Leseprobe

 

 

Prolog

 

„Freiwillige vor! Deserteure erschießen!“

Selbst der Sturm kam nicht gegen General Hüens Stimme an.

Im Gleichschritt bewegte sich ein Dutzend Soldaten auf die Höhle zu.

Schreiend vor Schmerz, fasste sich der Erste an den Kopf.

Schüsse hallten von den schneebedeckten Bergen.

Stumm, in verzerrten Verrenkungen, fiel ein Weiterer zu Boden. Sein Gesicht vom Wahnsinn gezeichnet.

In Panik drehte ein Dritter um und lief geradewegs in den Kugelhagel, der ihn erlöste.

Bis zum Eingang der Höhle waren alle tot, oder hatten ihren Verstand verloren.

 

 

1

 

Herzrasen. Laima Liepa schlug die Augen auf. Was für ein Albtraum! Sie war in einer Höhle. Furchtbare Gefühle hatten sie gepackt. Die Beklemmung ließ nur langsam nach.

Das liebevolle Gesicht ihrer Mutter war über sie gebeugt. Sanft strich sie Laima die Stirn.

Die Hitze in der kleinen Dachwohnung der Jana Seta eins hatte über Nacht kaum nachgelassen.

Ihr Schädel pochte und brachte damit die unangenehme Erinnerung an den gestrigen Tag zurück. An eine Flasche Wein, mit der sie versucht hatte, das nackte Fleisch zu verdrängen. Nichts, gar nichts war mehr an seinem Platz. Die frühere Maschine, Tooms mit ihrer besten Freundin Linda im Bett.

Erst hatte sie geheult. Dann die Flasche Wein getrunken. Sie trank nie. Schon wegen ihres Vaters nicht. Zu viele schlechte Erinnerungen. Ein Déjà-vu. Das Krankenhaus ihrer Mutter, als sie ihren Vater mit einer der Schwestern hinter einem Vorhang erwischte. Die Entscheidung über die Ehe ihrer Eltern sollte Laima mit ihrem Schweigen tragen. Ihre Mutter hatte es zum Schluss selbst entschieden. Es war nicht die erste Frau und das Trinken hatte über die Jahre alles noch schwieriger gemacht. Damals wohnten sie in einem Randbezirk Rigas.

All diese Erinnerungen kamen ihr gestern Abend auf der alten Wehrmauer vor dem Küchenfenster. Sie hatte auf den Turm der Peterskirche gestarrt. Eine seltsame Ruhe hatte dann von ihr Besitz ergriffen. Unter ihr die lautstarken englischen Touristen in den Lokalen. Über ihr die kreischenden Möwen vor dem nicht erlöschenden Himmel der Weißen Nächte. Jeder Sinn, jeder Halt hatte sich aufgelöst. Gleichzeitig wurde alles leise und still.

Ihre Mutter reichte ihr eine dampfende Tasse Tee. Der Duft von Lindenblüten. Die zwei schwarzen Katzen, Filips und Franzene, rollten sich auf der Decke zu ihren Füßen zusammen.

„Gibt es Liebe, Mama?“

„Aber sicher. Ich liebe dich. Die Katzen lieben dich.“

„Ich meine echte Liebe.“

„Ist das keine echte Liebe?“

„Zwischen Mann und Frau meine ich. Nicht nur Sex. Ich denke, es ist alles eine Wunschvorstellung. Wir wünschen uns Liebe und glauben, wir bekommen sie. In Wahrheit bilden wir uns das nur ein.“

„Du solltest deinen Blick nicht nur auf das richten, von dem du gerade glaubst, dass es nicht da ist. Damit verlierst du aus den Augen, was dich gerade in diesem Augenblick umgibt und berührt.“

„Kannst du nicht einfach Ja sagen?“

„Würdest du mir denn glauben?“

Laima lächelte und nahm einen Schluck Tee.

„Warum müssen Mütter einen immer so gut kennen?“

„Weil dieser kleine Dickkopf mir schon seit siebenundzwanzig Jahren an den Nerven zerrt“, sagte sie und wuschelte ihr mit der Hand durch die Haare. „Und das ändert sich so schnell wohl nicht, wie es aussieht.“

Laima genoss die Anwesenheit ihrer Mutter.

„Das Krankenhaus hat schon drei Mal angerufen. Eine Kollegin ist ausgefallen. Ich werde gleich fahren.“

Dies war der einzig heikle Punkt ihrer Beziehung. Weniger von Laimas Seite. Ihre Mutter hatte sich selbst nie verziehen. Als leitende Chefärztin der Notaufnahme eines der größten Krankenhäuser der Stadt, das sie selbst vor dreißig Jahren aufgebaut hatte, war sie unentbehrlich. Ständige Nacht- und Vierundzwanzigstundendienste hatten dazu geführt, dass Laima so manche Nacht mit ihrem Vater in einer Kneipe verbrachte, während andere Kinder längst schliefen. Laima hatte sich damit abgefunden und ihren Frieden gemacht, dass ihre Mutter sich in den Dienst einer größeren Sache gestellt hatte. Ihre Mutter aber war nie darüber hinweggekommen, dass sie nicht genug Zeit für Laima gehabt hatte.

Umso mehr genossen beide die gemeinsamen Wochenenden im Landhaus, das ihre Mutter nach der Scheidung gekauft hatte. Sie pflückten Lindenblüten oder andere Kräuter für Tees und trockneten sie auf dem Dachboden, unter den in der Sonne knackenden Holzschindeln.

„Fahr nur, Mama. Einer muss ja die Welt retten“, sagte sie und lächelte schief.

„Ich liebe dich, mein Mädchen. Vergiss das nie!“

„Ich dich auch, Mama. Von ganzem Herzen.“

Beide umarmten sich und Laima brachte sie zur Tür.

 

Laima ließ sich auf die Couch sinken. Ihre Hände um die warme Tasse. Sie trank einen Schluck. Die Katzen schnurrten zu ihren Füßen. Sie streckte sich aus. Wie kurz die Couch geworden war. Sie hatte sie ihre ganze Kindheit hindurch begleitet. Das Piepen einer Kurznachricht unterbrach ihre Gedanken. Tooms. Er war ihr nicht hinterhergelaufen. Schweiß brach ihr aus. Wollte sie überhaupt mit ihm reden? Wollte sie ihn überhaupt zurück? Wäre sie einen Flieger später gekommen, hätte die Lüge überlebt.

Sie öffnete die Nachricht.

 

KOMMEN SIE UM ZEHN IN MEIN BÜRO. DRINGEND!

PROF. BERSINSCH

 

Bersinsch war ihr Lieblingsprofessor. Die Gletschertour nach Österreich war seine Idee. Er war aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten und hatte Laima geschickt. Eine halbe Stunde blieb ihr noch. Sie schüttete ihren Rucksack aus, suchte die letzten sauberen Sachen. Dann stopfte sie alles zurück und sprang unter die Dusche.

 

Laima verließ die Wohnung und durchquerte den Johannishof, als sie das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Sie drehte sich um und blickte zum offenen Küchenfenster hoch. Filips und Franzene balancierten hinter den roten Geranien über die Holzbalustrade und sahen zu ihr hinunter.

 

Laima ging weiter und schob sich durch eine Gruppe Touristen, die in der engen Gasse hinter der Johanniskirche den Taubenmann fotografierten. Er spielte Flöte, während sich auf seinem Kopf, den Armen und Schultern weiße und blaue Tauben zur Freude der Besucher drängten. Vor der Peterskirche standen Souvenir- und Bernsteinverkäuferinnen mit ihren Wagen, die wie rollende Schatztruhen aus geflochtenem Korb aussahen. Laima wandte sich nach rechts in Richtung Domplatz.

Oben auf dem Gletscher, ohne eine Blume, ohne einen Grashalm, war ihr zur Sommersonnenwende bewusst geworden, was ihr Mittsommer, das Johannisfest, bedeutete. Die Blumenkränze, die Trachten und der Tanz. Der Domplatz öffnete sich vor ihr. Der Kräutermarkt tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Einen Tag vor dem eigentlichen Fest wurden hier Kräuter und Kränze verkauft. Wie ein mittelalterlicher Markt mochte es aussehen, aber es war viel mehr. Volkstänzer zeigten ihr Können und luden jeden ein, es ihnen nachzumachen. Tanzdielen waren über das Kopfsteinpflaster gezimmert worden. Und nicht selten ging es bis tief in die Nacht. Allen Besatzern hatten die Bräuche über die Jahrhunderte hinweg getrotzt. Es war das Herz und die Seele der Menschen.

Sie lauschte einem jungen Fremdenführer, der mit seiner Gruppe in ihrer Nähe stehen blieb.

„... sind mehrere Tausend Jahre alt. Die Dainas lassen sich mit den indischen Mantras vergleichen, wobei ihr Ursprung vermutlich noch weiter zurückreicht. Sie werden als Kraftworte aufgesagt oder gesungen, wie alle fünf Jahre beim weltberühmten Sängerfest, bei dem mehr als zwölftausend Menschen gleichzeitig auf der Bühne stehen. Natürlich nur ausgebildete Chöre.“ Die Gruppe lachte.

Laima hatte seit ihrer Jugend mehrfach teilgenommen. Das Gefühl auf der Tribüne, so groß wie ein halbes Fußballstadion, war unbeschreiblich. Dazu waren alle Sänger in Tracht. Die Männer mit Eichenkränzen auf dem Kopf. Die Frauen mit Blumenkränzen und mit dem Nationalgürtel, Lielvardes Gürtel, um die Taille. Auf ihm zeigten Symbole nicht nur Lettlands Geschichte, sondern die Geschichte der Welt.

Sie ging um den Dom herum, denn Professor Bersinschs Büro lag im Rigaer Geschichts- und Schifffahrtsmuseum. Im Schatten einiger Eichen wehte ein angenehm kühler Wind von der Düna herauf, die am Ende der Straße in der Sonne glitzerte. Auf der anderen Seite des Flusses lag die Nationalbibliothek, die einem Glasberg, dem mythologischen Bild für die Quelle allen Wissens, nachempfunden war.

Laima bog um die Ecke des Klosterhofs, der den Dom mit dem Museum verband. Das gotische Backsteingebäude lag etwas zurückversetzt. Aus seinem Dach ragten kleine spitze Fenstergiebel empor, hinter denen sich Professor Bersinschs Forschungsstätte befand. Sie schob die schwere Eisentür des Portals auf. Die Aura von Geschichte und Zeit umspülte sie. Das Buntglasfenster tauchte das Treppenhaus in ein gedämpftes Licht. Sie stieg die Stufen empor, kam am Säulensaal vorbei und ging durch einen Ausstellungsraum mit Überresten von Pfahlbauten und altem Schmuck. Schließlich erreichte sie eine Ritterrüstung, die, wie ein stummer Wächter, neben der Tür stand, die verborgen unter der Tapete mit der Wand verschmolz.

„Dace.“ Überrascht wich Laima zurück, als Professor Bersinschs Assistentin aus der Tür stürzte.

„Du falsche Schlange“, sagte sie zu Laima. „Von dir lasse ich mir meine Karriere nicht kaputt machen. Hast du für Bersinsch die Beine breitgemacht?“

„Ich glaube, wenn du denkst, dass ihn das interessiert, hast du dir den falschen Professor ausgesucht.“

„Die Gletscherspalte, in der du dir das Genick brichst, kann gar nicht tief genug sein. Übrigens, das mit Tooms und Linda tut mir wirklich leid“, sagte Dace und lächelte überlegen.

Laima wurde blass. Hatten alle außer ihr es gewusst?

„Einen schönen Tag noch, Laima.“

Wie im Nebel stieg sie die Holztreppe hinauf. Ihre Beine waren schwach. Sie versuchte, die Gedanken an das gestrige Ereignis abzuschütteln. Der Dachstuhl roch nach Teer. Er vermittelte den Eindruck, sich unter Deck eines Schiffes zu befinden. Die kleinen Fenster ließen kaum Licht hinein. Nur die Beleuchtung der Vitrinen sorgte dafür, dass man etwas erkennen konnte. In ihnen bewahrte der Professor Repliken romanischer Kreuze, afrikanische Fetische, Voodoopuppen und Schrumpfköpfe auf. Das echte Haar der Schrumpfköpfe machte ihr jedes Mal eine Gänsehaut. Bersinschs Schreibtisch war leer.

Im Nebenraum hörte Laima den Kopierer.

Professor Bersinsch kam aus dem benachbarten Büro.

„Meine Sekretärin hat heute frei.“

Er trug einen Mundschutz. Seine Haut spannte sich wie dünnes Pergament über den Knochen.

Laima versuchte, sich den Schreck über die Veränderung seit ihrem letzten Treffen nicht anmerken zu lassen.

„Das Tuch vor dem Mund soll mich schützen“, sagte er und hustete trocken. „Vor dem, was sowieso nicht aufzuhalten ist.“

Seine schwerfälligen Bewegungen kosteten ihn Kraft.

Ein kleiner rundlicher Chinese kam mit einer Handvoll Papieren aus dem Sekretariat.

„Das ist Dr. Wu”, sagte Professor Bersinsch. „Lee und ich sind alte Kollegen. Wir haben zusammen studiert, hier in Riga. Weit hast du es dann nicht gebracht, was Lee?”

Der Chinese lächelte verlegen.

„Er arbeitet für die chinesische Botschaft und kämpft sich mit Stempel, Tinte und Papier durch die Bürokratie. Das beherrscht er aber wie kein Zweiter. Anders wäre es uns kaum möglich, mein Visum, das bereits beantragt werden musste, jetzt auf ihren Namen zu ändern.”

„Auf meinen Namen?“

„Was glauben sie, warum sie nach Österreich gefahren sind? Um sich vorzubereiten. Außerdem ist es die Chance für ihre Abschlussarbeit. Welcher Religionsethnologe träumt nicht davon, den Gottesbeweis zu finden?“

„Und Dace?“

„Ehrgeiz hat schon ganz andere um den Verstand gebracht. Ich war so frei, Lee ihren Personencode und ein Lichtbild zu geben. Kommen sie mit! Ich muss ihnen noch etwas Wichtiges zeigen.“

„Wenn sie fahren“, sagte Dr. Wu in akzentfreiem Lettisch, „sehen wir uns morgen um halb zehn am Flughafen. Sie fliegen erst in die Schweiz. Dort treffen sie auf die anderen Expeditionsteilnehmer, bevor sie Richtung Himalaya aufbrechen und in die Volksrepublik China einreisen werden. Unsere Regierung gestattet nur einigen Wenigen, sich in dieser politisch heiklen Region aufzuhalten. Deshalb müssen sich Forscher verschiedener Disziplinen zu solch seltenen Gelegenheiten zusammenschließen. Ich werde mich jetzt zurückziehen. Es gibt noch einiges zu regeln.“ Er gab Laima die Hand.

 

Sie gingen mit Dr. Wu die breite Treppe hinunter. Während er das Museum verließ, stiegen sie in den Keller hinab. Unter der Treppe befand sich eine Holztür. Professor Bersinsch schloss sie auf und griff nach einem Lichtschalter, worauf eine Reihe Glühbirnen angingen. Der modrige Geruch aus Kirchen, von Erde und Weihrauch, schlug ihnen entgegen.

Der Keller diente als Lager für Ausstellungsstücke, die gerade nicht gebraucht wurden. Es schien, als würde nur ein Bruchteil gezeigt, denn hier unten war alles bis zur Decke vollgestopft. Alte Fahnen, Schiffsmodelle, Anker, Ritterrüstungen.

„Jetzt befinden wir uns unter dem Klosterhof“, sagte Professor Bersinsch, nachdem sie sich bereits einige Zeit durch das undefinierbare Labyrinth von Artefakten gewunden hatten. Es erschien ihr wie eine Zeitreise zurück durch die Jahrhunderte, in einem stickigen Tunnel, der kein Ende zu nehmen schien.

„Hier ist es“, sagte er und blieb vor einer freigeräumten Öffnung in der Wand stehen. Einige Exponate waren beiseitegestellt. Neben einem kleinen Rundbogen in der Mauer lag ein Haufen feinsäuberlich gestapelter Backsteine.

„Sehen sie“, er deutete auf den Boden, „ein Granitblock, der den Anfang einer Treppe markiert. Vermauerte Rundbögen sind nichts Besonderes, aber er fiel mir auf, weil der Stein unter der Mauer hervorragte. Wir befinden uns hier bereits unterhalb des Doms. Präzise liegt das, was wir jetzt sehen werden, genau unter dem Altar.“

Er bückte sich und hob eine Schachtel Streichhölzer auf, um eine Kerze anzuzünden.

„Die Kreuzritter bauten ihre Kirchen auf den Kraftorten, die bereits seit Jahrtausenden genutzt wurden. Sie wussten um die Macht dieser Plätze, verleibten sie sich ein und versuchten so, sie auszulöschen.“

Langsam stieg er in die Tiefe. Laima folgte ihm. Der Gang war eng und niedrig.

„Früher waren die Menschen von kleinerem Wuchs“, sagte er, während sie gebückt, Stufe um Stufe, hinunterstiegen. „In den letzten siebenhundert Jahren haben die Menschen einen halben Meter an Körpergröße zugelegt. Ist das nicht erstaunlich? So können wir die Entstehung dieser Stätte auf das Mittelalter datieren.“

Sie kamen jetzt in einen niedrigen Raum, der vollständig aus gestampfter Erde bestand. Kein einziger Ziegelstein stützte die Wände.

„Was wollten sie mir zeigen?“, fragte Laima.

„Dort!“ Er hob die flackernde Kerze und zeigte auf ein Loch im Boden. „Sie ist weg“, rief er entsetzt. „Jemand hat sie gestohlen.“

„Was gestohlen?“

„Die Mulde. Sehen sie! Eine Steinscheibe, dort drin. Sie können sich ihre Bedeutung gar nicht vorstellen. Hier wurde sie aus der Erde gehebelt.“ Er deutete auf den abgebrochenen Rand des etwa fünfzig Zentimeter breiten Abdrucks.

„Wer sollte sie denn stehlen?“

„Dieselben, vor denen diese Scheibe vor siebenhundert Jahren hier versteckt wurde. Diejenigen, die ihre Macht auf etwas errichteten, von dem sie nicht mal ahnten, was es bedeutet. Dieser Fund ist einmalig. Er stellt eine Verbindung zwischen allen Kulturen, allen Religionen her. Er gibt uns die Möglichkeit, das Rätsel unserer ganzen Existenz zu lösen.“

Er kniete sich neben das Loch.

„Das Erstaunlichste ist die Mulde. Es bestätigt, was ich schon ahnte. Hätte nicht jemand mit Kraft die Scheibe aus dem Boden gehebelt, was ich mich nicht getraut habe, hätte ich es wohl nie entdeckt. Sehen sie sich den Abdruck an. Wie ein Schild mit einem Schildbuckel in der Mitte. Kommen sie. Kommen sie schnell! Nach oben.“

Rasch kletterten sie aus der Kammer. Dann liefen sie durch das Gewirr der Exponate. Seine Schwäche war verflogen. Sie hatte Mühe, ihm durch die Gänge, zurück zum Ausgang des Kellers, zu folgen.

 

„Wo habe ich es nur?“ Er wühlte in seinem Schreibtisch. „Ich kann es nicht finden. Ich lege den Apparat immer hier hinein. Ah, da ist er ja.“

Sein Gesicht erstarrte.

„Was ist los?“, fragte Laima.

„Die Karte ist nicht in der Kamera.“

„Haben sie die Karte rausgenommen? In ein Lesegerät gesteckt?“

Er suchte alles ab.

„Nein, offensichtlich will jemand diesen Fund ganz für sich. Aber das wird nicht funktionieren.“

„Wie meinen sie das, Professor? Was war so Wichtiges an dieser Scheibe?“

„Sie kennen unseren Nationalgürtel, der zur Tracht getragen wird.“

Er ging zu einem Regal und holte eine Nachbildung des dreizehn Meter langen, rotweiß gewebten Gürtels und rollte ihn ab.

„Lielvardes Gürtel“, sagte er. „Lielvarde ist in der Mythologie unseres Landes die Stadt der Weisen. All ihr Wissen haben sie in diesem Gürtel festgehalten. Unsere Dainas wurden, neben der mündlichen Überlieferung, in einer Art Morsecode in Schnüre geknotet. Dieser Code war eine der ersten Schriften. Aus diesen Knotenschnüren wurde schließlich der Gürtel. Er erzählt die Geschichte der Welt von Anbeginn. Genau wie unsere Dainas. Teile des Gürtels fanden sich auch auf dem Stein wieder. Dazu neue Teile, die uns bis jetzt gefehlt haben.“

„Sie können die Symbole des Gürtels lesen?“

„Im Prinzip kann es jeder. Nur haben wir es verlernt. Ich konnte es schon immer. Seit meiner Kindheit. Die Zeichen verwandeln sich in dreidimensionale Symbole. Ein Kreis, wenn er sich um seine Achse dreht, bildet eine Kugel. Ein Quadrat, wenn sie es optisch auf sich zukommen lassen, bildet einen Würfel. Das Feuerkreuz, das die Nazis für sich vereinnahmten, ist ein mächtiges Symbol. Deshalb suchten sie es sich aus. Verbindet man die Ecken mit dem erhöhten Mittelpunkt, entsteht eine Pyramide. Spiegelt man diese Pyramide, also bildet man eine weitere Pyramide in die andere Richtung, entsteht ein Oktaeder, ein achtflächiger Diamant. Die offenen Stellen im Hakenkreuz deuten eine Dynamik an, eine Rotation. Dieses Oktaeder dreht sich also.“

„Heilige Geometrie!“, sagte Laima.

„Sie haben davon gehört?“

„Die fünf platonischen Körper: Tetraeder, Würfel, Oktaeder, Dodekaeder, Ikosaeder. Aber was bedeutet der Kreis? Wo ist die Kugel?“

„Diese fünf Körper finden sich in allen Formen wieder. Der Kreis ist die Perfektion allen Seins. Der Anfang ohne Ende. Genau hier kommen wir zum Fund der Scheibe. Auf der Scheibe waren die Zeichen, die auch auf dem Gürtel sind, um ein weiteres Bild angeordnet. Ein Symbol, das seit Langem unter Forschern einen Schlüssel darstellt. Es wurde überall auf der Welt gefunden. In den Pyramiden von Gizeh, in indischen Tempeln, in europäischen Kirchen, in Höhlen in Amerika und Afrika. Immer war es neben traditionellen, für die jeweilige Kultur spezifischen Symbolen zu finden. Es unterscheidet sich aber grundsätzlich von allen, sodass es keiner Kultur im Einzelnen zugeschrieben werden konnte. Es nennt sich die Blume des Lebens. Eine geometrische Anordnung von Kreisen, die sich überschneiden, eingefasst in einen dreifachen Kreis. Die Blume des Lebens, weil sich zum einen alle platonischen Körper darin wiederfinden, zum anderen es die Entstehung des Lebens wiedergibt.“

„Wie ist das zu verstehen?“

„Die ersten zwei Kreise im Zentrum bilden die vesica piscis, die Fischblase. Beide Kreise verlaufen jeweils durch die Mitte des anderen. Die Fischblase entsteht auch bei der Zellteilung. Genauer bei der Teilung der Eizelle nach der Befruchtung. Alle weiteren Teilungen der Zellen verlaufen nach dem Muster der Blume des Lebens. Legt man die Blume des Lebens über die verschiedenen Stadien des Prozesses, so decken sie sich in jeder Phase haargenau. Sie stellt das Prinzip des Universums überhaupt dar. Das ist bereits bekannt. Aber auf dieser Abbildung der Blume des Lebens war ein winziger Punkt markiert. Soweit ich den Symbolen auf dem Rand entnehmen konnte, weist dieser Punkt auf den Ursprung allen Wissens hin.“

„Den Glasberg?“

„Alles passt zusammen. Die Antwort auf alle Fragen. Der Ursprung allen Seins. Ich werde ihnen noch etwas zeigen. Aber vorher ...“

Er hielt den ausgestreckten Zeigefinger vor seinen Mundschutz, als legte er ihn sich auf die Lippen. Dann nahm er eine CD und schob sie in eine kleine Kompaktanlage, die hinter ihm auf der Fensterbank stand. Wagners Nibelungenring erschallte, sodass man kaum sein eigenes Wort verstand. Dann drückte er auf den Knopf eines kleinen Gerätes. Ein rotes Lämpchen begann, unregelmäßig zu pulsieren.

„Ein Störsender“, sagte er zu Laima gebeugt.

Dann holte er ein Foto hervor und reichte es ihr.

„Die Blume des Lebens in einem Kornfeld“, sagte Laima, als sie das Foto betrachtete. „Kornkreise? Glauben sie wirklich daran, Professor? Sind die nicht von Menschen gemacht?“

„Mit einer solchen Präzision ist das schwer möglich. Dieser Kornkreis hat fast einen halben Kilometer Durchmesser. Er liegt auf der Spitze eines Hügels. Auf schiefem Untergrund. Er ist verzerrt. Nur aus der Luft sieht er absolut symmetrisch aus. Das bedeutet, niemand hätte das, selbst mit allen denkbaren technischen Hilfsmitteln, vom Boden aus bewerkstelligen können.“

„Ufos?“ Laima schaute skeptisch.

Er ließ ihr einen Moment Zeit.

„Die Scheibe! Sie meinen, sie stellt gar kein Schild dar? Wenn man sie umdreht ...“

„Ich schätze die Steinscheibe weitaus älter, als jede Art von Schild, die es in der Form bei uns gegeben hat. Außerdem werde ich ihnen noch etwas zeigen.“

Er rief ein Bild auf seinem Rechner auf. Ein Gemälde, auf dem eine Madonna zwei vor ihr liegende Kinder anbetete.

„Die ,Madonna con Bambino e San Giovannino’ aus dem Palazzo Vecchio in Florenz stammt aus dem fünfzehnten Jahrhundert, der Zeit der Renaissance. Rechts hinter der Madonna, was sehen sie da?“

Professor Bersinsch vergrößerte die Darstellung.

„Es sieht tatsächlich aus wie ...“

„Sehen sie den Mann im Hintergrund? Er sieht genau zu dem Objekt hinauf. Selbst die Ikonografen haben dafür keine passende Erklärung. Jede andere Darstellung des Heiligen Geistes wird vielleicht als leuchtende und schwebende Wolke dargestellt. Dies ist aber eindeutig eine Maschine.“

Sie musste ihm recht geben.

„Die Renaissance, wörtlich Wiedergeburt, war die Zeit, in der sich ein neues, aufgeklärtes Bild des Menschen formte. Leonardo da Vinci entwickelte Maschinen. Der Mensch wurde neu definiert.“

„Ich wusste nicht, dass sie sich als Ethnologe für Ufos interessieren.“

„Dabei gibt es in allen Kulturen, nicht nur fünfzehnhundert nach, sondern auch fünfzehnhundert vor Christus, genug Überlieferungen in Form von Artefakten und Höhlenmalereien. Sie wären sehr engstirnig, sich bei der Ethnologie nur auf die menschliche Rasse zu beschränken. Versuchen sie aber nur nicht, dies unter Kollegen laut zu sagen. Vor mehr als vierzig Jahren habe ich einen Vortrag gehalten. Hier an der Universität. Mit Fakten, Bildern und Berichten. Ethnologische Fakten. Kunstgeschichtliche Fakten. Denken sie, einer der Professoren hat mir Glauben geschenkt? Sie haben mich nicht mal ausreden lassen. Jetzt stehe ich kurz davor, den entscheidenden Beweis zu erbringen. Vierzig Jahre habe ich darauf gewartet.“

„Sagen sie, Professor, die Musik?“

„Sie glauben, ich bin paranoid. Es geht nicht darum, dass ich Angst habe, lächerlich gemacht zu werden. Ich habe auch keine Angst vor dem Tod. Dieser Fund wird die Welt revolutionieren. Technisch, medizinisch, wirtschaftlich, sozial und spirituell. Dieses Geheimnis ist eins der Bestgehüteten in der Geschichte der Menschheit. Dafür sind bereits zu viele gestorben. Glauben sie, mein Krebs ist Zufall? Ich erzähle ihnen das, damit sie wissen, worauf sie sich einlassen. Stellen sie sich das Unmögliche vor, dann erhalten sie einen Eindruck, was die Realität wirklich ist. Wenn sie fahren, seien sie auf alles gefasst. Und darüber hinaus. Ich möchte sie, so gut es geht, vorbereiten. Halten sie sich an Professor Carlsen. Wir haben die Expedition zusammen geplant. Wir forschen an der gleichen Sache, auch wenn er es offiziell nie zugeben wird. Zu viele Interessen sind im Spiel, um hier auch nur das Geringste zu riskieren. Reden sie nie in Gegenwart Dritter mit ihm darüber. Sie gefährden nicht nur ihr, sonder vor allem auch sein Leben, die Expedition, mein Lebenswerk und die gesamte Zukunft unseres Planeten. Seien sie sich dessen immer bewusst. Ich weiß, dass ich ihnen viel zumute, aber glauben sie mir, es steht ebenso viel auf dem Spiel.“

Laima dröhnte Wagners Musik in den Ohren. Der Kopf schwirrte ihr vor Informationen. Wenn es so war, wie Bersinsch sagte, würde nicht nur für sie die Welt aus den Fugen geraten. Er war der Vater, den sie vielleicht immer gerne gehabt hätte. Sie fühlte sich ihm verpflichtet. Alles war so unreal. All diese neuen Fakten. Alles fiel in sich zusammen. Alles in ihrem Leben brach weg. Was würde bleiben, wenn sie einfach losließ? Was hatte sie zu verlieren, um das herauszufinden? Sie wusste, dass er eine Entscheidung von ihr erwartete.

„Ich werde fahren, Professor“, sagte sie.

Sie sah, wie sein geschwächter Körper erleichtert aufatmete. Seine Züge erhellten sich unter dem Mundschutz.

„Ich wünsche dir alles Gute, mein Kind“, sagte er mit tiefem Stolz in der Stimme. „Bring es zu einem guten Ende. Meine Kräfte werden nicht mehr reichen, es mitzuerleben, aber ich werde bei dir sein. Gott schütze dich!“

Sie wollte sagen, dass alles gut werden würde. Aber sie fühlte, dass dies nicht stimmte. Er umarmte sie. Dann nahm er seinen Mundschutz ab und küsste sie auf die Stirn. Heiße Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.

 

 

Laima war verwirrt. Gottesbeweis. Blume des Lebens. Ufos. War Professor Bersinsch verrückt geworden? Sein Krebs machte ihn vielleicht unzurechnungsfähig? Kam er ihr paranoid vor?

Sie ging gerade durch den Johannishof, als sie Blumenerde und Geranienreste vor sich auf dem Boden sah. Ihr Blick wanderte zum Holzgeländer empor. Einer der Kästen war heruntergestürzt. Hatten die Katzen wieder alles verwüstet? Laima machte sich auf ein ähnliches Chaos in der Wohnung gefasst.

Als sie die letzten Stufen im Treppenhaus hinaufkam, stand die Tür weit auf. Eine unbeschreibliche Unordnung herrschte. Die Regale waren umgekippt. Die Kissen aufgerissen. Mittendrin standen Polizisten in Uniform und weißen Overalls.

„Was machen sie hier?“

„Ihre Nachbarin war so nett, uns zu rufen“, sagte ein Beamter, der offenbar das Sagen hatte. „Die alte Dame unter ihnen hat sich wohl gedacht, dass es nicht die Katzen sein können, die so einen Lärm veranstalten.“

Filips und Franzene wanderten unbeeindruckt von dem ganzen Trubel mitten durch das Chaos.

„Als die Kollegen kamen, waren die Einbrecher noch da. Sie sind dann aus dem Fenster geflüchtet und von der Mauer gesprungen. Ausgerechnet auf eine Gruppe Touristen. Irgendwelche Anhaltspunkte?”, fragte er einen Uniformierten, der gerade hinter Laima hereinkam.

„Die Befragung hat einiges ergeben. Ein Teil der Gruppe meinte, es seien zwei Chinesen gewesen. Andere waren sich sicher, es waren drei Russen. Und die Dritten glaubten, die vier Männer hätten Englisch gesprochen.”

„Na wunderbar! Russische Chinesen die Englisch reden. Und davon gleich ein halbes Dutzend. Das Übliche. Kann einem der Täter auf den Kopf fallen, fünf Minuten später weiß keiner mehr, ob er schwarz, weiß oder gelb war. Wenigstens wissen wir, dass sie Frau ...?“

„Liepa.“

„Dass sie, Frau Liepa, es nicht selbst waren, die hier alles umgepflügt hat. Was suchten die hier?”

„Ich habe keine Ahnung.“

Laima sah, dass ihr Rucksack immer noch an der gleichen Stelle lehnte. Nur war er offen. Der Ermittler folgte ihrem Blick. Ihr Handy klingelte.

„Papa, du, es ist gerade ganz schlecht. Bei Mama ist eingebrochen worden. Die Polizei ist in der Wohnung.“

Sie sah, wie der Ermittler zu ihrem Rucksack ging.

„Mama ist im Krankenhaus“, sagte ihr Vater am andren Ende der Leitung.

„Ja, weiß ich. Arbeiten. Sie musste vorhin weg.“

„Sie liegt im Krankenhaus. Im Koma. Sie hatte einen Unfall.“

„O mein Gott, ich komme sofort.“

Laima verfolgte, wie der Ermittler etwas aus ihrem Rucksack holte.

„Ich warte hier auf dich“, sagte ihr Vater.

Sie legte auf.

„Probleme“, sagte der Ermittler und kam zu ihr zurück.

„Hm, ja.“ Laima konnte keinen klaren Gedanken fassen.

„Das war keine Frage“, sagte er und hielt einen verschweißten Plastikbeutel hoch, in dem sich ein weißes Pulver befand.

„Haben sie das schon mal gesehen?“

Sie starrte ihn an. Die Aufmerksamkeit aller Anwesenden lag plötzlich auf ihr.

„Wissen sie, was das ist?“, fragte er und warf ihr den Beutel zu.

Sie fing ihn auf.

„Keine Ahnung.“

„Könnte es sein, dass die Männer diesen Beutel gesucht haben?“

Alle verfolgten ohne eine Bewegung, was sich zwischen den beiden abspielte. Laima sah aus dem Augenwinkel, dass einer der Polizisten langsam das Holster seiner Pistole öffnete.

„Ich habe das noch nie gesehen. Glauben sie mir! Da sind keine Fingerabdrücke von mir drauf.“

„Jetzt schon!“, sagte er.

Laima begriff die Aussichtslosigkeit ihrer Lage. Der Druckknopf des Holsters schnappte auf. Im nächsten Augenblick sprang sie zur Küche und glitt über das Fensterbrett nach draußen. Hinter ihr brach ein Orkan los. Schreie. Stolpern.

Laima stand auf der Wehrmauer. Unter ihr gute vier Meter bis zum Kopfsteinpflaster.

„Stehenbleiben!“, schrie jemand aus der Wohnung.

Sie sprang auf ein Sonnenzelt, das zu einem der Restaurants unter ihr gehörte. Gäste schrien auf. Sie rutschte und fiel noch etwa zwei Meter.

„Stehenbleiben!“

Der Polizist stand jetzt mit der Waffe über ihr auf der Mauer. Sie lief zwischen zwei Touristen hindurch. Er würde es nicht riskieren zu schießen. Die Tauben flatterten erschreckt auf, als sie am Flötenspieler vorbeirannte. Sie hörte, wie der Polizist auf dem Kopfsteinpflaster landete und vor Schmerz aufschrie.

Rechts? Links? Links an der Johanneskirche entlang. Verkriechen. Aus der Schussbahn, dachte sie.

Nach wenigen Metern schlug sie sich in den hinteren Eingang der Kirche. Sie lief noch einige Schritte und warf sich zwischen zwei Bänke. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie glaubte, ihr Puls hallte in der ganzen Kirche wider. Sie bekam kaum Luft.

Ein Blick über die Reihen. Da!

Draußen am Vordereingang humpelte der Polizist vorbei. Er wurde langsamer. Dann blieb er stehen. Ein zweiter, jüngerer Polizist stieß hinzu. Der Ältere blickte sich langsam um. Sie duckte sich. Hatte er sie gesehen? Laima presste sich flach auf den Boden. Sie hörte Stiefel zwischen den Bänken.

Langsam wurde sie eingekreist. Sie saß in der Falle.

Sie wartete den letzten Augenblick ab. Dann sprang sie aus der Deckung. Sie erschrak, wie nah die zwei Männer ihr waren. In absoluter Panik lief sie über die Lehnen der Bänke. Wie sie das Gleichgewicht hielt, war ihr ein Rätsel. Glücklicherweise ging der humpelnde Polizist in der äußeren Reihe. So konnte sie vor ihm den Ausgang erreichen. Der junge Polizist schaffte es fast, sie einzuholen, als der Korbwagen, den eine Bernsteinverkäuferin schob, ihn in die Hüfte traf, gerade als er die Kirche verlassen wollte.

Laima bog um die Ecke des Pfarrhauses.

Als die beiden angeschlagenen Polizisten die Ecke erreichten, war sie nirgends zu sehen.

Laima war geradewegs in einen Touristenladen gestolpert. Aus dem Fenster sah sie, wie beide ratlos dastanden. Aber ihr war klar, dass ihr kaum Zeit blieb. Sie kaufte einen auffälligen roten Pullover mit der Aufschrift ,Latvija’ und eine dazu passende Schirmmütze.

„Haben sie einen Hinterausgang?“, fragte sie den Verkäufer.

„Dort“, und er zeigte auf eine Tür hinter dem Tresen.

 

Auf dem Weg zum Bus liefen ihr zwei weitere Polizisten entgegen. Aufgeregt sprachen sie in ihre Funkgeräte. Laima zog den Schirm ihrer Mütze tiefer ins Gesicht und machte ihnen Platz.

Dann stieg sie in den Bus.

In der Stadt war ein Tourist das Unauffälligste, was es gab. Aber in den Randbezirken verhielt es sich genau umgekehrt. Sobald sie die Innenstadt verlassen hatte, zog sie die Sachen aus und stopfte sie neben sich in den Sitz.

Laima fuhr nach Hause. So kam es ihr jedenfalls vor, wenn sie im Bus Nummer vierzehn Richtung Mezciems saß. Über zwanzig Jahre war es ihr Zuhause gewesen. Genau gegenüber lag die Gailezers Klinik, in der ihre Mutter arbeitete. Von der Nationaloper, wo ihr Vater als Bassbariton sang, nach Mezciems. Das war ihre Strecke. Der Bus kam zum Stehen. Der Verkehr staute sich. Sie standen im Wald. Es waren die Wälder ihrer Kindheit, die die Siedlung und die Klinik umgaben.

Es ging nur langsam voran.

Dann sah sie es, als der Bus aus dem Wald kam. Mitten auf der Kreuzung stand das Auto ihrer Mutter. Gerade zog ein Abschleppwagen es auf den Haken. Die Fahrerseite war völlig eingedrückt. Teile des Dachs waren herausgeschnitten. Blut. Überall Blut. Der Bus fuhr an und glitt an der Unfallstelle vorüber. Wie betäubt saß sie auf ihrem Sitz. Sie konnte es nicht begreifen.

 

„Mezciems. Endstation, junge Frau. Hören sie mich?“

Nur langsam drang die Stimme des Busfahrers in ihr Bewusstsein.

„Aussteigen! Wenn ihnen nicht gut ist, gehen sie in die Notaufnahme. Die ist gleich dort drüben.“

„Hatte ich sowieso vor“, antwortete sie abwesend.

 

Das Krankenhaus kannte sie in- und auswendig. Durch die Notaufnahme ging sie zu den Fahrstühlen.

„Laima!“

„Vera.“

Vera war die Oberschwester der Notaufnahme und ebenso lange wie ihre Mutter im Krankenhaus beschäftigt. Sie kannte Laima seit ihrer Geburt.

„Ich war gerade bei deiner Mutter auf der Intensivstation. Es tut mir so leid. Wie konnte das nur passieren?“

„Ich habe den Wagen gesehen. Sie wollte doch nur zur Arbeit.“

„Aber sie hatte heute gar keinen Dienst.“

„Jemand aus dem Krankenhaus hat doch angerufen und gesagt, es wäre jemand ausgefallen.“

„Heute ist niemand ausgefallen.“ Vera schaute sie skeptisch an. „Und von uns hat niemand angerufen. Bestimmt nicht. Ich wüsste das, schließlich bin ich für die Diensteinteilung zuständig. In was ist deine Mutter da reingeraten?“

„Reingeraten? Wie meinst du das?“

„Vielleicht denkst du, ich spinne. Aber glaube mir, ich habe vierzig Jahre Kommunismus mitgemacht. Ich rieche Leute vom Geheimdienst hundert Meter gegen den Wind. Da oben ist dein Vater, aber vor der Tür stehen noch zwei andere Männer. Typ Tscheka. Die Tscheka gibt es zwar nicht mehr, aber ich könnte schwören. Sei bloß vorsichtig.“

„Aber ich muss irgendwie zu meiner Mutter.“

„Komm! Ich hab eine Idee.“

 

Wenig später öffnete sich die Tür zum Krankenzimmer der Intensivstation und Vera schob ein frisch bezogenes Bett herein.

„Du kannst jetzt rauskommen, Laima.“

„Laima“, sagte ihr Vater verwundert.

„Schrei nicht so, Papa. Von deinem Bassbariton fällt noch das ganze Krankenhaus zusammen. Danke, Vera. Auch wenn es hier unten etwas unbequem war, hat es gut geklappt.“

Laima kletterte aus dem Gestänge des Bettes.

„Hallo Mama“, sagte sie und nahm die Hand ihrer Mutter.

„Sie sieht schlimm aus“, sagte ihr Vater. „Aber warum macht ihr hier so einen Zirkus? Was ist los?“

„Ich gehe dann wieder“, sagte Vera, „sonst fällt denen da draußen noch auf, dass ich nicht wieder rauskomme.“

„Die da draußen? Wer da draußen?“

„Schrei nicht so! Danke, Vera.“

„Nichts zu danken. Ich habe deiner Mutter zu danken. Mein Gott, ich rede schon so, als wäre sie tot.“

Vera verließ schluchzend das Zimmer.

 

„Du willst morgen wieder abreisen? Du bist doch gerade erst gekommen. Und was heißt, du weißt nicht, was die von dir und deiner Mutter wollen?“, fragte ihr Vater, nachdem sie ihm alles erzählt hatte.

„Bist du sicher, dass du nichts mit den Drogen zu tun hast?“

„Papa, bitte!“

„Wenn die Polizei und die da draußen dich suchen, bist du nirgends sicher. Außerdem brauchen wir eine gute Tarnung, wenn ich dich zum Flughafen bringen soll. Und einen neuen Pass. Wie heißt der Kollege von deinem Professor? Dr. Wie?“

„Dr. Wu. Von der chinesischen Botschaft.“

„Wu?“

„Leise, Papa, wirklich.“

„Darum kümmere ich mich. Die Bretter ...“

Mit einem Krachen flog die Tür auf und zwei Männer mit gezückten Waffen stürmten herein.

Laima stürzte sich aus dem halb geöffneten Fenster auf das Vordach. Sie befand sich im ersten Stock.

Mit einem lauten Klirren sprangen die Männer einfach durch die Scheibe hindurch.

Laima ließ sich vom Dach fallen und rannte Richtung Wald. Beide Männer landeten fast gleichzeitig auf den Füßen, die Pistolen im Anschlag. Mit großen Sätzen wurde der Abstand zwischen Laima und ihren Verfolgern immer kleiner. Sie erreichte den Fichtenwald. Sie stolperte über den unebenen Sandboden. Sollte das Rennen kein Ende mehr nehmen? Wie wäre es, wenn sie sich einfach fallen ließe?

Schüsse. Kugeln schlugen neben ihr in die Bäume. Nein. Sie würde nicht aufgeben. Außerdem hatte sie einen Vorteil. Sie kannte sich hier aus. Nicht weit von hier hatten sie früher Erdhöhlen gegraben. Mit etwas Glück schaffte sie es bis dahin. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. Diese Männer waren keine Polizisten, die man so leicht abschütteln konnte. Sie wollten sie auch nicht festnehmen. Sie wollten sie töten.

Laima lief so schnell sie konnte. Sie versuchte, Haken zu schlagen. Das Gelände war uneben und hügelig. Hinter der nächsten Kuppe sollte es sein. Lange war es her, dass sie das letzte Mal hier war. Wenn sie das Loch nicht fand? Oder es das Loch gar nicht mehr gab? Wenn es eingestürzt war? Oder die Männer sie trotzdem fanden? Sie lief mit letzter Kraft den Hügel hoch. Dann kam die Senke.

Ja, hier war es. Dort zwischen den Bäumen. Büsche. Büsche standen jetzt dort. Unter einem Busch war immer noch das Loch. Sie rutschte so schnell es ging hinein und bewegte sich nicht mehr. Jetzt war ihr Schicksal besiegelt. Es lag nicht mehr in ihrer Hand. Sie lauschte. Ein Knacken. Sie duckte sich tiefer in das, was von der Höhle übrig war. Sie lauschte immer wieder. Vielleicht durchkämmten sie systematisch den Wald? Vielleicht kamen sie mit Baggern und Dynamit? Es war ihr egal. Sollten sie mit ihr machen, was sie wollten.

 

Als sie aufwachte, fühlte sie sich wenig ausgeruht. Alle Knochen taten ihr weh. Ihre Kleidung war feucht vom Sand und klebte ihr am Körper. Laima war hungrig und durstig. Sollte sie aus ihrem Versteck kommen, oder warteten die Jäger nur darauf? Sie beschloss, dass es ihr egal war. Vor Angst in diesem Loch an Rheuma zu verrecken, war nicht das Ende, das sie sich vorgestellt hatte.

Der Abendhimmel tauchte alles in ein Orangerosa, das nicht zu ihrer Stimmung passen wollte.

Wohin? Hierbleiben war eine schlechte Alternative. Zu ihrem Vater? Auch dort warteten sie vielleicht schon. Was hatte er noch gesagt? Die Bretter? Ja, das war eine seiner fantastischen Ideen. Sie tastete nach ihrem Handy. Weg. Sie hatte es verloren. Vielleicht auch besser so. Wenn diese Männer tatsächlich so gefährlich waren, würden sie das Handy überall orten können.

 

Die Bretter konnten beim handwerklichen Geschick ihres Vaters nur die Bretter sein, die die Welt bedeuten. Sie musste die Oper erreichen. Wenn sie es schaffte, sollte sie eine einigermaßen sichere Nacht haben. Im Zentrum war die Dichte an Polizisten allerdings am höchsten. Es bestand die Gefahr, ihnen direkt in die Arme zu laufen. Ihre schmutzige Kleidung ließ Laima verwahrlost aussehen. Nur bis in die Stadt, dachte sie. Sie setzte sich ganz hinten in den Bus und versteckte die dreckigen Knie ihrer Hose hinter der Sitzbank. Die sommerliche Abendluft blies durch die offenen Fenster und für einen Augenblick war es, als wehte der Fahrtwind alles mit sich fort.

Als Laima ausstieg, versuchte sie, unauffällig in einer der Seitenstraßen unterzutauchen. Sie musste das Freiheitsdenkmal umgehen, an dem immer Soldaten Wache standen, die wiederum von Polizisten bewacht wurden. Laima nahm den Weg durch den Park, am kleinen Kanal entlang, der das Freiheitsdenkmal mit der Oper verband.

Durch den Künstlereingang zu kommen, wäre kein Problem für sie gewesen. Wie sie im Krankenhaus fast jeden vom Personal kannte, so kannte sie in der Oper vom Pförtner bis zum Solisten ebenfalls alle. Und alle kannten sie. Aber Laima hatte kein gutes Gefühl, wenn jemand wusste, dass sie überhaupt dort war. Wenn niemand es wusste, konnte auch niemand etwas sagen. Langsam wurde sie auch paranoid. Hatte Professor Bersinsch sie angesteckt?

Auf der Rückseite der Oper gab es ein Fenster. Sie hatte es zwar seit Jahren nicht mehr benutzt, aber es bestand die Chance, dass die wackeligen Schließen der Fenster ihr die Möglichkeit gaben, direkt in den Fundus der Oper zu gelangen. Während der Aufführungen ihres Vaters, die ihr endlos erschienen, hatte sie die Sammlung der merkwürdigsten Gegenstände in der Requisite bestens unterhalten.

Es war ihr wie ein Wunderland erschienen. Alles gab es hier. Von riesigen Teddybären, die sie als Kind am meisten geliebt hatte, über unbeschreibliche Maschinen, Schaufensterpuppen mit veränderten Gesichtern, bis hin zu einem echten Cadillac.

Einmal war sie in einem der Riesenteddys, der eine Mischung aus Kostüm und Maschine war, eingeschlafen. Ihre Mutter hatte ihrem Vater schreckliche Vorwürfe gemacht. Aber schließlich war sie am nächsten Tag selbst nach Hause gekommen und hatte ihren Eltern alles erzählt. Ab und an war sie auch durch das Fenster rausgeschlüpft und hatte am kleinen Kanal gespielt, wo sie eines der Schiffe, das sie gefunden hatte, an einer Schnur auf dem Wasser segeln ließ. Sie war immer zurück, bevor ihr Vater es merkte. Nur einmal hatte jemand das offene Fenster hinter ihr geschlossen. Sie hatte solange daran gerüttelt und gewackelt, bis die Griffe von alleine aufgegangen waren.

Sie befand sich jetzt im Schatten der Oper. Die ständige Dämmerung der Weißen Nächte war hereingebrochen. Einige Passanten flanierten Eis essend am Kanal entlang. Ein Pärchen lag unweit von ihr auf dem abschüssigen Rasen am Wasser.

Das Fenster war zum Glück nicht ausgetauscht worden. Laima breitete die Arme aus und presste die Hände gegen die Scheibe. Sie fing an zu drücken und zu wackeln. Wenn es zu fest geschlossen worden war, bestand keine Möglichkeit hineinzugelangen. Nichts bewegte sich, aber sie wusste, dass es eine Frage der Ausdauer war. Sie fühlte einen winzigen Spalt, der sich öffnete. Drinnen war es stockfinster. Nur die Griffe schimmerten matt im spärlichen Licht. Langsam bewegten sie sich. Es konnte nicht mehr lange dauern. Sie schaute sich um, ob jemand in ihre Nähe kam.

Zwei Polizisten schlenderten ihr entgegen. Hektisch fing sie an, schneller zu wackeln. Immer schneller. Die Polizisten hatten sie noch nicht bemerkt, aber noch ein paar Schritte und sie mussten sie sehen.

Panisch schlug sie gegen das Glas. Dann gaben die Griffe nach. Das Fenster flog auf. Die Scheibe zersprang mit einem lauten Klirren, als der Rahmen im Inneren gegen eine Wand schlug.

„Was machen sie da?“

Der Kegel einer Taschenlampe tastete nach Laima.

„Polizei. Keine Bewegung! Bleiben sie, wo sie sind!“

Laima sprang in die Tiefe. Scherben knirschten unter ihren Sohlen. Sie lief in die Dunkelheit. Das seichte Licht einer entfernten Notausgangsbeleuchtung war ihre einzige Orientierung. Die Regale standen unverändert. Sie bewegte sich auf das Licht zu. Der Schein der Taschenlampe flackerte jetzt wild durch den Raum, als der erste Polizist durch das Fenster stieg. Die Metalltür unter der Notausgangsbeleuchtung befand sich hinter einem Vorhang. Laima riss die Tür auf.

„Stehenbleiben“, rief der Polizist zwischen den Regalen hindurch.

Die Tür fiel zu.

„Schnell, beeil dich doch. Ich glaube, es ist die Frau, die Eddis und Mikus abgehängt hat.“

Es dauerte eine ganze Weile, bis beide zur Tür gefunden hatten und den Raum im Laufschritt verließen.

Laima atmete hinter dem Vorhang auf. Dann tastete sie sich bis zum Bären, kroch in ihn hinein und fühlte sich endlich sicher.

 

„Polizei. Kommen sie mit erhobenen Händen raus. Sie sind umstellt“, dröhnte eine tiefe Stimme.

Laima schreckte hoch.

„Kommen sie raus! Sie müssen zum Flughafen. Außerdem habe ich Hörnchen und Kaffee dabei.“

„Mann, Papa, du findest das auch noch lustig“, sagte Laima und kroch aus ihrem Versteck.

„Ich habe schon gehört, dass heute Nacht eingebrochen wurde. Wenn sie dich nicht gefunden haben, konntest du nur hier drin sein. Beeil dich, wir müssen uns noch fertig machen, bevor es zum Flughafen geht.“

 

Es waren endlose schmale Treppen, die steil nach oben, nach unten, nach rechts und nach links, wie durch einen Ameisenbau führten. Schließlich kamen sie am Pförtner vorbei. Sie verließen die Oper durch den Künstlereingang, wo bereits ein Taxi wartete.

„Meinst du nicht, es ist ein bisschen übertrieben. Ich habe den Eindruck, ein Schild um den Hals mit meinem Namen drauf wäre unauffälliger gewesen. Du als Scheich. Und ich ...“

„Komm weiter. Mach keine Geschichten“, sagte ihr Vater und schob sie ins Taxi.

„Maxim, gib Stoff. Zum Flughafen. Maxim war Rennfahrer und beim KGB. Eine bessere Kombination konnte ich auf die Schnelle nicht finden.“

„Biete aanschnaalen“, sagte Maxim. „Wen sie uns foolgen woolen, chänge ich sie aab.“

Dann gab er Gas. Er fuhr sehr schnell, aber elegant und weich.

„Deine Schminke sieht irgendwie nicht echt aus“, sagte Laima. „Und dein Schnurrbart!“

„Aber die Sonnenbrille, um meine blauen Augen zu verdecken, ist doch super.“

„Blau, ja. Ist dir noch nicht aufgefallen, dass blaue Burkas in Afghanistan getragen werden? Nicht in den Emiraten!“

„Sei nicht so kleinlich. Unser Fundus ist eben nicht perfekt. Was Besseres hätten wir für dich gar nicht finden können. Schließlich hast du dich in die Tinte gesetzt, nicht ich. Da solltest du lieber dankbar sein für alles, was du kriegen kannst.“

Maxim beobachtete immer wieder den Verkehr hinter ihnen. Aber es schien alles ruhig.

Als sie aus der Stadt waren, raste er unvermittelt los und wechselte ein paar Mal in schneller Folge die Spur.

„Was ist? Sind sie hinter uns?“ Laima war nahe am Nervenzusammenbruch.

„Nee, nee. Woolte nur bisschen Spaß, wie in aalte Zeit.“

„Jetzt reichts mir langsam mit euren Späßen. Ich mache mir hier fast in die Hose und ihr benehmt euch wie die Kinder. Noch einen Spaß und ich werde euch beide hysterisch verprügeln. Verstanden?“

„Iss klar“, sagte Maxim und grinste.

„Und hör auf zu grinsen.“

 

Maxim setzte sie vor dem Abflugterminal ab. Als sie die Halle mit den Check-in-Schaltern betraten, sahen sie sich um. Auf einer der Bänke saß Dr. Wu. Er starrte sie unverwandt an. Neben ihm lag eine gefaltete Zeitung. Laima setzte sich so, dass die Zeitung zwischen ihnen lag. Er wirkte befremdet, als sie Platz nahm.

„Psst! Dr. Wu, ich bin es, Laima.“

Er zuckte zusammen, ließ sich aber nichts weiter anmerken.

„Ich habe schon gehört, dass sie es geschafft haben, die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen. Diese Verkleidung hilft ihnen bestimmt dabei, die aller anderen auch noch zu bekommen. Aber seis drum. Ich habe hier zwei Pässe, da sie offenbar nicht die Gelegenheit hatten, ihren mitzubringen. Einen auf ihren richtigen Namen. Und einen Pass auf den einer gewissen Fatima aus Marrakesch. Ihr Vater scheint da einiges durcheinandergebracht zu haben. Aber um bis in die Schweiz zu kommen, sollte es reichen. Schließlich wird hier bereits nach ihnen gefahndet. Beide Dokumente sind echt. Fragen sie mich nicht, wie ich das in der kurzen Zeit geschafft habe. Ihr Flug geht erster Klasse nach Zürich. Ich werde jetzt aufstehen. Ihr Visum für die Einreise nach China finden sie ebenfalls in der Zeitung neben sich auf dem Sitz. Wenn sie bis hierhin gekommen sind, besteht Hoffnung, dass sie es noch weit bringen. Ich wünsche ihnen viel Erfolg.“

Er erhob sich und schlenderte davon.

Laima nahm die Zeitung so unauffällig wie möglich. Als sie sich in die kurze Schlange vor dem Business-Schalter stellten, kam ein anderer ‚Scheich’ auf Laimas Vater zu. Er fing an, wild gestikulierend, auf Arabisch auf ihn einzureden.

„Schau, da vorn“, Laima zog ihren Vater, der immer wieder hilflos mit den Schultern zuckte, am Ärmel. „Die zwei Männer aus dem Krankenhaus.“

Laima beobachtete, wie sie langsam zwischen den Passagieren hindurchgingen. Sie taxierten jeden so unauffällig wie möglich.

„Das hat uns noch gefehlt“, flüsterte ihr Vater.

„Ich habe dir doch gesagt, mit dieser Verkleidung geht was schief.“

„La schemm el a schemm“, schrie ihr Vater dem Araber entgegen, der nicht von ihm ablassen wollte. Der Araber schaute irritiert, drehte sich um und ging davon.

„Was hast du ihm gesagt?“

„Ich habe keinen blassen Schimmer. Aber es hat gewirkt.“

Die zwei Männer sahen zu ihnen herüber.

„Sie haben deinen Bassbariton erkannt.“

Sie kamen auf Laima und ihren Vater zu. Eine Hand unter dem Mantel. Jeden Moment konnte ein Feuergefecht losbrechen.

„Ohne Gepäck können sie direkt durch die Kontrolle gehen“, sagte die junge Dame am Schalter.

Sie rannten los.

 

 

 

 

206

 

Die Wesen
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