25
Als ihr volles Gewicht auf dem Rand der Steinscholle auftraf, brach unter ihnen der Halt weg. Laima spürte, wie sie mit einem Mal in ein Loch fielen. Es war wie ein Luftloch. All ihre Träume versanken darin. Sie sah in Lhatsens sanftes Gesicht und spürte, wie sie nach hinten kippten.
Dann packte Lhatsen ihre Hände. Er zog Sam und sie auf den schwankenden Boden.
Sie schaukelten auf der flüssigen Lava. Ihr steinernes Floß drehte sich und drohte zu kippen.
„Vorsicht!“
Sie machten einen Schritt in die Mitte.
„Geschafft!“, schnaufte Sam.
„Das glaube ich nicht“, sagte von Stein. „Seht!“
Die ganze Seite des Berges über ihnen löste sich ab.
„Wenn wir uns nicht beeilen und unsern Arsch bewegen, schieben sich gleich die Erdschollen hier auf“, sagte von Stein.
Laima wusste, wie sich die Eisplatten im Winter am Meer zu meterhohen Mauern türmten. Dann hatten sie keine Chance mehr.
„Wir müssen versuchen, nach oben zu kommen“, sagte Laima. „Alles andre wäre ...“
Aber sie kam nicht mehr dazu, ihren Satz zu beenden. Sam hatte sie gepackt. Er rückte sie wieder auf seinem Rücken zurecht wie einen Rucksack. Dann sprang er bereits auf die nächste Scholle. Und wieder auf die Nächste. Sie versuchte gar nicht, hinter sich zu schauen. Auch wenn ihr Herz darauf brannte, Lhatsen in Sicherheit zu wissen.
Der ganze Berghang wölbte sich und fing an, sich wie ein wildes Tier unter ihnen zu bewegen. Es war unberechenbar. Überall öffneten sich neue Spalten. Risse entstanden. Platten brachen unter ihnen einfach durch.
Die Luft schwirrte. Hitze und Dampf waberten überall. Der Geruch von Schwefel. Sie hörte die andren hinter sich. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass sie verschiedene Wege eingeschlagen hatten. Alle sprangen von einem Punkt zum nächsten den Berg hinauf.
Sie spürte den Schweiß auf Sams Haut. Die Hitze wurde immer stärker, je breiter die Spalten unter ihnen aufbrachen. Schollen glitten bergab. Es war ein Wettlauf ohne Ende. Es war die Hölle.
Alles geriet ins Rutschen. Sie waren auf dem letzten Steinbrocken angekommen. Vor ihnen lag nur noch glühende Lava.
Sam war völlig außer Atem. Er balancierte mit letzter Kraft mit Laima auf dem Rücken. Ratlos und erschöpft stand er einfach da. Er bewegte sich nicht. Nur sein Brustkorb hob und senkte sich.
Hinter ihnen rutschte die Erdplatte weg, über die sie gekommen waren. Jetzt waren sie abgeschnitten.
Laima bemerkte, wie das Glühen der Lava nachließ. Langsam erstarrte das Gestein und wurde fest.
Erst als die andren hinter ihr in Freudenrufe ausbrachen, realisierte sie, was es bedeutete. Schließlich setzte Sam sie ab. Und die andren kamen zu ihnen. Über das heiße Gestein stiegen sie dann zusammen den Berg hinauf, bis zu einer Stelle, an der sie sicher waren.
„O Mann, ich weiß nicht, wen wir hier verärgert haben“, sagte Sam, „aber solche Feinde wünsche ich niemandem.“
„Danke, Sam“, sagte Laima und drückte ihm einen Kuss auf die schweißnasse Stirn. „Ohne dich hätte ich es nicht geschafft.“
„Na, da hast du aber Freunde gefunden“, sagte Slinkssons zu Sam und grinste.
Laima wurde nach der Aufregung schlecht. Sie musste sich übergeben.
Ihr Erbrochenes war schwarz.
„Das sieht aber gar nicht gut aus“, sagte Professor Carlsen.
„Ist es Blut, Professor?“, fragte von Stein.
„Nein, es sieht nicht nach Blut aus.“
„Es ist die schwarze Seele des Rakshastals“, sagte Lhatsen. „Wir müssen schnell weiter. Uns bleibt nur noch wenig Zeit. Es ist nicht mehr weit bis zur Einsiedelei.“
Lhatsen und Figaro Slinkssons stützten Laima, die immer schwächer wurde. Sie schleppten sie den Berg hinauf, bis sie am Fuß des Kailash ankamen.
„Dort ist eine geheime Treppe“, sagte Lhatsen. „Sie ist im Fels kaum zu sehen. Kommt, ich zeige sie euch!“
Sie stiegen die Stufen empor, die kein Ende zu nehmen schienen. Es war schwierig Laima dort hinaufzubekommen. Es dauerte lange und alle wechselten sich ab. Mit vereinten Kräften erreichten sie schließlich die Einsiedelei, als es bereits dunkel war.
Ein Mann kam ihnen zur Hilfe.
„Das ist Gompa, mein Vater“, sagte Lhatsen. „Schnell Vater, sie hat das Wasser des Rakshastals im Leib. Das schwarze Gift kommt bereits aus ihrem Bauch.“
„Bringt sie schnell herein!“, sagte Gompa.
Sie trugen Laima durch den Hauptraum der Einsiedelei in ein kleines Nebenzimmer. Laima hörte nur einen Ofen knistern und spürte die Wärme.
„Hierher“, sagte Gompa und sie legten Laima auf ein Bett.
Er suchte etwas auf einem Regal. Zwischen unterschiedlichen Fläschchen und Gläsern standen Bündel von Kräutern.
„Wo habe ich es nur? Es ist lange her, dass ich es gebraucht habe.“
„Wie kommt es, dass sie unsre Sprache so gut beherrschen?“, fragte von Stein.
„Wir haben studiert“, sagte Lhatsen. „Nicht nur die Veden, sondern auch an der Universität.“
„Ah, da haben wir es ja“, sagte Gompa und hielt ein kleines Glas gegen das Licht.
Er nahm eine Tasse und die Kanne mit heißem Wasser vom Ofen und goss das Pulver auf. Es zischte, als ob eine Reaktion stattgefunden hätte. Er stellte die Tasse vor sich auf den Boden, hielt seine Hand darüber und murmelte mit geschlossenen Augen ein paar Worte.
Laima fühlte sich schlecht. Sie glaubte, das Bewusstsein zu verlieren. Vielleicht starb sie auch. Sie wusste nicht, wie sich Sterben anfühlte.
Sie nahm wahr, wie Lhatsen ihre Hand hielt. Sie öffnete die Augen und sah, dass er lächelte.
Gompa nahm die Tasse und blies hinein.
„Wozu blasen sie auf die Tasse?“, fragte Sam. „Ist das schon wieder irgendein Ritual? Alles in diesem Land wird nur mit Hokuspokus gemacht!“
„Dann kühlt der Tee schneller ab“, sagte Gompa und lächelte. „Ich glaube, dass macht man überall auf der Welt so.“
„Ach so, ja.“
Gompa flößte Laima langsam die Medizin ein, während Lhatsen ihren Kopf hielt. Sie hörte, wie er leise flüsterte: „Trink, Laima! Trink!“
Dann schlief sie ein.
Es war ein unruhiger Schlaf. Bilder stiegen in ihr auf. Das Gesicht des toten Thian glitt vorüber. Professor Bersinsch. Ihre Mutter im Krankenhaus, leblos auf dem weißen Bett. Sie spürte, wie ihre Hand ihr über die Stirn strich. So, wie sie es schon immer getan hatte, seit Laima ein kleines Mädchen gewesen war.
Ihr wurde heiß. Überall heiße Lava. Sie stürzte rücklings hinein. Die Schmerzen waren unbeschreiblich. Es war, als zerkochten ihre Eingeweide, als platzten ihre Adern.
Dann war es ruhig. Sie war unter der Erde. Sie hörte die Schafe und Pferde, wie sie mit den Hufen scharrten, und versuchten an die Oberfläche zu kommen. Wie sie nach Luft schnappten wie Laima.
Ein Licht in der Ferne. Es war warm. Angenehm. Sie wusste nicht, ob das Licht auf sie oder sie auf das Licht zukam. Sie näherten sich einander. Es war, als wären sie nie getrennt gewesen.
Dann verschwand es.
Sie spürte die sanfte Hand auf ihrer Stirn.
Als sie die Augen öffnete, sah sie in Lhatsens lächelndes Gesicht. Die Berührung seiner Hand war angenehm. Er tupfte mit einem warmen Tuch ihre Stirn. Dann legte er das Tuch zur Seite und streichelte ihr Haar. Laima schloss die Augen.
Sie erinnerte sich an die letzten Worte, die sie vernommen hatte: „Trink, Laima! Trink!“
Sie schlug, von einer ungewissen Aufregung ergriffen, die Augen auf.
„Woher wusstest du, wie ich heiße?“, sagte Laima und sah ihn fest an. „Niemand hat in deiner Gegenwart meinen Namen erwähnt. Du konntest ihn gar nicht wissen!“
„Du hast mir doch geschrieben.“
„Ich dir geschrieben? Wann denn?“
„Du hast mir E-Mails geschrieben.“
Ihr wurde heiß und kalt. Ihr ganzer Körper begann, vor Aufregung zu zittern.
Wem hatte sie geschrieben? Niemandem außer ...
„Du bist Chang?“
Er nickte. Ihr Herz machte ein Sprung.
„Meine Mutter war Chinesin. Deswegen habe ich zwei Namen. Und als du mir geschrieben hast, dass du zum Kailash aufgebrochen warst, musste ich auch kommen.“
Sie richtete sich auf und fiel ihm in die Arme. Sie weinte.
Die Angst, die Trauer, die Anspannung. Alles fiel von ihr ab. Sie weinte vor Glück. Sie vergrub ihr Gesicht tief in Lhatsen.
Sie fühlte Glück. Reines Glück. Sie hatte sich noch nie in ihrem Leben so gut gefühlt. Alles war richtig. Sie war hier. Hier, am schönsten Platz im Universum. Der einzig wahre Ort. Er war es. Er war ihr Zentrum des Universums. Sie drückte Lhatsen so fest an sich, dass sie selbst keine Luft mehr bekam.
Sie wischte sich die Freudentränen ab. Sie spürte seinen Atem auf ihrer feuchten Haut. Ihre Blicke trafen sich. Dann fanden sich ihre Lippen und sie verloren sich in Leidenschaft.
Sie umkreisten sich wie zwei Galaxien, die füreinander bestimmt waren. Sie verschmolzen, um zu explodieren. Sie wurden hinausgeschleudert in die Unendlichkeit des Raums. Die Sterne prickelten auf ihrer Haut.
Lange lagen sie einfach nur da und genossen, endlich zueinandergefunden zu haben.
Später gesellten sie sich zu den Andren.
„Oh, der Tee hat aber gut geholfen“, sagte Figaro Slinkssons und grinste.
„Sieht sogar besser aus, als bevor sie in den See gefallen ist“, sagte Schüssli.
„So eine gesunde Gesichtsfarbe, meine Liebe. Wunderbar!“
Laima fühlte, wie ihre glühenden Wangen noch röter wurden, als sie es schon waren.
Sie setzten sich dazu, während die Andren sich mit Gompa unterhielten. Da fiel ihr von Steins Gesicht auf.
„Sie haben einen Bart bekommen!“, sagte sie. „So lange habe ich doch nicht geschlafen? Oder doch?“
„Nein, sie haben nur wenige Stunden geschlafen.“
„Aber sie haben sich heute Morgen noch rasiert.“
„Das ist uns auch aufgefallen. Es ist nur bei mir und Slinkssons so. Wie Lhatsen gesagt hat. Die Zeit vergeht hier schneller. Zumindest für einige.“
„Bei manchen ist eine Stunde wie ein Tag, wenn sie den Kailash umrunden“, sagte Gompa. „Das kommt häufig vor. Raum und Zeit verlieren sich hier. Vieles überdauert. Andres vergeht. Wie die Sünden. Deswegen kommen die Pilger. In der Hoffnung, sich von ihnen zu befreien. Sie opfern ihre Lebenszeit, um ihr Karma zu reinigen und Verdienste für künftige Leben zu erwerben.“
„Sollen wir einen Augenblick rausgehen?“, sagte Lhatsen, der sah, dass Laima frische Luft brauchte.
„Gern!“
Sie traten hinaus in die Nacht. Unter ihnen lagen die Berge. Über ihnen der Sternenhimmel.
Laima atmete die kühle Luft ein. Sie fühlte sich wunderbar. Noch nie war sie so glücklich, das zu sein, was sie war, ein Mensch. Mit allen Schwächen und Stärken. Sie war so dankbar, dass sie sich erleben durfte, spüren durfte. Sex, Glück, Leid erleben. Schmerz und Freude. Das alles wurde ihr bewusst.
Bis jetzt war immer irgendetwas in ihrem Leben nicht so gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Immer war daran etwas auszusetzen gewesen. Ein Hoffen und Wünschen. Aber jetzt! Jetzt spürte sie, wie wunderbar dies alles war. Die Unvollkommenheit war vollkommen. Alles hatte seinen Platz. Auch der Schmerz. Der Verlust. Sie dachte an ihre Mutter.
„Was ist mit deiner Mutter passiert?“, fragte Laima Lhatsen.
„Die Chinesen haben sie vor einem Jahr umgebracht.“
„Das tut mir leid.“
„Das muss es nicht. Du kannst ja nichts dafür.“
„Und warum?“
„Unsre Familie wohnt hier schon seit langer Zeit. Wir sind Mönche. Aber wir können unser Erbe nur weitergeben, wenn wir eine Familie gründen.“
„Was für ein Erbe?“
„Wir hüten die Höhle des Samadhi.“
„Wer ist der Samadhi?“
„Wir nennen ihn auch den, der niemals stirbt. Er wohnt in einer Höhle, weit oben am Berg. Niemand außer uns weiß von der Höhle. Aber die Chinesen haben alte Schriften gefunden, in denen sie erwähnt wird.“
„Und deswegen haben sie deine Mutter umgebracht?“
„Sie wollen mit aller Macht in die Höhle. Sie wollen den Samadhi. Aber es gibt Kräfte, die nicht von dieser Welt sind. Die es unmöglich machen, in die Höhlen einzudringen.“
„Was für Kräfte?“
„Es sind Assuri.“
„Davon hat uns Thian, unser Guide, auch erzählt.“
„Es sind Geister, die als helles Licht erscheinen. Erst spürt man einen starken Kopfschmerz. Dann bekommt man Angst. Und schließlich verfällt man dem Wahnsinn. Wenn man nicht mehr aus den Höhlen findet, töten sie einen.“
„Und die Chinesen wollten wissen, wie sie in die Höhle gelangen?“
„Ja, aber meine Mutter hat es ihnen nicht verraten. Es gibt auch nichts, was sie hätte verraten können. Wir kommen hinein. Sonst niemand.“
„Und du? Waren die Chinesen auch hinter dir her?“
„Natürlich. Aber ich habe mich versteckt.“
„Aha. Und wo?“
„Als Ameise unter Ameisen. Ich bin als chinesischer Student nach China gegangen. Dort konnten sie mich nicht finden.“
„Und dein Vater?“
„Er hat sich immer in den Höhlen versteckt, wenn sie kamen. Aber meine Mutter war auf dem Weg zu Verwandten. Dort haben sie auf sie gewartet.“
„Bist du nicht wütend auf die Chinesen?“
„Dinge sind, wie sie sind. Es macht keinen Sinn, an ihnen festzuhalten. Was bringt es mir, außer Hass? Ich habe ihnen vergeben und alles freigelassen.“
„Die Mörder meiner Mutter sind bereits tot. Es waren Leute vom Vatikan.“
„Vom Vatikan? Was könnte die interessieren?“
„Das habe ich mich auch schon gefragt“, sagte Laima. „Aber ich weiß es einfach nicht. Auch wenn ich es wüsste, es würde, wie du sagst, meine Mutter nicht wieder lebendig machen.“
„Schau! Eine Sternschnuppe“, sagte Lhatsen und legte seinen Arm um Laima.
„Laima“, sagte von Stein, als sie ins Innere der Einsiedelei zurückkehrten, „ich habe Gompa erzählt, dass ich auf der Suche nach Höhlen bin. Dass sie für meine Forschung von größter Wichtigkeit sind. Und er hat mir erzählt, dass es hier eine Besondere gibt. Er will uns morgen mitnehmen.“
Von Stein war ganz aufgeregt. Laima sah Lhatsen fragend an.
„Ich dachte, niemand weiß davon?“
Er machte ein ebenso ratloses Gesicht und zuckte mit den Schultern.
„Jetzt werden wir uns aber aufs Ohr hauen“, sagte von Stein und gähnte. „Es ist bereits spät und ich glaube, alle sind sehr müde.“
Laima und Lhatsen schliefen in dem kleinen Raum eng aneinandergeschmiegt. Laimas Herz schlug ihr vor Glück bis zum Hals. Dann schlief sie selig ein.
Am nächsten Morgen wartete schon das Frühstück auf sie. Laima trank den Buttertee und dachte an seine Legende, während ihr Blick auf Lhatsen ruhte. Das Märchen war endlich wahr geworden.
„Bevor wir aufbrechen“, sagte Gompa, „werde ich noch etwas vorbereiten müssen.“
Er holte eine große Messingschale aus dem Raum, in dem Laima und Lhatsen geschlafen hatten. Er nahm einige Gläser mit Kräutern und Pulvern vom Regal. Dann holte er hinter dem Ofen ein flaches, rundes Sieb hervor, das mit einem feinen Stoff bespannt war. Er legte es in die Schale. Dann goss er Wasser hinein.
„Was wird das, wenns fertig ist?“, fragte Sam.
„Geduld. Ich habe bereits gestern von den Assuri erzählt. Nur dieses Mittel hilft, nicht zu sterben.“
„Und das mischen sie uns jetzt?“, sagte Schüssli.
„Schauen sie einfach zu!“
Gompa maß die einzelnen Kräuter und Pulver in einem kleinen Fingerhut und schüttete sie vorsichtig in kreisenden Bewegungen auf die Oberfläche des Wassers, sodass sie sich gleichmäßig verteilten. Die Spannung des Wassers hielt die Mischung auf der Oberfläche. Dann nahm er einen Holzschlägel und schlug gegen den Rand der Messingschale.
Ein heller Klang breitete sich im Raum aus. Auf dem Wasser bildeten sich gleichmäßige Wellen.
„Sehen sie? Sehen sie die Kräuter?“, sagte er.
Die Kräuter begannen, sich auf der Oberfläche des Wassers auszurichten. Sie bildeten ein harmonisches Muster. Es erinnerte Laima an einen Eiskristall.
Als der Ton verklungen war, hielt Gompa seine Hand über die Schale und schloss die Augen. Die Kräuter begannen, sich auf dem Wasser zu bewegen. Die Muster veränderten sich. Es waren wunderschöne Formen. Wie in einem Kaleidoskop wandelten sie sich immer wieder aufs Neue. Sie drückten natürliche Schönheit und Reinheit aus. Das Formenspiel schien kein Ende zu nehmen.
Dann schlug Gompa die Augen wieder auf.
„Was haben sie da gemacht?“, wollte von Stein wissen.
„Nichts.“
„Aber sie haben doch willentlich auf das Wasser eingewirkt!“
„Habe ich das?“
„Hm, sie geben mir Rätsel auf“, sagte von Stein. „Und was haben sie dann gemacht?“
„Ich habe nichts gemacht, bis mein Geist leer war. Dann habe ich an etwas gedacht.“
„Also doch! Und was haben sie gedacht?“
„Ich habe Worte visualisiert. Wie jedes Wort sich mit seinem Klang im Raum ausbreitet, so breitet sich auch jeder Gedanke im Universum aus.“
„Sie glauben“, sagte Sam, „unsre Worte und Gedanken haben Einfluss auf die materielle Welt? Das ist doch Quatsch!“
„Wenn ich sage ‚Idiot’. Wie ist dann ihr Gefühl?“
„Kein Gutes“, sagte Sam.
„Sehen sie. Ein Unwohlsein. Ihr Körper wird sich zusammenziehen. Richtig?“
„Irgendetwas ist da“, sagte von Stein. „Ja, gut fühlt man sich nicht dabei.“
„Sie müssen das Wort nur lesen oder hören. Sie müssen es gar nicht auf sich selbst beziehen. Ich muss es gar nicht als Beleidigung an sie richten. Es reicht aus, dass sie es wahrnehmen, damit es seine Wirkung entfaltet. Wenn ich nun das Wort ,Freund’ sage, werden sie sich gut und warm fühlen. Alles in ihnen wird sich öffnen und strahlen. Nichts anderes habe ich hier gemacht. Ich habe zuerst meinen Geist befreit, bis ich nichts mehr gedacht habe. Dann habe ich verschiedene Worte wie Glück, Gesundheit, Wohlergehen, Dank und Demut visualisiert. Nichts weiter. Neben der Wirkung der Kräuter, die selbst wie Worte an den Körper funktionieren, habe ich damit zusätzlich etwas hineingegeben. Jetzt werde ich das Sieb herausnehmen.“
Die Kräuter lagen immer noch in ihrer wunderschönen Formation auf dem Wasser. Gompa zog das Sieb heraus und fing so das Muster auf ihm ein.
„Jetzt werde ich es über dem Ofen trocknen. Wenn es fertig ist, werden wir aufbrechen!“
„Ich werde auch einige Vorsichtsmaßnahmen treffen“, sagte von Stein. „Ich trage schließlich die Verantwortung für uns alle.“
„Ich kann selber auf mich aufpassen“, sagte Sam.
„Mit diesen Energien ist nicht zu spaßen“, sagte von Stein. „Ich habe hier für jeden ein Auramessgerät.“
Er hielt ein kleines quadratisches Gerät zwischen Daumen und Zeigefinger.
„Das Aurometer“, er schaltete es ein, „misst ihre Vitalenergie. Sollten sie keine direkten Beschwerden haben, so können sie trotzdem ablesen, wie hoch ihre Lebensenergie noch ist. Fällt die Anzeige rapide ab, besteht Lebensgefahr.“
„Wie meint er das mit ‚rapide’?“, flüsterte Sam.
„Schnell. Sinkt die Anzeige zu schnell, bist du gleich tot“, zischte Slinkssons.
„Es ist möglich, dass sie die Beschwerden nicht sofort bemerken. Wenn das Aurometer in den roten Bereich fällt, gibt es zusätzlich ein akustisches Signal ab. Das sollte sie alarmieren, die Höhle zu verlassen, wenn sie noch können. Gompa hat uns bereits gesagt, dass es tödlich enden kann. Wenn also einer von ihnen Beschwerden hat, müssen die Andren ihm sofort helfen!“
„Das Einflößen der Mischung, die ich hier vorbereitet habe“, sagte Gompa, „kann in schlimmen Fällen sofort helfen.“
Er nahm das trockene Sieb vom Ofen und zog vorsichtig die dünne Kräuterschicht vom Netz. Er hielt sie gegen das Licht. Laima sah die kaleidoskopartige Schönheit, die in das Papier übergegangen war.
„Reißen sie ein Stück ab. Nehmen sie nicht alles auf einmal, falls sie es später noch brauchen“, mahnte er.
„Gerold“, sagte Professor Carlsen, „ich fühle mich zu alt, um weiter den Berg hinaufzusteigen. Ich werde mich hier unten hinlegen und warten, bis sie wiederkommen.“
„Wenn sie meinen, Professor, dann ruhen sie sich aus. Die Expedition war ja bis hier her auch anstrengend genug.“
„Laima, meine Liebe“, sagte der Professor und nahm ihre Hand, „sie werden auch ohne mich die Sache zu Ende bringen. Professor Bersinsch wäre stolz auf sie. Unsre Gedanken werden sie auf ihrem Weg begleiten. Ich merke, dass es an der Zeit ist, der jungen Generation Platz zu machen.“
„Gut, Professor, ich werde mein Bestes geben.“
„Davon bin ich überzeugt“, sagte er und verschwand in einer der hinteren Kammern.
Sie hatten draußen alles ausgebreitet und packten nur das zusammen, was sie wirklich brauchen würden. Es war ein heilloses Durcheinander. Von Stein war so aufgeregt, dass er alle andren mit ansteckte. Schließlich waren sie soweit, bereit zur Höhle des Samadhi vorzustoßen. Lhatsen war zwischendurch verschwunden, tauchte dann aber wieder auf, als alle bereits auf ihn warteten.
„Los gehts“, sagte er.
Sie folgten einem schmalen Vorsprung, der unter den überhängenden Felsen am Berg entlang führte.
Auch Laima war besonders aufgeregt. Sie dachte daran, was Professor Bersinsch ihr erzählt hatte. Sie dachte an die Quelle aller Weisheit, die der Glasberg in der lettischen Mythologie darstellte. Sie war so aufgeregt, endlich zu erleben, wie sich ein Mythos vor ihren Augen in einen realen Ort verwandelte. Einen Ort, den sie jetzt betreten würden.
„Die einzelnen Schichten des Berges laufen genau parallel zum Horizont. Ist so etwas normal?“, fragte Slinkssons von Stein.
„Diese Art der Verwerfung ist in der Tat, geologisch gesehen, außergewöhnlich!“
„Es mutet schon fast wie die Schichten einer Pyramide an“, sagte Slinkssons.
„Sie meinen, es könnte künstlich geschaffen worden sein?“
„Wer weiß? Bei dem, was wir die letzten Tage erlebt haben, ist alles denkbar.“
„Wer sollte denn etwas von diesen Ausmaßen erschaffen können?“, sagte Schüssli skeptisch.
„Wer ist eigentlich dieser Samadhi?“, fragte Slinkssons.
„Eigentlich ist es ein Zustand“, sagte von Stein. „So weit ich verstanden habe, bedeutet es tiefe Versenkung. So tief, dass nicht nur ein geistiger Zustand erreicht wird, in dem die Seele den Körper verlässt, aber auch der physische Zustand der Kryptobiose.“
„Krypto... wie?“
„Kryptobiose oder auch Anabiose ist das, was Tiere im Winterschlaf machen“, sagte von Stein.
„Frösche und Fische?“
„Sie fahren Puls und alles andre auf ein Minimum runter. Damit sie nicht sterben. Die idealen Bedingungen dafür liegen bei einer Umgebungstemperatur von vier Grad plus. Auf dem Grund von Seen herrschen im Winter immer genau diese vier Grad.“
„Das heißt, der Samadhi ist schon tot, lebt aber noch?“
„So ungefähr. Man sagt, sie werden zu Stein, wenn sie über mehrere Monate im Zustand der Anabiose sitzen.“
„Und sie essen nicht und trinken nicht?“
„Wenn der Stoffwechsel derart runtergeschraubt wird, ist es nicht mehr nötig, viel Energie aufzunehmen.“
Dann erreichten sie die Höhle.
„Das war ja wirklich nicht weit.“
„Also ich fühl mich ganz normal!“, sagte Sam.
„Noch!“, sagte von Stein.
„Wenn wir in der Höhle sind“, sagte Gompa, „fassen sie den Samadhi nicht an! Wenn er in seiner Meditation gestört wird, kann es passieren, dass der silberne Faden, der seinen Körper mit seiner Seele verbindet, abreißt. Dann könnte er sterben.“
„Alle behalten also die Hände bei sich! Verstanden!“, sagte von Stein.
Er packte seinen Bione-Scanner aus. Dann verteilte er die Aurometer.
„Vergesst nicht, die Aurometer auch einzuschalten!“
Laima schaltete ihren gleich ein und steckte ihn sich an den Gürtel. Die Anzeige stieg langsam von Rot, über Orange, und schließlich auf den obersten Balken im grünen Bereich an.
„Sieht aus, als sei bei mir alles in Ordnung“, sagte sie.
„Gut. Und bei den andren?“
„Alles Roger, Roger?“, witzelte Sam.
„Dann werden wir jetzt die Höhle betreten. Und keine Witze mehr!“, sagte von Stein.
Er sah Figaro Slinkssons und Sam dabei streng an.
„Kommt!“, sagte Gompa und ging langsam voran in die Höhle.
„Taschelampen an!“