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Alle liefen hinter dem aufgeregten Mitarbeiter her aus dem Saal.
„Es ist gleich hier. Eine Reinigungskraft hat sie gefunden, als sie die Toiletten putzen wollte.“
Die Räume befanden sich genau auf der Rückseite der Bühne, auf der sie eben dem Vortrag gefolgt waren. Sie drängten sich durch den Waschraum. Dann sahen sie es. Eine der Kabinen stand offen. In der Tür klemmte ein Bein. Dickliche Flüssigkeit auf dem dunklen Steinboden, in der sich ihre Gesichter spiegelten.
„Was ist das?“, sagte von Stein, der als Erster vollen Einblick in die Kabine hatte und dabei die Augen zusammenkniff, als ob der Anblick ihn blendete.
„Es sind zwei Männer“, sagte Figaro Slinkssons.
„Es fehlt dem einen ein Stück vom Schädel“, sagte Sam. „Sieht aus, als hätte etwas ihm das Stück rausgebissen. Wie aus einem Apfel.“
Roger Schüssli reckte sich hinter Laima, um ebenfalls einen Blick auf die beiden toten Männer zu werfen. Dann drehte er sich abrupt um und erbrach sich in eines der Pissoirs an der Wand.
„Das sind nicht die einzigen Bissspuren“, sagte von Stein, der sich neben die Toten gekniet hatte. „Wie ein wildes Tier, das über die Beiden hergefallen ist.“
Auch Laima sah jetzt das Loch im Schädel und die gelbliche Gehirnmasse. Sie erkannte die beiden Männer sofort. Es waren die zwei Killer, die sie vom Krankenhaus aus gejagt und am Flughafen erwartet hatten. Sie waren also doch noch hinter ihr her gewesen. Ihre innere Unruhe hatte sie nicht getäuscht. Jetzt waren beide tot. Wer, oder besser was, hatte sie so bestialisch zugerichtet?
„Sie tragen Bione-Uniformen“, stellte von Stein fest.
„Ja, das habe ich auch schon gesehen“, sagte der Mitarbeiter etwas hilflos. „Ich kann es mir leider nicht erklären, denn sie sind keine Mitarbeiter von uns. Das habe ich bereits überprüfen lassen. Aber ich werde der Sache sofort auf den Grund gehen.“
„Haben sie die Ringe gesehen?“, bemerkte Figaro Slinkssons.
„Was ist damit?“, sagte von Stein.
„Sehen ziemlich teuer aus. Außerdem das Wappen. Sagt ihnen das nichts?“
„Eine Krone über zwei gekreuzten Schlüsseln?“
„Das sind die Petrusschlüssel. Die Krone ist eine Tiara.“
„Die Papstkrone! Sie meinen, die sind von Vatikan?“, sagte von Stein.
„Da blinkt etwas“, Roger Schüssli zeigte mit dem Finger zwischen die zwei Leichen. Sein Magen schien sich stabilisiert zu haben. „Da, unter dem Einen.“
„Helfen sie mir“, sagte von Stein zu Sam, der hinter ihm stand. „Wir werden ihn auf die Seite drehen.“
„Sollten wir nicht warten, bis die Polizei kommt und alles untersucht?“, sagte Schüssli.
„Die liegen hier in meiner Firma. Leiche hin oder her, wenn die was gestohlen haben, was mir gehört, dann will ich es als Erster wissen. Fassen sie mit an, Sam!“
Sie drehten den oberen Körper auf die Seite. Ein leises elektronisches Piepen war zu hören. Dazu blinkte die rote Digitalanzeige einer Uhr auf der runden Metallkugel, die zum Vorschein kam.
„Sieht aus wie eine Bombe“, sagte von Stein. „Ich habe so etwas schon mal gesehen. Es könnte eine Neutronenbombe sein.“
„Sie meinen eine Atomwaffe?“, Professor Carlsens Worte klangen heiser und ungläubig.
„Nur, dass die Neutronenbombe das Gebäude stehen lässt, während wir ins All gepustet werden.“
„Vielleicht machen wir irgendwas?“, sagte Schüssli beunruhigt. „Wenn ich das richtig sehe, bleiben uns eine Minute zweiunddreißig, einunddreißig ...“ Er fing an zu schwitzen.
„Soll ich die Kampfmittelbeseitigung anrufen?“, sagte der Bione-Mitarbeiter.
„Ich fürchte, bis die ihre Autoschlüssel gefunden haben, ist von uns schon nichts mehr übrig.“
Er holte ein rotes Schweizer Armeemesser aus der Tasche.
„Das ist wohl das Einzige, was uns bleibt“, sagte von Stein und klappte einen kleinen Schraubenzieher aus seinem Messer.
Vorsichtig fing er an, die Schrauben herauszudrehen, die beide Kugelhälften des Gehäuses zusammenhielten.
Eine Minute zwanzig zeigte die nervös blinkende Uhr.
„Ihr Schweizer seid ja dafür bekannt, dass ihr etwas langsamer seid, aber hättet ihr nicht mal ein Messer mit Akkuschrauber erfinden können?“, sagte Figaro Slinkssons.
„Herr von Stein ist Deutscher und wir Schweizer erfinden das, was uns sinnvoll erscheint“, sagte Roger Schüssli.
„Können wir das Ding überhaupt bewegen, ohne dass es uns um die Ohren fliegt?“, sagte Professor Carlsen.
„Ich denke, wenn die Zwei auf ihre eigene Bombe gefallen sind, sollte es kein Problem darstellen. In jedem Fall würde ich jetzt meinen Frieden mit der Welt machen. Es könnte unsere letzte Minute sein. Gerade genug Zeit für ein vorsorgliches Gebet.“
Er hatte die letzte Schraube gelöst und nahm den oberen Teil des Gehäuses ab, auf dem die Uhr blinkte. Neunundfünfzig, achtundfünfzig ...
„Die Uhr“, Roger Schüssli schrie. „Sie läuft doppelt so schnell!“
„Die Uhr läuft immer schneller!“
Das Blinken wurde immer hektischer, das Piepen immer kürzer.
„Roter oder grüner Draht?“, sagte Slinkssons.
„Beide rot“, brüllte von Stein.
„Fifty-fifty!“
„Ich will nicht sterben“, schrie Schüssli.
„Hör auf zu heulen und reiß dich zusammen“, sagte Sam.
„Rot oder rot?“, fragte von Stein mit Schweiß auf der Stirn.
„Machen sie einfach!“, sagte Sam. „Irgendetwas!“
Die Zahlen rasten. Zwanzig ... fünfzehn ... zehn ... Das Piepen verschmolz zu einem einzigen Ton.
„Nehmen sie die Batterie raus!“, sagte Laima. „Wie beim Wecker. Die Knopfbatterie!“
„Wie beim Wecker“, wiederholte von Stein mechanisch.
„Wie beim Wecker!“, sagte Figaro Slinkssons. „Nun machen sie schon!“
Die Zahlen waren kaum noch zu erkennen, so schnell flogen sie dahin.
Sechs, vier, eins ...
Alle hielten den Atem an.
„Aus! Es ist aus!“
Roger Schüssli jubelte als Erster.
„O Mann, was für ein Mist“, sagte Gerold von Stein und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn.
„Einen kühlen Kopf bewahrt“, sagte Figaro Slinkssons und schüttelte Laima die Hand. „Danke! Ich glaube, unsere Kleine hat uns gerade allen den Hintern gerettet.“
„Wie beim Wecker. Nicht schlecht!“, sagte von Stein und klopfte ihr anerkennend auf die Schulter.
„Glück gehabt“, sagte Laima.
Trotz der erschütternden Ereignisse liefen die Vorbereitungen für die Expedition weiter.
Niemand hatte nach der ersten überwundenen Anspannung Lust, sich weiter in die Angelegenheit zu vertiefen. Jeder wollte sich vom Schock erholen und war froh, wenn ihm eine Aufgabe zugeteilt wurde, die ihn davon ablenkte, darüber nachzudenken, wie nahe sie alle dem Tod gewesen waren. Eine seltsame Stille lag über der Gruppe, die wie Nebel alles zu dämpfen schien.
Am Abend ging es bereits Richtung Flughafen. Von Stein hatte den Abflug vorverlegt. Sie fuhren auf das Flughafengelände und steuerten auf einen Hangar zu, der nur für Privatmaschinen war. Sie hielten neben einem kleinen Jet.
„Fühlen sie sich wie zu Hause“, sagte von Stein, als sie ins Flugzeug stiegen.
Sein Gesicht wirkte müde und leer.
„Ich habe für sie alle Schlafplätze herrichten lassen. Wählen sie sich einfach etwas aus. Ihr Gepäck sowie die Ausrüstung sind bereits verladen. Und wir werden in wenigen Augenblicken zum Start auf das Rollfeld fahren. Bitte schnallen sie sich an!“
Kaum hatte er es gesagt, wurde auch schon die Tür geschlossen und der Flieger setzte sich in Bewegung.
Laima saß neben Gerold von Stein. Die Maschine rollte aus dem Hangar. Der Pilot schaltete das Licht in der Kabine aus. Draußen leuchteten die Markierungen der Rollbahnen und des Towers in der Dunkelheit.
„Wir sind früher als geplant aufgebrochen. Was hat das zu bedeuten? Machen sie sich Sorgen?“, sagte Laima zu von Stein.
„Ich weiß es nicht“, antwortete er.
„Haben sie mit der Polizei gesprochen? Waren die Männer tatsächlich vom Vatikan?“
„Der leitende Kommissar sagte, sie hätten erst alle Datenbanken nach den Männern durchsucht und nichts gefunden. Daraufhin habe er in Rom angerufen.“
„Und?“
„Dort kennt man die beiden Männer nicht. Sie hätten auch nichts mit dem Vatikan zu tun.“
„Und die Ringe mit dem Siegel des Vatikanstaates?“
„Das hat der Kommissar natürlich auch gefragt. Angeblich handle es sich um einfachen Touristenkitsch, den sich jeder im Souvenirladen kaufen kann.“
„Die Ringe machten aber nicht den Eindruck, als seien sie aus einem vatikanischen Kaugummiautomaten.“
„Das wollte der Kommissar auch sagen, beendete aber das Telefonat. Er beschloss, sich die Ringe noch einmal aus der Asservatenkammer kommen zu lassen, um ganz sicher zu sein. Da er vorher beim Einbruchsdezernat war, glaubte er auf den ersten Blick erkannt zu haben, dass sie aus reinem Gold waren.“
Sie standen auf dem Rollfeld und warteten hinter einer anderen Maschine auf ihre Starterlaubnis.
„Und dann?“, fragte Laima, weil von Stein nicht weitererzählte, sondern nachdenklich aus dem kleinen Fenster auf die Lichter in der Dunkelheit starrte.
„Nichts.“
„Wie nichts?“
„Die Ringe waren nicht mehr aufzufinden.“
„Sie sind aus der Asservatenkammer gestohlen worden?“
„Sie sind nie in der Asservatenkammer angekommen.“
„Wie geht denn das?“
„Das hat sich der Kommissar auch gefragt. Ihm war klar, dass es einen weiteren Anruf im Vatikan damit nicht mehr geben würde.“
Die Düsen drehten auf und sie wurden in ihre Sitze gepresst. Dann hob es sie an und sie glitten durch die Nacht. Die Lichter entfernten sich.
„Dann ist klar, dass die Männer doch etwas mit dem Vatikan zu tun hatten“, sagte Laima.
„Möglich, sogar wahrscheinlich.“
„Erst leugnen, dann verschwinden die Ringe. Das ist doch wie ein Schuldeingeständnis.“
„Sehe ich auch so. Aber wenn die Ringe weg und die Leichen nirgends registriert sind, verliert sich jede Spur“, sagte von Stein.
„Und wurde etwas in ihrer Firma gestohlen?“
„So weit wir feststellen konnten nicht. Deswegen bin ich ja so beunruhigt.“
„Glauben sie, es hat mit der Expedition zu tun?“
„Ich wollte so schnell wie möglich aufbrechen. Wer mit einer Neutronenbombe versucht, uns alle zu pulverisieren, könnte noch zu ganz andren Sachen fähig sein. Obwohl mir etwas Schlimmeres kaum noch einfällt. Aber der Kreativität sind bekanntlich keine Grenzen gesetzt.“
„Wenn die Beiden einfache Touristen waren, würden sie auch kaum mit einer Neutronenbombe im Gepäck verreisen.“
„Das mag alles stimmen“, sagte von Stein müde und gähnte, „aber was nützt es uns, zu wissen wer sie sind und was sie wollten? Schlafen wir lieber!“
„Aber was ist mit den Bissen? Was hat der Kommissar dazu gesagt?“
„Nichts. Er war genauso ratlos wie sie“, sagte von Stein, drehte sich auf die Seite und zog sich seine Decke über die Schulter.
„Schlafen sie lieber. Das ist vielleicht das Sinnvollste, was wir jetzt tun können. Morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus.“
„Wenn wir morgen noch am Leben sind“, sagte Laima.
Sie lag noch lange wach. Der Anblick der Toten verfolgte sie. Sie war anscheinend die Einzige. Alle anderen schliefen bereits lautstark. Männer, dachte sie.
Sie wachte auf. Ein dämmriges Licht waberte durch den Flieger. Sie drehte sich zu Gerold von Stein. Rüttelte ihn wach. Leblos kippte sein Kopf zu ihr herüber. Ein riesiger Biss mitten im Gesicht. Wo seine Nase war, klaffte ein Loch. Sie wollte schreien, doch kein Laut drang aus ihrer Kehle. Hektisch schaute sie sich um. Sie stand auf, wollte Sam wecken. Sein Unterkiefer fehlte. Sein Auge herausgebissen. Sie wollte schreien. Es war wie Watte in ihrem Hals. Professor Carlsen, Slinkssons, Schüssli tot. Sie taumelte in die Pilotenkabine. Beide Piloten totgebissen. Die Maschine befand sich im geraden Sturzflug. Es dauerte, bis sie verstand, was auf sie zuraste. Es war die dunkelblaue Oberfläche des Meeres, auf der sie zerschellen würde.