13
„Weiter, gleich haben wir ihn!“
Sie gaben alles. Es brannten nicht nur Laimas Hände. Auch ihre Muskeln. Sie durften jetzt nicht nachlassen. Sie spürte, wie die Säure ihre Muskeln überschwemmte. Sie würde nicht mehr lange durchhalten. Jetzt musste sie alles geben, um ein Leben zu retten, sagte sie sich und zog.
Dann schlug Slinkssons Körper gegen den Rand der Felsen. Sam wickelte das Seil sofort um einen schweren Stein. Jetzt konnten sie loslassen. Erleichtert fielen sie hin. Laima sah, wie die anderen Slinkssons bewusstlosen Körper aus dem Wasser zogen. Er wirkte schwer und schlaff, als habe er sich vollgesogen. Sie drehten ihn auf den Rücken und begannen, ihn wiederzubeleben. Sie drückten ihm rhythmisch pumpend auf die Brust.
Dann, mit einem Husten, schoss ein Schwall Wasser aus seinem Mund und er begann, röchelnd zu atmen.
Es dauerte eine Weile, bis er wieder ganz bei sich war. Aber alles in allem hatte er die Sache ohne größeren Schaden überstanden, wie Professor Carlsen zur Erleichterung aller feststellte.
„Was zum Henker ist passiert?“, fragte Slinkssons.
Ein allgemeines Schweigen trat ein. Warum niemand etwas sagte, war Laima ein Rätsel. Dann sprang Sam ein.
„Ich bin auf den Steinen ausgerutscht“, sagte er.
Es klang für Laima nicht so, als wolle er Schüssli in Schutz nehmen oder seine eigene dumme Bemerkung damit verschweigen. Es hatte den Anschein, als wolle er Slinkssons schonen und gleichzeitig die Stimmung zwischen den Gruppenmitgliedern nicht weiter aufschaukeln. Es war ein Punkt erreicht, an dem der Spaß aufhörte. Ein Leben hatte auf dem Spiel gestanden.
Sie kramten Rettungsdecken aus der Ausrüstung und wickelten den zitternden Slinkssons so fest ein, wie es nur ging. Laima und Schüssli machten Feuer für einen heißen Tee. Erst als er eine ganze Zeit dicht am Feuer gesessen und seine zweite Tasse getrunken hatte, nahmen Slinkssons vor Kälte blau angelaufenen Lippen wieder ihre natürliche Farbe an.
„Wir sollten einen zweiten Versuch wagen“, sagte Sam. „Ich melde mich freiwillig.“
„Bist du lebensmüde?“, sagte Slinkssons. „Ich war da draußen. Auf einem wilden Stier zu reiten wäre leichter, als über diesen verdammten Fluss zu kommen.“
„Ich werde auch nicht allein fahren.“
Alle Blicke wanderten zu Schüssli.
„O nein! Nein, nein“, wehrte er ab.
„Das wird auch nicht nötig sein. Wir werden einen schwereren Mann brauchen. Ich dachte, man könnte zwei Schlauchboote nebeneinanderbinden. So wäre es stabiler und die Gefahr des Umkippens nicht so groß. Wenn sie mir assistieren würden, Professor?“
„Warum nicht?“, sagte Professor Carlsen und nickte. „Es klingt zumindest besser als der erste Versuch.“
„Ansonsten seilen uns die Anderen ab wie gehabt“, sagte Sam. „Vielleicht über einen Felsen als Winde. Nur diesmal binden wir das Seil nicht mehr fest an. Was denken sie, Gerold?“
„Das sollte klappen. Auch wenn Figaro sich noch ausruhen muss und uns nicht unterstützen kann. Die Umlenkung über den Felsen halbiert die Last. Das sollte gehen.“
„Ich packe mit an“, protestierte Slinkssons.
„Das kommt in ihrem Zustand überhaupt nicht in Frage“, sagte von Stein.
„Das sage ich als ihr Arzt aber auch“, sagte Professor Carlsen.
„Mein Arzt, wie komme ich denn dazu?“
„Sehen sie hier vielleicht irgendwo noch einen andren als mich, mein Lieber?“
„Moralische Unterstützung ist auch wichtig“, sagte Laima.
„Motivation ist alles“, sagte Sam.
Die Idee eines hinterhältigen Mörders in ihrer Mitte kam Laima gerade ziemlich dumm vor. Sie hoffte, dass diese Theorie genauso hinfällig war wie all ihre andren Ängste auch.
„Na, dann will ich mich mit einem Platz auf der Reservebank begnügen“, sagte Figaro Slinkssons.
„Schließlich haben sie ihren Einsatz heute schon hinter sich“, sagte von Stein und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Wenn wir zur Nacht unsere Zelte und Schlafsäcke hätten, könnte der Tag noch einen wirklich versöhnlichen Abschluss finden. Auf ins Gefecht!“
Voll neuer Hoffnung pumpten sie ein zweites Boot auf, vertäuten es mit dem anderen. Sam und der Professor bekamen jeder ein Paddel und sie ließen das Gefährt zu Wasser.
Sam hatte es deutlich schwerer in das äußere der beiden Boote zu klettern. Aber er war der Kräftigere von beiden und sollte der Schlagmann sein, der das Floß auf die andere Seite schaffen musste. Die Andren legten die Leine um einen Felsen, der nicht allzu weit vom Ufer stand. Es war viel leichter als beim ersten Versuch, auch wenn Laima deutlich die Anstrengung in allen Fasern ihres Körpers spürte. Das Floß tanzte auf den Wellen wie zuvor Figaro Slinkssons Boot, aber die zusammengeschnürte Konstruktion erwies sich als wesentlich stabiler. Es sah aus, als machte es Professor Carlsen sogar Spaß, mit den Wellen auf und ab zu schaukeln, während Sam ‚The Rock’ Jackson verbissen paddelte.
Mit jedem Stich ins Wasser gaben sie den Booten mehr Leine. Professor Carlsen und Sam drifteten weit den Fluss herunter. Die Leine wurde immer kürzer, viel blieb nicht mehr.
„Was machen wir jetzt?“, sagte Schüssli. „Wir können ja nicht loslassen, oder?“
„Auf keinen Fall“, sagte von Stein. „Wir müssen ziehen und Sam und der Professor müssen rudern und es irgendwie ans Ufer schaffen.“
„Noch zwei Meter Seil vielleicht. Dann können wir sie nicht mehr halten.“
Sam und der Professor ruderten jetzt wie wild. Die Strömung war mörderisch. Sie waren fast an der anderen Seite, aber es wäre Wahnsinn gewesen, aus den Booten ins Wasser zu steigen.
„Ziehen, sonst entgleiten sie uns“, schrie von Stein. „Ziehen!“
Auf der anderen Seite war das Floß zum Greifen nah an den Felsen.
„Ich schaffe es nicht mehr“, sagte Laima.
Slinkssons sprang herbei und zog hinter Laima mit am Seil, aber es war unmöglich, gegen die Strömung und den Wasserwiderstand von zwei Schlauchbooten anzukommen.
„Wir schaffen es nicht“, rief Schüssli.
„Anpacken Männer“, rief Slinkssons, aber es war bei aller Motivation unmöglich.
Das Seil bewegte sich keinen Millimeter. Von Stein war der Erste in der Reihe. Er stemmte sich bereits mit beiden Füßen gegen die Steine.
„Wir müssen loslassen“, sagte er. „Wir können sie nicht mehr halte. Bei drei! Eins, zwei, drei.“
Der Rest vom Seil sauste zwischen den Steinen hindurch und das Floß trieb mit der Strömung. Sam blickte nicht mal zu ihnen rüber. Er ackerte weiter und schaufelte sich durch die Flut.
Da. Er hatte ein Stück des Seils um einen Felsen geworfen. Die verschnürten Boote fielen weiter ab. Jetzt stießen sie sogar gegen einen Felsen. Das ganze Floß begann, sich zu drehen.
Dann ein Ruck mitten in der Drehung. Sam hielt verbissen das Seil. Er zog und das Floß richtete sich wieder in der Strömung aus. Dann machte er einen Knoten. Das Boot wurde gegen das gegenüberliegende Ufer gepresst. Er stieg aus. Jetzt hakte er mit dem Paddel das Boot fest und half dem Professor auszusteigen. Sie hatten es geschafft. Jubel brach aus. Alle hüpften vor Freude, dass die Andren heil das gegenüberliegende Ufer erreicht hatten.
„Aber was machen wir jetzt?“, fragte Schüssli.
„Jetzt können sie uns das Seil rüberwerfen“, sagte Slinkssons. „Wenn wir es fangen, können wir es hier festbinden. Das sollte uns ohne Probleme gelingen.“
„Gut“, sagte von Stein. „Fangen wir gleich an.“
Sie riefen über das Wasser und mit einigen Gesten war klar, was zu tun war.
Alle gingen in Deckung, als das Ende des Seils, um einen Stein gewickelt, auf ihrer Seite aufschlug. Sobald der Rest des Seils aber in die Fluten fiel, wurde der Stein sofort mit großer Wucht von den Felsen gerissen. Es hieß also vorsichtig und schnell sein. Glücklicherweise verkeilte sich beim dritten Wurf das Knäuel mit dem Stein in einer Spalte. Mit allen Kräften zogen sie das Seil aus dem Wasser, sodass es sich endlich über dem reißenden Strom spannte, der ihnen so viel abverlangt hatte.
Nun machten sich Sam ‚The Rock’ Jackson und Professor Carlsen daran, die Ausrüstung von der Palette zu bergen. Laima und die anderen konnten nicht erkennen, ob die Sachen Schaden genommen hatten. Nach und nach stapelte sich auf der andren Seite des Flusses Allerlei, bis alles ausgepackt war.
Jetzt sahen sie, wie Sam eine Rolle auf das Seil montierte und eine große Tasche aus den Resten des Airbags der Palette mit einem Messer zurechtschnitt. Geschickt und schnell bastelte er einen großen Sack, den der Professor ausprobieren musste. Er setzte sich hinein. Sam stand allerdings zwischen ihm und dem Ufer, sodass er nicht aus Versehen auf das Wasser hinausrutschte.
„Es sieht alles recht stabil aus“, sagte Slinkssons.
„Wenn es den Professor trägt!“, sagte von Stein.
„Und wenn die Ladung mitten im Fluss zu tief durchhängt?“, sagte Schüssli.
„Das Seil hängt hoch genug“, sagte von Stein.
„Wir brauchen nur ein zweites Seil, um die Ladung zu bewegen“, sagte Slinkssons.
„Es müsste noch eine weitere Leine bei den andren drüben sein.“
Sam und der Professor hatten sie bereits gefunden und hielten das verschnürte Bündel hoch.
Erneut flog ein Seil über den Fluss. Diesmal quer über das bereits Gespannte, damit es nicht wieder vom Strom mitgerissen wurde, sondern darauf zum Liegen kam. Es klappte auf Anhieb, sodass nach wenigen Handgriffen der erste Teil der Ausrüstung über das Wasser schwebte.
„Alles bestens“, sagte von Stein und sie hievten den Sack mit vereinten Kräften zu sich an Land. Alle vier Männer waren dazu nötig. Laima beschloss, sich um das Feuer zu kümmern. Sie sammelte Holz, von dem sie in der Nacht und für die Zubereitung des Fisches noch eine reichliche Menge benötigen würden.
Unermüdlich rollte der Sack an der Winde von einer Seite zur andren. Der Haufen mit ihrer Ausrüstung wuchs und wuchs.
Es wurde bereits dunkel.
„Jetzt bleibt uns nur noch, unsere Männer zurückzuholen“, sagte von Stein.
Laima hatte Thian beobachtet. Er hatte sich so gut eingefügt, dass von Stein kaum für ihn übersetzen musste. Alles erklärte sich von selbst. Nachdem er seine Nervosität, die von den fehlenden Zigaretten kam, überwunden hatte, fand er eine willkommene Ablenkung darin, ihnen fleißig zur Hand zu gehen.
Nach einigem Hin und Her über das Tosen des Stroms hinweg wurde man sich einig, dass der Versuch, Sam und den Professor zurückzuholen, nicht über die Boote, sondern über die Seilwinde stattfinden sollte. Allerdings blieben dann die Boote auf der andren Seite zurück. Eine Alternative war, den Professor an der Winde herüberzuziehen. Dann bestand nur für Sam die Gefahr, mit den Booten umzukippen.
Also band Sam sich und den Professor an die Winde. Sie stiegen in die Schlauchboote. Sam hangelte sich und den Professor, der flach in seinem Boot lag, über den Fluss.
Bis zur Mitte ging es zügig vorwärts. Dann ließen seine Kräfte nach. Sam sammelte sich ein letztes Mal und alle feuerten ihn an.
„Sam, Sam, Sam ...“
Sie griffen nach den Booten, sobald sie in Reichweite waren. Dann war es geschafft.
Überglücklich fiel Sam an Land. Auch der Professor stieg, mit etwas Hilfe, aus.
„Jetzt nur noch an der Leine ziehen“, stöhnte Sam.
Slinkssons folgte seinen Anweisungen. Der Knoten der Leine löste sich auf der anderen Seite des Flusses. Das Seil glitt ins Wasser und ließ sich problemlos einholen. Damit war die Bergung beendet.
Die Fische, die Sam zuvor gefangen hatte, waren ausgenommen und brutzelten mit einem Zweig Rosmarin im Bauch auf den Spießen über dem Feuer. Über ihnen funkelte der Sternenhimmel.
„Seht was wir gefunden haben“, sagte Professor Carlsen und hielt eine Flasche Whiskey in die Höhe. „Also, mein lieber Gerold von Stein, ein Prosit auf sie als Proviantmeister und vor allem als Erfinder, der es möglich gemacht hat, dass eine Flasche dieses flüssigen Goldes einen Sturz aus wer weiß wie vielen Metern Höhe unbeschadet überlebt hat. Ihnen gebührt damit der erste Schluck. Bitte! Auf ihr Wohl!“
Er reichte von Stein die Flasche. Alle waren bester Dinge.
Auch wenn sie in einer Steinwüste gefangen waren, zwischen gefährlichen Bergen, mitten in einem fremden Land, so löste gerade deswegen diese Flasche am Feuer eine so ungekannte Freude aus, dachte Laima. Und obwohl sie selbst nicht trank, wirkte die Ausgelassenheit der andren auf sie ebenso ansteckend.
Der Fisch nach Sams Rezept war außergewöhnlich und schmeckte an der frischen Luft und nach der übernatürlichen Anstrengung, die sie alle hinter sich hatten, doppelt und dreifach gut. Es war sogar nach der schmalen Kost der letzten Tage das Beste, was Laima je gegessen hatte. Danach war sie einfach nur glücklich. Glücklich hier zu sein, mit dem, was sie hatte und alldem, was sie nicht hatte.
Es gab tausend Dinge, um die sie sich hätte Sorgen machen können und vielleicht machen müssen in ihrer Lage, aber sie fühlte sich einfach leicht und frei. Ihr Kopf war völlig leer. Sie lag auf dem Rücken, ein warmes Fell unter sich, die Füße am Feuer. Mit einem vollen Bauch starrte sie in die Sterne. Eine Sternschnuppe blitzte auf. Sie war einfach da. Alles war jetzt einfach da. Sie lauschte dem Gelächter der Männer. Sam erzählte Witze und Anekdoten von seiner Frau und den zehn Kindern, die er in Louisiana hatte. Das unbestimmte Bild von Chang stieg in ihr auf wie ein Wohlgefühl. Sie schloss die Augen und sah trotzdem die Sterne. Dieser Moment war stark und klar.
Es war das laute Lachen der Anderen, das sie aufschreckte. Thian legte gerade etwas Brennholz nach. Sam hatte einen besonders guten Witz zum Besten gegeben, denn Schüssli und der Professor konnten sich gar nicht mehr beruhigen. Laima hatte völlig den Anschluss an die Unterhaltung verloren. Sie musste eingenickt sein.
„Zum Thema Erscheinungen“, sagte von Stein. „Erscheinungen waren genau das, was mich überhaupt gereizt hat, damals die ersten Geräte zu entwickeln. Aber ich kann euch sagen, Späße sollte man damit nicht treiben. Es war auch mehr ein Zufall, der dazu führte.“
Alle beugten sich näher ans Feuer, um von Steins Ausführungen zu folgen.
„Es war kurz nach der Wende. Nach dem Fall der Mauer wurden die enteigneten, oder wie es hieß verstaatlichten, Güter an ihre Eigentümer zurückgegeben. So erbte die Familie meines damaligen Freundes Martin eine alte Villa. Sein Vater hatte dort nie gelebt. Er war im Westen aufgewachsen und kannte die Geschichten und Fotos nur von Martins Mutter.
Ihr Vater war in der Kriegsgefangenschaft gestorben, hatte die Familie aber mit einem seiner letzten Briefe angewiesen, die Ostzone zu verlassen. So war ihre Mutter mit den Kindern in den Westen geflohen.
Als sie nun relativ schnell Nachricht erhielten, dass die alte Villa wieder in den Besitz der Familie überführt werden sollte, fuhren sie sofort hin. Das Haus hatte mehrere Jahre leergestanden. Niemand der Nachbarn konnte ihnen sagen warum. Es war in den Anfangsjahren des Sozialismus eine Funktionärsunterkunft gewesen. Dann war es lange ungenutzt geblieben. ‚Zu feudal für Parteibonzen’, sagten die Einen, ‚zu schlechte Bausubstanz und feuchtes Mauerwerk’, sagten die Anderen. Aber Martins Vater war Architekt und stellte schnell fest, dass trotz der von außen nass aussehenden Wände drinnen alles trocken und intakt war. Das Haus erwies sich als sehr schön und gut erhalten. Es war weniger heruntergewohnt als vermutet. So beschlossen sie, es im Handumdrehen zu renovieren und nahmen mich dazu mit.
Während im Garten geschuftet, Sand geschaufelt und Zement gemischt wurde, um den Wintergarten wieder herzurichten, wurde viel erzählt. Es ging um das Haus. Was dort früher alles geschehen war. Wie rauschende Feste gefeiert wurden und wie reich und bunt überhaupt das Leben der großindustriellen Vorfahren gewesen war.
Es war die Rede davon, welche wundervollen Bilder an den Wänden gehangen haben. Schnell wurde unsere Fantasie angeregt zu Spekulationen, die von Martin und mir kamen, vermischt mit dem Hörensagen seines Vaters, der alles nur aus den Geschichten seiner Frau kannte, die es aus der Sicht eines Kindes und jungen Mädchens wahrgenommen hatte. Es ging um geheime Kammern, die es in alten Häusern gab. In denen Schätze gehortet wurden, die es vor Neidern oder der Steuer zu verbergen galt.
So kam zur Sprache, dass es tatsächlich einmal eine ungewöhnliche und sehr alte und wertvolle Waffensammlung gegeben haben soll, wie Martins Mutter sagte. Sie habe sie als Kind immer bewundert. Alte, kunstvoll verzierte Musketen noch aus der Zeit ihrer Ur-ur-urgroßväter, die bereits über Jahrhunderte von Generation zu Generation weitervererbt wurden. Dann eines Tages seien sie über Nacht verschwunden.
Erst Jahre später habe ihr ihre Mutter erzählt, dass ihr Vater sie während des Krieges, als er auf Heimaturlaub war, aus Angst vor den herannahenden Truppen, vergraben hatte. Er hatte ihr gesagt wo. Aber er hatte ihr auch gesagt, dass sie nie danach suchen solle. Wir waren natürlich mit unserer Arbeit immer langsamer geworden und hingen an den Lippen von Martins Mutter.
‚Hier unter dem Apfelbaum hinter dem Haus’, sagte sie und deutete auf die Stelle neben uns, die von einem großen, alten Apfelbaum beschattet war. ‚Dort sollen sie vergraben sein’.
Wir waren wie elektrisiert. Wir hatten die ganze Zeit neben einem echten Schatz gearbeitet, uns sogar über ihm im Schatten auf dem Rasen ausgeruht. Und jetzt standen wir genau davor.
‚Nein, nein’, sagte Martins Vater. ‚Wir haben ein Haus geerbt. Das ist Glück genug. Das reicht doch?’
Diese Frage hätte er besser nicht gestellt. Es entbrannte eine hitzige Diskussion. Wir wollten in unserem jugendlichen Eifer natürlich sofort den Spaten in den Rasen schlagen. Auch Martins Schwester war gespannt, was wir finden würden. Martins Mutter wusste nicht so recht, war aber ebenso neugierig, ob die Geschichte wirklich stimmte. Genau das weckte schließlich auch das Interesse von Martins Vater. Es wurde noch spekuliert, Martins Großvater hätte die Gewehre vielleicht selbst wieder ausgegraben oder jemand anderer hätte sie mittlerweile gefunden. Und so wollten schließlich alle nachsehen, ob sich unter dem Apfelbaum tatsächlich der Schatz verbarg.
Man einigte sich darauf, die angefangene Arbeit zu Ende zu führen, eine kleine Erfrischung zu sich zu nehmen, um dann zum Abschluss des Tages den Schatz zu heben, wie wir alle hofften.
Es war Abend geworden, als wir uns alle unter dem Apfelbaum versammelten. Ein lauer Sommerwind wehte und es duftete nach Äpfeln. Obwohl es bereits dämmerte, war der sommerliche Himmel immer noch blau. Feierlich erhob Martins Vater den Spaten, um den ersten Stich zu machen, als von allen Seiten grüne Lichtkugeln heranschossen und wild durch die Luft wirbelten. Die Erscheinungen an sich waren nicht furchteinflößend, aber das, was von ihnen ausging, war es. Sie verbreiteten ein Gefühl blanker Angst. Es war eine eisige Kälte, die mich umfing. Panik und Schrecken. Ich bekam keine Luft mehr, hatte Kopfschmerzen und Schwindelgefühle. Dann wurde mir schlecht.
Wie lange das schaurige Spektakel dauerte, konnte keiner von uns sagen. Wir lagen alle wimmernd am Boden. Dann schleppten wir uns zum Auto und fuhren, so schnell es ging, davon. Alle waren sich einig, dass es ein deutliches Zeichen war, nie wieder den Schatz anzurühren. Keiner von uns hatte bis dahin an etwas wie Geister geglaubt. Auch weiß ich nicht, ob jemand es danach tat. Sicher war nur, dass wir alle das Gleiche gesehen und erlebt hatten.
Es dauerte bis zum nächsten Sommer, bis Martins Vater sich wieder dort hintraute. Ich hatte in der Zeit ein Gerät entwickelt, dass bis heute in der Parawissenschaft eingesetzt wird. Aber wir fanden keinen Hinweis darauf, dass etwas ungewöhnlich war.
Dann, nach und nach, kehrte die Familie zurück. Sie wohnen zwar nicht das ganze Jahr dort, nutzen es aber als Sommerhaus, soviel ich weiß. Seit sie nicht mehr vorhatten, Schätze zu heben, ist auch nichts mehr vorgefallen. Außer dass ich meine Karriere auf dem Gebiet weiter fortgesetzt habe.“
„Huh“, sagte Slinkssons mit einem Grinsen. „Und das sollen wir ihnen abnehmen? Aber erzählen können sie ja. Vielleicht hätten sie lieber Gruselautor werden sollen.“
Niemand sonst wollte in Slinkssons Sarkasmus einstimmen. Alle waren guter Dinge, wenn ihnen auch langsam die Anstrengung des Tages auf die Lider drückte.
„Zum Glück haben wir Wurfzelte, wie ich gesehen habe“, sagte Professor Carlsen, der dem Whiskey mit großer Leidenschaft zugesprochen hatte.
Jeder fand einen passenden Felsen, um sein Zelt aufzustellen. Laima hatte eins für sich alleine. Zusammen mit den Fellen und dem Schlafsack war ihr Lager so angenehm weich und bequem, dass ihr kein Bett der Welt so wunderbar erschien. Sie genoss es, ihr kleines eigenes Reich zu haben.
„Gute Nacht“, rief sie noch Thian, Slinkssons und Professor Carlsen zu, die am Feuer ausharrten, nachdem sie die Zelte aufgestellt hatten.
Dann verkroch sie sich und schlief sofort ein.
Als sie am Morgen aufwachte, schmerzten ihre Hände. Blasen voll Wundflüssigkeit, die das Seil in ihre Haut gebrannt hatte. Sie hörte die müden Stimmen der drei Männer, die immer noch am Feuer saßen. Es dämmerte bereits. Laima schälte sich aus dem Schlafsack und streckte den Kopf aus ihrem Zelt.
„Guten Morgen“, begrüßte sie die Männerrunde.
Neben ihnen standen weitere leere Flaschen.
„Morgen? Es ist schon Morgen?“, sagte Professor Carlsen überrascht. „Es war doch gerade erst Abend. Warum muss auch immer so schnell diese verfluchte Sonne wieder aufgehen?“
In den anderen Zelten regte es sich. Von Stein erschien. Seine Laune war offensichtlich nicht die Beste.
„Es sieht so aus, als hätten sie sich an unseren gesamten Alkoholvorräten gütlich getan. Kann das sein?“
„Seien sie doch nicht so streng, mein Lieber“, sagte Professor Carlsen in einem milden Ton, den Laima nur zu gut von ihrem Vater kannte, wenn er verharmlosen wollte, dass er ein ausgiebiges Gelage hinter sich hatte. Meist kam er erst nach Tagen wieder nach Hause.
„Dann ist jetzt wenigsten alles weg, hoffe ich.“
„Jawohl, mein Lieber. Melde, Auftrag ausgeführt!“
„Wie sie allerdings heute durch den Tag kommen, bleibt ihre Sache. Darauf können wir keine Rücksicht nehmen.“
„Wir mussten doch feiern, dass der junge Mann hier, mein geliebter Assistent, noch am Leben ist“, sagte er und legte Slinkssons den Arm um die Schulter.
„Das ist mir egal. Wenn sie mitwollen, reißen sie sich zusammen. Außerdem hätten sie dann jeden Tag einen guten Grund sich zu besaufen, wenn wir unser Überleben jedes Mal so begießen würden.“
„Ein Herz aus Stein, der Mann! Deshalb heißt er wohl auch so, hihi! Nomen est omen!“
Von Stein richtete noch einige, vorwurfsvoll klingende, russische Worte an Thian. Dann ging er zum Fluss, um sich zu waschen.
Sam erschien und ging Wasser holen, um Kaffee zu kochen. Er hatte alles mit angehört, sagte aber nichts. Er ließ sich nicht anmerken, wie er zu der Sache stand. Begeistert über ein paar betrunkene und übernächtigte Expeditionsmitglieder war sicherlich keiner.
Das Frühstück aus frisch gebackenen Fladen, die Sam auf die Schnelle gezaubert hatte und Eiern aus einem Nest, das er zufällig zwischen den Felsen entdeckt hatte, verlief schweigend. Laima genoss das warme Brot mit Ei und den starken schwarzen Kaffee an der frischen Luft. Es hatte den Geschmack von Freiheit und Grenzenlosigkeit.
Danach verstauten sie ihre Sachen, wobei von Stein jedem von ihnen half, alles wieder möglichst platzsparend zusammenzulegen. Sie fanden einige Meter flussabwärts eine Stelle, die sich besser eignete, um die Schlauchboote zu Wasser zu lassen. Jedes wurde mit einer ordentlichen Ladung Ausrüstung versehen. Es dauerte nicht lange, bis alles vertäut war.
Thian saß mit Schüssli in einem Boot. Professor Carlsen mit seinem Assistenten Slinkssons. Sam fuhr mit einer extra Ladung statt eines zweiten Mannes und Laima hatte das Glück, mit von Stein zu fahren.
Jeder bekam ein Paddel in die Hand. Dann legten sie ab.
„Versuchen sie, nicht zu viel zu machen“, sagte von Stein, als sie auf den Fluss glitten. „Ich werde uns auf Kurs bringen, damit wir nicht quer zur Strömung kommen. Sonst kentern wir. Wenn wir auf der Mitte des Flusses sind, können sie gerne auch rudern. Solange entspannen sie sich am besten.“
Von Entspannung konnte keine Rede sein. Laima hielt sich so gut sie konnte an der Sicherheitsleine fest, die rund um das schmale Schlauchboot lief. Sie spürte sofort die Kälte des Wassers unter sich durch die Luftkammern. Der Fluss war dunkel und reißend. Sie waren mittendrin. Jetzt konnte sie sich ein Bild machen, was Figaro Slinkssons gestern durchgestanden hatte. Gegen diese Naturgewalten kam niemand an. Mit dem Strom schwimmen, hieß es, oder untergehen.
Sie spürte die unbändige Kraft des Wassers. Es war eine bedrohliche Gewalt, vor der sie noch nie so einen Respekt gehabt hatte wie gerade jetzt, als sie auf ihr schaukelte. Es war nur ein schmaler Grat, auf dem sie balancierten. Kippten sie oder trafen sie unglücklich auf einen Strudel, war alles vorbei. Zwar konnten die Anderen sie immer noch rausfischen. Aber hatten sie gestern nicht alle gesehen, wie es bei Slinkssons ausgehen konnte?
„Rudern sie ein bisschen“, sagte von Stein.
Laima war froh, sich aus ihrer Starre zu lösen, in der sich ihr Körper aus Angst verkrampft hatte. Sie tauchte respektvoll das Paddel in die Flut.
„Kräftiger“, ermutigte sie von Stein. „Immer ich ein Mal, dann sie!“
Er saß vorne und tauchte sein Paddel tief ein. Sein Oberkörper beugte sich weit vor. Kraftvoll zog er durch. Wenn er ruderte, tanzte das Boot nicht so wild über die Wellen.
Der Fluss machte eine Biegung und die Wasseroberfläche wurde glatter und ruhiger. Sie tauchte ein, zog durch. Tauchte ein. Es gab ihr das Gefühl der Kontrolle zurück und damit auch ein Stück Sicherheit. Aber sie spürte die Gefahr, die vom Fluss ausging. Sie kam mit Gerold von Stein in einen Rhythmus. Ihre Verkrampfung löste sich. Mehr und mehr genoss sie die Fahrt auf dem Fluss durch das fantastisch schöne Tal.
„Sehen sie, dort oben steht die Mimi“, sagte von Stein und zeigte mit dem tropfenden Paddel in die Luft.
Laima erkannte ein Stück des Flügels, das über den Rand der Felsen ragte. Sie dachte an den Dropaolat, der getötet und von Geiern ausgeweidet dort oben lag.
Sie warf einen Blick auf die Andren, die hinter ihnen herfuhren.
Schüssli und Thian hatten es in die Mitte des Flusses geschafft. Thian machte im Gegensatz zu Schüssli eine bessere Figur. Professor Carlsen und Slinkssons wirkten wie ein eingespieltes Team. Gleichmäßig und kraftvoll glitten sie kurz hinter ihnen über den Strom dahin.
Sam war etwas zurückgefallen und hatte viel zu tun, das Boot gerade in der Strömung zu halten. Oft musste er beim Paddeln die Seite wechseln. Bei jedem Schlag zog die Spitze des Bootes immer wieder in die Gegenrichtung.
„Er wird es schon schaffen“, sagte von Stein. „Er ist der Kräftigste von uns. Außerdem hat er eine gute Kondition.“
Sie glitten sanft zwischen den riesigen Bergen hindurch, die immer wieder neue Ausblicke auf noch atemberaubendere Gipfel freigaben. Die Hänge fielen mal schroff, mal mäßig steil zu ihnen ab. Mal waren es Felswände, mal Geröllhalden. Sie sahen die wilden Gämsen, die Laima in der Nacht so erschreckt hatten.
Sie schwitzten in der Sonne, im Schatten mussten sie sich Fleecejacken überziehen. Laimas Hände brannten. Die Blasen waren geplatzt und es bildeten sich bereits neue vom Rudern. Auch wenn sie die Seite beim Paddeln wechselte, half es nichts.
„Ruhen sie ihre Hände aus, Laima“, sagte von Stein. „Ich werde es schon eine Zeit alleine schaffen. Nehmen sie die Creme dort aus der Tasche. Das wird ihnen helfen. Später werden wir eine Pause machen und ich bestrahle ihre Hände. Sie werden sehen, das wirkt Wunder.“
Laima lehnte sich entspannt zurück und cremte sich die Hände ein. Sie genoss den Luxus, sich durch diese wunderbare Landschaft fahren zu lassen.
Sam hatte eine günstige Position im Strom gefunden, in der er dahintrieb und nicht so viel rudern musste. Er steuerte nur leicht gegen, indem er mal auf der einen, mal auf der anderen Seite sein Paddel eintauchte.
„Warum ist der junge Dropa so schnell verschwunden?“, fragte Laima.
„Ich denke, er hatte Angst. Die gleiche Angst, die wir vielleicht spüren. Ich kann nur nicht sagen wovor. Ich habe so etwas noch nie erlebt.“
„Glauben sie an die Geschichte der Dropa?“
„Dass sie von den Sternen kommen?“
„Ja.“
„Ich weiß nicht. Ich brauche meistens handfeste Beweise. Ich bin zwar ein Fantast, aber eben auch Wissenschaftler. Ich nutze die eine Fähigkeit, um mir eine möglichst utopische Idee vorzustellen und die andere, um die nötigen Dinge zu finden, sie umzusetzen.“
„Meinen sie, wir kommen über diesen Fluss aus dem Gebirge heraus?“, fragte Laima.
„Die meisten Flüsse führen ins Meer. Auch wenn wir von diesem weder eine Beschreibung noch eine Karte haben, sollte es hier nicht anders sein.“
„Und die Stadt der Götter? Wäre das ein Beweis für sie?“
„Möglich. Wenn wir sie überhaupt finden. Es wäre sicher interessant zu sehen, was damit gemeint war. Sie kennen doch am besten die Vorstellung der Menschen über Götter.“
„Glauben sie an Gott?“
„Nicht wirklich. Irgendetwas ist da vielleicht. Aber Gott? Ein Mann mit einem langen weißen Bart. Das ist eine komische Vorstellung. Vielleicht erinnert mich das auch zu sehr an etwas anderes. Ich stelle mir dann immer vor, wenn er ein rotes Kostüm anhätte. Dann sähe er aus wie der Weihnachtsmann.“
Laima schmunzelte.
Als sie sich zurückfallen ließen, waren alle Schlauchboote für einen Moment auf gleicher Höhe. Sie besprachen, bei der nächsten Möglichkeit eine Mittagsrast einzulegen. Die Gelegenheit bot sich schnell. Die Stelle glich einem kleinen, flachen Strand und befand sich hinter einer breiten Biegung des Flusses. Zum Anlegen ließen sie sich einfach auf den Sand gleiten und stiegen aus.
Laima war nass vom Spritzwasser. Als Erstes leerten sie mit ihren Tassen die Boote aus. Dann suchten sie Treibholz und Slinkssons fischte zusammen mit Sam. Bald hatten sie wieder ein herrliches Mittag zusammen.
Laima und die andren legten die nassen Sachen zum Trocknen auf die Felsen in die Sonne. Dieses Mal war es eine andre Sorte Fisch. Ein andrer Köder, wie Figaro Slinkssons und Sam ‚The Rock’ Jackson ihnen erklärten. Sam bereitete eine Kräutermischung zu, mit der er die ausgenommenen Fische füllte. Dann ummantelte er sie mit Lehm, der unweit des Strandes freigespült war. Als das Feuer herunterbrannte, legten sie die Brocken einfach in die Glut.
Als die Fische fertiggebacken waren, brachen sie die harten Krusten auf. Saftig und dampfend lag der gegarte Fisch vor ihnen. Es duftete köstlich. Alles war fein abgestimmt. Die genaue Zusammensetzung der Kräuter wollte Sam auch unter Bitten und Flehen nicht preisgeben.
„Ist ein Rezept meiner Großmutter. Und wenn ich hier alles verrate, versaue ich mir doch meine Geschäftsgrundlage als Expeditionskoch. Alles Betriebsgeheimnis.“
Es schmeckte noch besser als es duftete. Alle hatte großen Hunger.
Ihre Sachen trockneten schnell. An ihrer Landungsstelle war das Wasser so seicht, dass sich einige der Männer zu einem Bad in die kühlen Fluten warfen. Niemand schwamm weit hinaus, aber sie legten sich ins flache Wasser.
Während die Anderen badeten, nahm sich Gerold von Stein Zeit, sich um Laimas Hände zu kümmern.
„Setzen sie sich dort hin. Das hier ist ein Vorläufer des Bione-Scanners. Das Basismodell wird in Kliniken rund um die Welt eingesetzt. Die Arbeit mit Licht als Heilungsstimulanz ist neu und basiert doch auf alten Traditionen. Dieser Ansatz verändert unser Verständnis über uns selbst. Wenn wir begreifen, dass das, was wir als Materie ansehen, weitaus anders funktioniert, als wir immer geglaubt und gelernt haben, tun sich völlig neue Dimensionen auf.“
„Ist es schmerzhaft?“, fragte Laima.
„Natürlich nicht. Die neue Art der Medizin funktioniert auf einer andren Basis. Reichen sie mir ihre Hand!“
Dann schaltete er das Gerät ein, das wie ein kleiner Bione-Scanner aussah.
„Was passiert jetzt?“, fragte Laima, die das gelbe Licht auf ihrer Hand sah.
„Wir orientieren uns an den Farben der Chakren. Die Zuordnung der Farbe in der alten Tradition ist nicht zufällig. Es basiert auf einer feinstofflicheren Ebene.“
„Sie meinen, wir bestehen aus Licht?“
„So könnte man es sagen.“
„Sie glauben, das funktioniert?“
Laima spürte eine leichte Wärme.
„Ihre Lampe wird warm auf meiner Haut.“
„Dann spüren sie etwas?“
„Ja, die Hitze ihrer Lampe.“
„Fassen sie sie an!“
„Ich will mir doch nicht die Finger verbrennen!“
„Das wollen wir doch gerade rückgängig machen. Berühren sie die Lampe! Vertrauen sie mir!“
Langsam näherte sie ihre Hand dem Deckglas des Strahlers. Sie berührte das Glas. Es war kühl, obwohl die Lampe lief. Keine Hitze. Nichts.
„Sie wollen mir verkaufen, dass Licht mich aufheizt? Dann sind das eben Mikrowellen.“
„Alle Wellen sind ungefähr das Gleiche. Aber die Hitze ist ein Zeichen, dass der Heilungsprozess angeregt wird.“
„Dann werden wir es ja sehen.“
„Aber vorher geben sie mir noch ihre andere Hand. Auch wenn sie nicht so stark verletzt ist, bestrahlen wir immer beiden Seiten mit Licht.“
Laima lag nach der Behandlung noch eine Weile in der Sonne.
Schließlich waren die Anderen mit ihrem Bad fertig und bereit, weiterzufahren.
Gerold von Stein hatte ihr geraten, ihre Hände zu schonen. Und so ließ Laima sich einfach treiben, als sie ablegten.
Bald kamen sie in schnelleres Fahrwasser. Der Fluss verengte sich und buckelte unberechenbar unter ihrem Boot. Laima griff das Paddel. Überrascht stellte sie fest, dass die Schmerzen in ihren Händen verflogen waren. Auch die Blasen hatten sich zurückgebildet. War es wirklich von Steins Wundermedizin gewesen?
Als der Fluss ruhiger wurde, ließ sie ihren Gedanken freien Lauf.
„Warum wird dann ihre neue Wundertechnik nicht überall auf der Welt eingesetzt?“
„Wird sie doch!“
„Ich meine in Krankenhäusern. Warum habe ich so ein Ding noch nie gesehen?“
„Viele Ärzte geben ungern zu, dass sie diese Technologie einsetzen. Die Angst verlacht zu werden ist groß. Sie halten an dem Bild der Welt fest, das sie zu sehen gelernt haben. Obwohl oftmals kein Widerspruch zu dem besteht, was bereits in der Forschung und Medizin bekannt ist. Es kommt immer nur auf die Interpretation an.
Warum sich der Mensch gegen die Erweiterung seines Horizonts mit Händen und Füßen wehrt, kann ich auch nicht sagen. Für uns war es am Anfang nicht leicht. Aber viele unabhängige Testreihen und ein langer Atem haben geholfen, Marktführer mit Millionenumsatz zu werden. Mittlerweile werden wir kopiert. Und das ist immer das sicherste Zeichen, dass man auf dem richtigen Weg ist.“
Die Strömung wurde schneller.
„Vorsicht, da vorn, der Felsen“, sagte er.
Große Brocken ragten vor ihnen aus dem Wasser. Sie waren von den steilen Flanken der Berge abgebrochen und herabgestürzt.
„Die Strömung führt uns direkt auf den Felsen zu. Rudern sie! Wir müssen durch die schmale Stelle dort.“
Sie lag genau zwischen zwei riesigen Brocken. Die Strömung brauste zwischen ihnen hindurch.
„An der andren Seite kommen wir nicht mehr vorbei. Die Wassermassen sind zu stark. Vorsicht. Nicht bewegen.“
Laima hielt die Luft an. Sie spürte den Sog unter dem Boot. Mit einem Ruck rauschten sie zwischen den Steinriesen hindurch.
„Da vorn kommt eine Stromschnelle auf uns zu. Wir müssen auf der stärksten Strömung fahren. Das ist am sichersten. Sonst riskieren wir, dass die spitzen Felsen uns den Boden des Bootes aufschlitzen.“
„Das ist aber die Stelle, die am gefährlichsten aussieht.“
„Das sieht nur so aus. Da haben wir das meiste Wasser unterm Kiel. Wie bei einer Kanne. In der Mitte vom Schnabel fließt es am schnellsten, aber man hat auch das meiste Wasser unter sich.“
Sie trafen die Stelle genau. Der Sog der Strömung erfasste sie. Laima sah, wie es vor ihnen schäumte.
„Zum Glück ist es kein Wasserfall“, sagte sie. Dann stürzten sie hinab in die Fluten.
Sie rutschten in die Tiefe. Das Schlauchboot klappte zusammen. Und wieder auseinander. Es buckelte noch einige Male auf den Strudeln. Dann glitten sie wieder ruhig dahin, als sei nichts gewesen.
„Da wir keine Karte und keinen Anhaltspunkt zu diesem Gewässer haben“, sagte von Stein, „müssen wir damit rechnen, dass hinter jeder Biegung eine Überraschung wartet.“
Die andren Boote hatten hinter ihnen ebenfalls die Stromschnelle passiert.
Dann sahen sie einen engen Canyon vor sich aufragen. Der Fluss hatte seinen Weg zwischen den zu beiden Seiten steilen Wänden aus dem Fels gewaschen.
„Das muss Jahrtausende gedauert haben, bis sich das Wasser hier durchgegraben hat“, staunte Laima. „Sehen sie die Schichten.“
Die Schlucht des Canyons hatte trotz seiner Schönheit etwas Beengendes. Es gab keinen Ausweg. Und was von Stein gesagt hatte, machte sie nachdenklich. Der Fluss machte ihr Angst.
„Wir müssen besser ein Boot vorschicken, das die andren warnt, wenn nötig“, sagte von Stein. „Falls etwas Unvorhergesehenes auf dem Fluss eintritt, können wir die andren durch Rufe alarmieren. Außerdem werde ich ein Seil rauslegen, damit wir im Notfall eine Rettungsleine haben.“
Gerold von Stein tauchte für ein paar kräftige Schläge das Paddel ein. So bekamen sie einige Längen Vorsprung.
Es folgten gewundene Kurven. Laima konzentrierte sich auf die Kommandos, die von Stein gab. Es war keine Zeit für Plaudereien.
„Hätte sich wenigstens gerade durch den Stein graben können dieser Fluss“, sagte Laima keuchend zwischen zwei Paddelschlägen.
Sie bemerkte die Wachsamkeit, mit der von Stein jede neue Situation vor ihnen zu erspähen suchte, um bei einer möglichen Gefahr sofort Alarm zu schlagen. So steuerten sie einige Zeit durch den schmalen Tunnel, der sich endlos hoch über ihnen zu erheben schien. Ein dünner, gewundener Streifen blauen Himmels war alles, was sie von der Außenwelt noch sahen.
„Sehen sie, keine anderen Hochwassermarken auf den Felsen. Es sieht nach dem Höchststand aus, was zur Monsunzeit auch kein Wunder ist. Das macht den Fluss allerdings auch am gefährlichsten.“
Trotz der Kühle, die im Schatten der Felsen und auf dem kalten Bergwasserfluss herrschte, schwitzten sie vor Anstrengung. Immer wieder mussten sie gegen die Strömung anrudern, die drohte, sie in den engen Kurven an den rauen Fels zu drücken und damit ihr Boot zu beschädigen. Was dann geschah, wollte sie sich lieber nicht ausmalen.
Todeskanal, dachte Laima. Sie konnte ihre Gedanken nicht kontrollieren. Sie schaffte nicht, sich dagegen zu wehren. Die Bilder tauchten einfach auf.
Wenn sie kenterten, bot sich nirgends ein Halt. Die Strömung riss sie erbarmungslos mit. Hatten sie Glück und erwischten eines der anderen Boote, mussten sie aber im kalten Wasser bleiben. Denn alle Boote waren voll beladen. Verpasste man die Boote, würden Kältekrämpfe sie früher oder später lähmen. Spätestens durch Überanstrengung und Schwäche würden sie ertrinken.
Der Fluss riss sie mit sich. Paddeln, paddeln. Lenken. Wieder paddeln. Sie waren durchnässt von Spritzwasser und Schweiß. Erst jetzt wurde ihr klar, dass sie nicht aufhören durften. Sie saßen in einer Falle. Sie mussten weiter, ohne Ausweg. Paddeln, kämpfen! Sie konnten sich keine Pause leisten. Sie waren in diesem Gefängnis verdammt zu rudern, solange die Fahrt dauerte. Ließen sie nach oder hörten sie auf, unterschrieben sie ihr eigenes Todesurteil.
Diese Gedanken ließen allen Lebensmut in ihr weichen. Gerade jetzt, wo sie all ihre Reserven so dringend brauchten.
Dann tauchte es vor ihnen auf.