nicht die Ruhe aufgefallen, die herrscht?“

Sie gingen zusammen zurück durch das Steintor, während Professor Carlsen noch bei der Leiche blieb.

„Die Ziegen? Wo sind die Ziegen hin?“, fragte Schüssli.

„Besser gesagt, wo sind überhaupt alle hin?“, sagte Figaro Slinkssons und rieb sich das Kinn.

„Es sieht so aus, als seien alle verschwunden!“, sagte von Stein. „Was ist nur passiert, während wir geschlafen haben? Was hat sich hier abgespielt?“

„Nichts Gutes auf jeden Fall“, sagte Laima. „Aber es macht auf mich den Eindruck, als seien die Dropa samt ihrer Habe geflohen. Entweder vor dem, was den Dropaolat getötet hat. Oder sie haben ihren Stammesführer gefunden und sind daraufhin geflohen.“

„Das klingt für mich wahrscheinlicher“, sagte Sam und blickt in die Versammlungshöhle. „Sie haben nämlich ihre Sachen mitgenommen, also sind sie nicht ganz überstürzt weg. Dieses Etwas hat ihnen Angst gemacht. Das verstehe ich gut. Mir ist auch nicht wohl bei dem Gedanken, dass ich der Nächste auf der Speisekarte sein könnte.“

„Ich habe den Eindruck, es ist auch zu einem Teil meine Schuld“, sagte von Stein. „Hätte ich den Dropaolat nicht überredet, uns eine Kostprobe seiner visionären Fähigkeiten zu geben und uns etwas über die Zukunft unserer Reise zu sagen, hätte er vielleicht überlebt.“

„Das würde ja bedeuten, dass dieses Tier, oder was immer es sein mag, über eine taktische Intelligenz verfügt“, sagte Slinkssons.

„Das ist doch ein bisschen weit hergeholt, würde ich sagen.“ Sam verschränkte seine muskulösen Arme vor der Brust. „So brutal und animalisch die Toten zugerichtet waren, kann ich mir einen mehr als tierischen Impuls zum Töten schwer vorstellen. Es muss Zufall sein, dass es uns jetzt nach einem Prinzip oder gar Berechnung aussieht. Nein, ich halte das für ausgeschlossen.“

„Es besteht ja immer noch die Möglichkeit, dass jemand die Spuren wie eine grobe und brutale Tötung aussehen lässt, aber in Wirklichkeit ein feingestrickter Plan dahintersteht“, sagte Laima.

„Eine bewusste Irreführung?“, sagte Schüssli.

„Bei den Dropa hat es ja geklappt.“

„Ein Versuch, uns für dumm zu verkaufen?“, sagte Sam und zog die Augenbrauen hoch. „Aber so primitiv wie diese Eingeborenen sind wir doch nicht. Hm, möglich wäre es allerdings schon. Ganz ehrlich, ich blicke nicht mehr durch. Ich weiß nur, dass wir von hier weg müssen.“

„Und wenn das Ding uns folgt?“, sagte von Stein. „So wie es uns bereits über Tausende von Kilometern gefolgt ist?“

„Was bleibt uns übrig, außer Augen und Ohren offen zu halten?“, sagte Slinkssons.

Thian verfolgte ihre Diskussion.

Professor Carlsen kam zurück.

„Und? Haben sie noch etwas gefunden?“, fragte von Stein.

„Nichts, was wir nicht schon alle gesehen hätten.“

„Würden sie denn sagen, dass die Spuren an der Leiche echt sind?“

„Wie meinen sie das?“

„Könnte es auch möglich sein, dass jemand die Bissspuren nur vorgetäuscht hat?“

„Das halte ich für ausgeschlossen. Es muss ein Tier oder etwas Vergleichbares gewesen sein. Auf jeden Fall nichts mir Bekanntes. Ich für meinen Teil will hier so schnell wie möglich weg.“

„Da sind sie nicht der Einzige“, sagte Sam.

„Ich auch“, sagte Schüssli.

„Ich werde ganz offen mit ihnen sein“, sagte von Stein.

Alle schauten ihn mit großer Aufmerksamkeit an.

„Ich habe einige Erfahrung im Klettern. Sie alle haben gesehen, wo unsere Ausrüstung derzeit liegt. Selbst wenn sie noch intakt ist und den Sturz einigermaßen unbeschadet überstanden hat, bleibt die Frage, wie wir dort hingelangen. Ohne die Ausrüstung sind unsere Überlebenschancen gering. Daraus werde ich kein Geheimnis machen. Ich hatte auf die Hilfe der Dropa gesetzt, die sich in diesen Bergen auskennen. Jetzt, wo sie verschwunden sind, steht das Urteil zu unserem Überleben praktisch fest. Nicht mal ich würde die Felsen bis ins Tal schaffen, um möglicherweise mit Seilen und Ausrüstung zurückzukommen.“

„Aber sie sind doch ein Profi“, warf Schüssli protestierend ein, dem diese Darstellung ihrer Lage nicht gefiel.

„Jeder Profi bereitet sich auf seine Strecke vor. Er klettert sie mehrfach mit Sicherung, bevor er sich auf das Risiko einlässt.“

„Heißt es, dass es keine Hoffnung mehr gibt?“

„Das will ich damit nicht sagen, aber ich will sie auch nicht anlügen!“

„Als Motivationstraining kann man das nicht bezeichnen, was sie hier gerade machen“, sagte Slinkssons.

„Ich will ihnen nur reinen Wein einschenken. Wir werden sehen, was wir noch an Ausrüstung und Verpflegung finden können. Vielleicht haben die Dropa in der Eile etwas zurückgelassen. Dann werden wir unser Glück versuchen.“

„Fantastisch“, sagte Slinkssons. „Am Ende der Welt ist sie tatsächlich auch wirklich zu Ende. Was für eine Ironie.“

 

Die Moral der Gruppe war auf ihrem Tiefpunkt. Selbst der Mord am Dropaolat wirkte blass gegenüber der geringen Aussicht, lebend aus diesen Bergen zu kommen. Auch der Fund von etwas Trockenfleisch, einem Messer und einigen Trinksäcken aus Ziegenleder, die sie noch fanden, vermochte es nicht, die Stimmung zu heben. Die eintretende Dunkelheit, in der sie sich um ein Feuer in der großen Halle versammelten, wirkte bedrückend und das Feuer wenig einladend. Laima fror. Hunger, Kälte und die Aussicht langsam und qualvoll in den Bergen zu sterben, waren nicht das, was sie sich vorgestellt hatte. Jede Suche nach Artefakten, Mumien, Weisheit erschienen ihr geradezu lächerlich. Eine leise Wut stieg in ihr auf. Von Stein verteilte Scheiben getrockneten Ziegenfleischs, die ihr Sodbrennen verursachten.

War es das wert? War ein großer runder Stein, selbst wenn er die tiefsten Geheimnisse des Universums in sich barg und den Lauf der Menschheitsgeschichte veränderte, es wert, dafür zu sterben? Das Leben kam ihr mit einem Mal so kostbar vor. Wie ein Diamant, mit dem sie die ganze Zeit wie selbstverständlich und ohne ihn zu beachten gespielt hatte. Jetzt sah sie mit einem Mal, wie wunderschön er war. Wie er strahlte und welch erhabene Kostbarkeit von ihm ausging. War das nicht das wirkliche Wunder aller Wunder? Sie hatte das Gefühl, etwas gefunden zu haben, nach dem sie immer gesucht hatte. Dabei hatte sie es immer in sich getragen, dieses Wunder des Lebens, das keiner Erklärung bedurfte. Das auch nicht zu erklären war. Die Wissenschaft wusste zwar, wie man Knochen wieder zusammenwachsen ließ und vieles mehr, aber das Mysterium selbst konnte niemand erklären. Gerade jetzt in diesem Augenblick, in dem sie mit den Anderen, aber doch ganz allein, am Feuer saß, erschien ihr das Leben ganz neu und außergewöhnlich. Alle Worte fielen von ihr ab. Wie eine sich entblätternde Rose, in deren Innerem das Juwel zum Vorschein kam.

Aus dieser tiefen Verbundenheit mit dem Leben entsprang ein Gefühl der Freude und des Glücks. Es war ein stilles, unaufgeregtes Glück. Und so schnell dieser Moment des Erkennens gekommen war, so schnell war er auch wieder verschwunden. Aber das tiefe Behagen blieb noch eine Weile und gab ihr neue Kraft. Später hatte sie den Eindruck, als habe sie mit dieser Einsicht ein Engel geküsst. Es waren die einzig passenden Worte, die ihr dafür einfielen.

Im Gegensatz zu den anderen war sie die Einzige, die neuen Mut schöpfte. Sie wollten am kommenden Morgen aufbrechen, sobald die Sonne aufging. Als sich Laima in die Höhle zum Schlafen legte, in der die Dropa die Felle und Decken zurückgelassen hatten, dachte sie noch einmal an das Juwel. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihr aus. Es war ein bisschen wie Schmetterlinge im Bauch. Unweigerlich dachte sie an Chang. Sie fühlte sich losgelöst von der Welt. Sie hatte keine Angst mehr. Selbst wenn sie nicht mehr dazu käme, eine Familie zu gründen, die Liebe des Lebens zu finden, jetzt, gerade in diesem Augenblick fühlte sie sich gut und geborgen. Das war die Hauptsache, auch wenn alle Tatsachen gegen ihr Gefühl sprachen.

 

Am nächsten Morgen weckte sie von Stein. Laima war ausgeruht. Die Sonne stand bereits höher als erwartet. Sie sammelten alle Sachen zusammen und Laima ging mit Figaro Slinkssons zum Wasserfall ans Ende der Schlucht, um die Wassersäcke für ihre Abreise aufzufüllen.

Die Gischt des herabstürzenden Wassers sorgte für eine angenehme Erfrischung auf der Haut und weckte in Laima das Bedürfnis, sich in die kühle Flut zu stürzen.

„Ich werde dann schon mal zurückgehen“, sagte Figaro Slinkssons. „Ist ja nicht so, dass ich nicht gerne bleiben würde. Aber ich besitze etwas Anstand, auch wenn man es mir vielleicht nicht ansieht.“

Laima genoss die kalte, erfrischende Reinigung im klaren Bergwasser. Das mystische Erlebnis des gestrigen Abends war fast verflogen. Aber ein Rest dieses Gefühls vibrierte noch in ihr nach, wobei das Bad einiges dieser guten Schwingungen in ihr erneut zum Klingen brachte. Frisch gestärkt und sauber konnte sie nun den Herausforderungen entgegensehen.

Die Anderen warteten bereits auf sie, als sie, sich die Haare trockenreibend, zu ihnen stieß.

Die wenigen Dinge, die sie hatten, trugen die Männer. Von Stein kam auf die Idee, im Flugzeug nach einer Signalpistole zu suchen. Aber bei der Ausstattung von Kapitän Ranjids Mimi war es nicht verwunderlich, dass sie nichts dergleichen fanden. Nur eine alte Streichholzschachtel, die unter einen Sitz gerutscht war.

Nach der Nacht hatte sich an der Moral der Gruppe wenig geändert. Alle wirkten nachdenklich. Der kämpferische Geist flackerte schwach in ihren Augen und Laima fragte sich, ob von Steins Ehrlichkeit nicht die falsche Taktik gewesen war. Manchmal konnte eine Lüge mehr bewirken als die Wahrheit. Dieser Satz kam ihr merkwürdig vor, traf aber auf ihre Situation zu. Sie besah sich die lahme Truppe, die ohne jede Kraft und Willen vor ihr durch die Schlucht stapfte. Gerade von Stein, der durch seine Forschung um die Macht der Worte und Gedanken wusste, hätte es doch besser wissen sollen. Vielleicht stand seine Liebe zur Wahrheit seinem Forschergeist im Weg?

Was dachte sie da: Lüge, Wahrheit? War alles biegsam wie ein Stück Draht? War die Realität nur das Konstrukt, zu dem man sie machte?

 

Die Schlucht der Dropa, die sich hinter der abgespaltenen Bergflanke erstreckte, wirkte trostlos. An ihrem Ende schien diesmal nicht die Sonne. Dicke schwere Wolken zogen langsam über einen grauen Himmel. Kein Regenbogen zu ihren Füßen. Dort unten lag ihre Hoffnung begraben. Ohne ihre Ausrüstung blieb ihnen nichts außer dem, was ihr Körper noch bereit sein würde zugeben.

Sie wanderten den gleichen Pfad mit seinem rutschigen Geröll entlang, den sie bereits zur Grabschlucht gegangen waren. Jeder Gedanken an einen Saboteur, der weitere Anschläge auf die Gruppe plante, um ihr Vorhaben zu vereiteln, waren hinfällig geworden. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Sache von selbst regelte.

Über ihnen kreisten die Geier, die wie der Saboteur nur geduldig zu warten brauchten. Für das Festmahl, bei dem sie die Totengräber der Lüfte gestört hatten, würden sie sie bald mehr als reichlich entschädigen. Laima beobachtete, wie sie heranschwebten. Es wurden immer mehr. Wochen konnten sie auf den richtigen Augenblick warten. Dann schlugen sie zu, um sich vollzufressen wie Löwen.

Sie kamen an die Gabelung des Weges zur Grabschlucht, warfen einen Blick auf die Stätte der Toten und nahmen den anderen Weg, wohin auch immer er führen mochte. Laima sah es als ein gutes Omen, dass sie sich von der Todesschlucht abwandten.

Die Gruppe schwieg. Jeder machte mit sich selbst aus, wie er seine Zukunft sah und welche Möglichkeiten er sich noch gab. Für einen kurzen Moment brach die Wolkendecke auf und ein breiter Sonnestrahl fiel hindurch. Es war ein schöner Anblick, dachte Laima und knüpfte so ihr eigenes Band der Zuversicht, von einem Ereignis zum nächsten.

Die meisten von ihnen fassten mit der Zeit wieder Mut und wirkten gelöster. Die Gruppe ging nun nicht mehr träge, sondern hatte ein gutes Tempo gefunden und einen stabilen Rhythmus. Laima dachte an den Jungen, der Kapitän Ranjid begleitet hatte und der immer noch nicht zurückgekehrt war. Waren sie tatsächlich so weit von jeglicher Zivilisation entfernt?

Trotz all dieser Gedanken hatte Schüssli seine Ängste im Griff. Lediglich ab und zu stieß ihn Sam in die Rippen, sobald er drohte langsamer zu werden, oder sobald er versuchte, ängstlich in die Tiefe zu sehen. Thian war stumm wie ein Fisch. Von sich aus redete er nie, verfolgte aber alles mit aufmerksamer Miene. Gelegentlich übersetzte von Stein ihm etwas. Professor Carlsen hielt sich trotz seines Alters und seiner Leibesfülle erstaunlich gut. Schnaufte aber wie eine alte Dampflokomotive. Figaro Slinkssons machte auf Laima den undurchschaubarsten Eindruck. Was hatte er ihr beim Wasserfall sagen wollen? Oder versuchte er sie nur in die Irre zu führen?

Der Weg fiel längere Zeit ab, was in Laima das Gefühl nährte, sie würden irgendwo ankommen. Aber dann ging es wieder bergan und alle Hoffnung auf ein baldiges Ziel verflog. Als sie plötzlich vor sich den Jungen sahen. Kraftvoll und gut gelaunt kam er ihnen entgegen. Er wirkte ebenso überrascht wie sie, hier mit ihnen aufeinanderzutreffen. Schnell wurde klar, dass sein Chinesisch nicht halb so gut wie das des Dropaolat war. Thian hatte Mühe, überhaupt eine Verständigung herzustellen. Es war nur mit Händen und Füßen möglich, ihm klarzumachen, dass sie aufgebrochen waren, um ihren Weg fortzusetzen. Laima hatte nicht den Eindruck, dass er wirklich etwas verstand, beziehungsweise Thian und von Stein bis zu ihm vordringen konnten.

Er wollte zurück zu den Dropa und von Stein und Thian schafften es nicht oder unterließen es bewusst, ihn über die Lage in Kenntnis zu setzen.

Sie versuchten dem Jungen klarzumachen, dass er ihre letzte Hoffnung war. Dass er ihnen, wie Kapitän Ranjid, den Weg zeigen musste, sie führen sollte. Dass sie sonst in den Bergen verloren waren. Ob er es verstand, blieb unklar.

„Was sollen wir jetzt machen?“, richtete sich von Stein an die Gruppe. „Es sieht aus, als wolle der Junge um jeden Preis zurück. Er versteht nicht, was dort passiert ist. Wir ja auch nicht. Aber was sollen wir tun?“

„Ich denke, wir müssen ihm wohl oder übel folgen, bis er verstanden hat, wie die Lage für alle Beteiligten ist“, sagte Slinkssons.

„Ohne ihn stehen wir wesentlich schlechter dar“, sagte Sam.

„Also ich will auch lieber mit dem Jungen gehen“, sagte Schüssli. „Ohne ihn sind wir doch verloren.“

„Laima? Professor Carlsen?“

„Ich denke auch, wir gehen mit ihm“, sagte Laima.

Der Professor nickte.

„Dann ist es beschlossene Sache. Kommando zurück.“

 

Sie folgten dem Jungen, der ziemlich eilig unterwegs war. Er versuchte, sich der Geschwindigkeit der Gruppe anzupassen.

War die Stimmung mit seinem Erscheinen besser geworden? Laima bezweifelte, dass die Sache gut ausging. Aber was hatten sie zu verlieren? Er war der Strohhalm, an den sie sich alle klammerten.

Der Rückweg war schnell geschafft. Und ein seltsames Gefühl kam auf, als sie die Schlucht betraten. Es war als lauere etwas auf sie. Die Stille war unheimlich. War die Schlucht wirklich verlassen? Der junge Dropa wirkte nervös, als er niemanden erblickte. Er wurde immer schneller und fing schließlich an zu laufen. Er rief laut nach seinen Angehörigen. Niemand antwortete ihm. Er sah sich um. Wandte sich an die Gruppe und schleuderte ihnen einen Wortschwall in Dropa entgegen, von dem nicht zu sagen war, wie man ihn deuten sollte. Verzweiflung, Anklage, Wut?

Dann sah er durch das Steintor, wie die Geier sich über die Reste der Leiche des Dropaolat hermachten. Er stürzte zu seinem toten Stammesführer. Tränen rannen ihm über das Gesicht. Er packte den kaum mehr erkennbaren Körper und schüttelte ihn. Vergebens. Der Schmerzensschrei hallte im ganzen Tal wider. Dann sah er die Spuren der Bisse, die nicht von den Geiern waren. Erschrocken stieß er den Körper von sich. Sein angsterfüllter und gleichzeitig zorniger Blick wanderte von einem zum anderen. Niemand fühlte sich wohl. Alle wirkten schuldig. Hatten sie das Ungeheuer hergebracht?

Laima sah, wie der Junge mit sich kämpfte. Er wollte schreien, spucken oder davonlaufen. Aber er war klug und alt genug zu wissen, dass nichts davon an der Lage irgendetwas ändern würden. Er ging und untersuchte die Höhlen. Es dauerte eine Weile. Vielleichte hoffte er einen Hinweis oder eine Botschaft zu finden, die man ihm hinterlassen hatte. Als er zurückkam, schien er begriffen zu haben, dass sein Stamm geflohen war. Das milderte seinen Zorn und seine Skepsis. Nun versuchten Thian und von Stein, ihm erneut die Lage zu erklären, in der sie sich befanden.

Es folgte ein längeres Gespräch, in dem sich der Dropa beruhigte. Von Stein trat an den Rand der Klippe und zeigte in die Tiefe der Schlucht, in der ihre Ausrüstung lag. Langsam und zögerlich näherte sich der Junge dem Rand der Felsen. Seine Zweifel verschwanden. Er fing an, zu erzählen. Lebhaft beschrieb er etwas. Von Steins Gesicht hellte sich bei Thians Übersetzung deutlich auf und allen wurde klar, dass es neue Hoffnung zu geben schien.

Den Bewegungen und Gesten des Jungen nach, beschrieb er Thian gerade einen Weg. Möglicherweise den Weg ihrer Rettung.

„Also, er hat sich bereit erklärt, uns zu führen. Ich habe ihm versucht klarzumachen, dass wenn von uns eine Gefahr für sein Volk ausgeht, der beste Weg ist, uns so schnell wie möglich loszuwerden“, sagte von Stein. „Er hat uns gesagt, er könne uns auf dieser Seite des Berges einen Weg zeigen, der in das Tal führt. Danach würde er uns verlassen und sich auf die Suche nach seinem Stamm machen. Ich habe ihm gesagt, dass uns damit sehr geholfen sei und wir bedauern, was vorgefallen ist.“

Nach diesen Worten lief der Junge plötzlich davon.

„Was ist denn jetzt?“, sagte Schüssli. „Sind sie sicher, dass sie auch alles richtig verstanden haben?“

„Ich traue diesem Jungen nicht“, sagte Sam.

„Da kommt der Bursche doch schon wieder, mein Lieber“, sagte Professor Carlsen. „Und sehen sie, er hat noch mehr von diesem Trockenfleisch aufgetrieben. Das ist doch ganz reizend.“

„Vielleicht will er nur verhindern, dass wir anfangen an ihm zu nagen“, sagte Slinkssons.

Sie schulterten ihre Sachen und den neuen Schinken, den der junge Dropa ihnen gebracht hatte. Dann führte er sie am Rand des Plateaus in die hintere, spitz zulaufende Ecke. Dort eröffnete sich ihnen ein schmaler Pfad, der vorher nicht zu sehen war.

„Das ist nun wirklich zu viel für mich“, stammelte Schüssli.

Er wich zurück wie ein Pferd vor der Schlange.

„Nein, das schaffe ich beim besten Willen nicht.“

„Dann bleibst du eben hier“, sagte Sam. „Mir geht dein wehleidiges Geheul sowieso auf die Nüsse.“

„Vielleicht ist das Untier ja noch irgendwo hier“, sagte Slinksson, „und hat nur darauf gewartet, dass einer von uns zurückbleibt. Die Kranken und Schwachen sind doch immer die Ersten, die den Jägern zum Opfer fallen.“ Dabei schleckte er sich genüsslich über die Lippen.

Schüssli war verunsichert. Er fing an zu schwitzen. Er saß in der Zwickmühle. Vor ihm der kaum wenige Fuß breite Weg an der Steilwand des offenen Abgrunds entlang. Hinter ihm der einsame und grausame Tod durch die Hand der Bestie. Man konnte förmlich den inneren Kampf sehen, der Schüssli schließlich dazu brachte, den ersten Schritt über dem Abgrund zu machen. Er versuchte, so gut es ging, nicht nach unten zu sehen, was sich als schwierig herausstellte. Nicht in den Abgrund zu sehen und auf dem schmalen Grat sauber einen Fuß vor den andren zu setzen, war nahezu unmöglich. Bis auf von Stein, der diesmal hinter Schüssli ging, waren alle aus Sicherheitsgründen an der Spitze des Zuges. Ein plötzlicher Panikanfall konnte sie alle in Gefahr bringen. Und dafür, dass Roger Schüssli seine Nerven und seine Höhenangst sicher im Griff hatte, wollte keiner die Hand ins Feuer legen. Die Furcht vor dem unbekannten Tier mochte vielleicht groß sein, aber ob sie groß genug war? Es darauf ankommen zu lassen, war allen zu gefährlich.

Der Abstand zwischen Schüssli mit von Stein und dem Rest der Gruppe wurde immer größer. Es war nicht möglich einen Halt einzulegen, da der Weg zu schmal war, um sich auch nur hinzusetzen. Sie mussten in einem einigermaßen gleichmäßigen Tempo gehen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und in die Tiefe zu stürzen. Dann erreichten sie schließlich eine breitere Stelle, an der sie rasten konnten.

Sie warteten auf Schüssli und von Stein. Mehrfach musste er auf Schüssli einreden, um ihn zu den letzten Schritten bis zum Rastplatz zu bewegen.

Laima spürte, dass sie nur ungern diese sichere Ausbuchtung im Fels verlassen wollte. Der dünne Pfad bedeutete ständige Konzentration und permanente Todesangst. Während ihrer Pause genoss sie jeden Atemzug und versuchte ihrem Körper das Maximum an Entspannung zu geben, das möglich war. Der junge Dropa richtete ein paar Worte an Thian.

„Der Weg soll bald besser werden, sagt er“, übersetzte von Stein der Gruppe.

Niemand erwiderte etwas. Alle nahmen diese als Aufmunterung gedachte Nachricht schweigend hin.

 

Dass der Weg besser werden sollte, stellte sich als falsch heraus.

„Da kommen wir nie vorbei!“, sagte Sam, der hinter Laima ging.

Was sich vor ihnen auftat, war ein überhängender Felsen, der so weit aus der Wand ragte, dass er sie geradewegs in den Abgrund stieß.

 

 

 

Die Wesen
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