18
Laima wurde auf die Seite geschleudert. Metallstücke schlugen neben ihr mit unvorstellbarer Wucht in die Zeltwände, die augenblicklich Feuer fingen. Alles brannte. Die Explosion hatte Laima fast ohnmächtig werden lassen. Ihre Ohren waren taub. Der schwarze Qualm machte sie blind und drohte, sie zu ersticken, sobald sie sich aufrichtete. Die Zeltwände verwandelten sich in Mauern aus Feuer. Brennende Fetzen segelten durch die Luft und von der Decke, die jeden Moment drohte, wie eine Grabplatte in die feurige Gruft zu stürzen und sie unter sich zu begraben.
Sie nahm Bewegungen in den andren Ecken des Zeltes wahr. Die Kinder und Tsins Frau! Sie fingen an, zu schreien. Dann robbten sie auf dem Boden zum Ausgang. Laima zog sich eine Decke gegen die herabfallenden Feuerstücke über und kroch ebenfalls zum Ausgang, dessen Vorhang bereits in Flammen stand. Die Kinder trauten sich nicht hindurch. Ihre Mutter schrie hinter ihnen auf dem Boden. Laima hielt die Luft an, zog die Decke über den Kopf und sprang. Sie riss den Vorhang ab, sodass alle Kinder hinter ihr hinausstürzen konnten.
Durch die Rauchwolke sah Laima von Stein und Professor Carlsen bewusstlos in der Jurte liegen. Von allen Seiten kamen Helfer herbei. Tsin und Thian, die offenbar nicht in der Jurte gewesen waren, hielten sich Tücher vor den Mund und tauchten sofort hinein. Andre folgten ihnen. Sam kam angehumpelt.
„Ich wollte gerade versuchen, Wasser zu holen, als ich den Qualm gesehen habe. Dann hat mich die Explosion erwischt.“
„Das sieht übel aus.“
„Ich habe einen Splitter abgekriegt“, sagte er und drückte auf eine stark blutende Wunde an seinem Oberschenkel. „Da, sie haben Gerold und den Professor.“
„Und Schüssli, er ist immer noch bewusstlos. Jetzt bringen sie Slinkssons.“
„Und Tsins Mutter, die alte Frau sieht gar nicht gut aus.“
Sie legten alle nebeneinander auf Decken am Boden. Sofort kamen Frauen und wickelten sie ein, gaben ihnen Wasser und wuschen ihnen die Augen aus.
„Die alte Frau wirkt so schlaff“, sagte Laima.
„Da, am Kopf, ein Splitter vom Ofen. Das ist übel.“
„Der Professor bewegt sich. Gehen wir zu ihm!“
„Was ist passiert?“, fragte von Stein.
„Eine Explosion! Der Ofen ist in die Luft geflogen.“
„Das ganze Zelt brennt ja. Das war doch kein Unfall!“
„Beruhigen sie sich erst einmal. Ruhen sie sich aus. Die Druckwelle hat sie bewusstlos gemacht. Bleiben sie liegen.“
Von Stein sah sich um.
„Und die Andren?“
„Sam hat es erwischt. Thian und Tsin waren wohl noch feiern. Seine Frau und die Kinder haben es überlebt. Mit Tsins Mutter sieht es nicht gut aus, fürchte ich.“
„O mein Gott“, stöhnte der Professor, „mein Kopf.“
„Sie müssen sich ausruhen. Das gilt auch für Ärzte.“
„Ich meine nicht von der Explosion. Dieses grässliche Gerstenbier. Mir brummt vielleicht der Schädel ...“
Alle versuchten zu löschen und zu retten, was noch zu retten war. Dann brach das Dach ein. Tausende Funken stoben in den dunklen Himmel. Die Jurte brannte bis auf den Boden nieder, ohne dass sie etwas dagegen tun konnten.
„Das war kein gewöhnlicher Brand“, sagte von Stein. „Tsin weiß das, aber er sagt nichts dazu.“
Tsin kniete neben seiner Mutter und weinte bitterlich.
„Ist die alte Frau tot?“
„Ja. Eine Fraktur des Schädels, dann drang der Splitter in ihr Gehirn ein“, sagte Professor Carlsen, den man zu ihrer Untersuchung herangezogen hatte. „Jetzt kommen erstmal sie dran, Sam. Wir müssen das rußige Ofenstück so schnell wie möglich entfernen. Machen sie nicht so ein unglückliches Gesicht. Wenn wir es nicht sofort machen, folgen sie der alten Damen ins Reich der Geister schneller, als sie ‚Ich will nicht’ sagen können.“
Er übergoss Sams Bein mit Schnaps. Sam biss vor Schmerz die Zähne zusammen. Thian reichte ihm ein Stück Holz.
„Mund auf und Zähne drauf, sonst beißen sie sich noch die Zunge ab.“
Als er mit dem Messer in die Wunde eindrang und schmatzend den Metallsplitter heraushebelte, schrie Sam unter den zusammengepressten Kiefern auf und Schüssli verlor wieder das Bewusstsein.
Eine Jurte war zum Lazarett umgebaut worden. Professor Carlsen behandelte noch einige Brandwunden bei den Kindern und Laima. Niemandem war in dieser Nacht noch nach Feiern zumute.
Der nächste Tag war schwer. Die Stimmung der Nomaden war getrübt vom Tod der alten Frau. Alle schätzten und achteten sie. Sie brachten ihr den gleichen Respekt wie Tsin entgegen. Sie hatten ihren Körper in eine Decke geschlagen und ihn auf den Boden der Steppe gelegt.
„Tsin sagt, es war ein gutes Zeichen, dass die Geister sie zum Geisterfest zu sich geholt haben.“
„Aber es war kein Zufall, Gerold. Das haben sie doch selbst gesagt.“
„Das spielt für ihn keine Rolle. Er sieht die Dinge, wie sie sind. Ob es nun Zufall war oder nicht, für ihn war es die Hand der Geister. Es macht nach seinem Verständnis der Welt keinen Unterschied. Es ist das Gleiche. Auch die Hand eines andren wird durch die Geister bestimmt. Er sieht es als eine Ehre, die ihr zuteilwurde. Und vielleicht ist das auch die schönere Seite dieser Tragödie.“
„Das ist doch Heuchelei“, sagte Slinkssons. „Da verübt jemand einen Anschlag auf uns und ihr redet von Geistern und einer schönen Tragödie?“
Jeder hatte einen Stein gesammelt, den sie einer nach dem anderen auf den eingewickelten Leib der Toten legten und dabei einige Worte murmelte. So wuchs, Stück für Stück, ein kleiner Grabhügel.
„Wie dem auch sei“, sagte von Stein, „Tsins Frau wird noch einige Tage Totenwache halten, bis der Geist ihrer Schwiegermutter sich endgültig vom Körper getrennt hat. Tsin muss allerdings die gesamte Yarsagumbu-Ernte nach Osiang Lu bringen, einem kleinen Ort hinter dem Pass. Dort wird er sie für alle andren an einen Händler verkaufen. Er wird heute noch mit den Yaks aufbrechen. Er kann uns mitnehmen. Von dort aus könnten wir dann endlich in Richtung Kailash fliegen.“
„Aber niemand von uns ist richtig gesund“, sagte Professor Carlsen. „Sams Bein sieht nicht gut aus und ihre Hände auch nicht. Bei der dünnen Luft heilen die Wunden schlechter.“
„Ein Grund mehr, so schnell wie möglich zu einer besseren ärztlichen Versorgung aufzubrechen.“
Niemand widersprach. Aber es war auch niemand begeistert.
Am Nachmittag wurden die Expeditionsausrüstung und mehrere Fässer mit Yarsagumbu-Raupen auf die Yaks verladen. Sam ebenso, da er nicht im Stande war, selbst längere Strecken zu gehen. Sie verabschiedeten sich und verließen die Nomaden. Professor Carlsens neue Freunde wollten ihn gar nicht gehen lassen, obwohl sie ihre ganze Ernte des Raupenpilzes an ihn verloren hatten. Tsins Sohn drückte jeden von ihnen herzlich und gab ihnen eine Falkenfeder als Glücksbringer mit und Tsins Frau packte ihnen Schnaps und Essen ein, das alle Nomaden für die Reisenden gespendet hatten.
Der Himmel war weit und klar wie die Steppe selbst. Laima hatte das Gefühl, sich in der Weite der Landschaft zu verlieren. Sie wanderten schweigend dahin. Nur die Glocken der Yaks begleiteten ihre Gedanken in einem unsteten Rhythmus.
Nach einer Weile fing von Stein an, Tsin zu befragen.
„Was haben sie ihn gefragt?“, wollte Sam wissen, der sich im Fell des Yaks festhielt.
„Ob er etwas vom der Stadt der Götter gehört hat. Oder ob er überhaupt von einem Tal hier in den Bergen weiß, das auf unseres passen könnte. Laut GPS ist es weiter weg, als ich dachte.“
„Und?“
„Nein. Nichts.“
„Auch nicht aus irgendwelchen Legenden?“
„Er meinte, es gäbe Tausende Märchen. Aber wo sich die einzelnen Höhlen oder Täler aus den Geschichten befinden, oder ob sie überhaupt existierten, wüsste er nicht.“
„Und die Dropa?“
„Auch nichts. Er sagte, dass dies der entlegenste Punkt sei, bevor das unpassierbare Gebirge anfängt, aus dem wir gekommen sind. Sie sind nur wegen dem Yarsagumbu hier. Weiter würde keiner von ihnen in die Berge vordringen. Es sei schon schwer genug, bis hierher zu kommen. Ein Volk, das dort lebe, sei ihm nicht bekannt.“
Sie erreichten den Rand der Steppe und begannen, gegen den Berg anzusteigen. Die Gruppe hielt mit den Yaks Schritt. Nur Schüssli und der Professor hatten Schwierigkeiten. Als sie den Pfad in Richtung des schneebedeckten Passes ein Stück heraufgestiegen waren, schnappten sie verzweifelt nach Luft.
„Meine Güte“, keuchte Schüssli, „ich glaube, ich ersticke. Es ist so furchtbar anstrengend. Das kann sich keiner vorstellen. Ich will, aber ich kann nicht.“
„Ist so“, hechelte der Professor. „Die Lungen wollen, können aber nicht. Wir müssen etwas langsamer gehen.“
„Also bei mir gehts“, sagte Sam.
„Auf dem Yak hat man gut reden, wenn man selbst nichts machen muss, außer die Landschaft zu bewundern.“
„Sagen sie sowas nicht. Ich muss mich in dieses stinkende Zottelvieh krallen, um nicht herunterzufallen, und habe das Gefühl, den Gestank bis zum Lebensende nicht mehr von meinem Körper zu kriegen. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass diese Viecher noch schlimmer stinken, als der Tee schmeckt, wäre ich zu Fuß gegangen. Ich glaube, wenn ich noch eine Tasse davon trinken muss, werde ich mich übergeben.“
„Wenn ihr weiter so viel Luft mit eurem dünnen Gequatsche verschwendet, würde es mich nicht wundern, wenn wir heute noch drei weitere Bestattungen auf dem Programm haben“, sagte Slinkssons.
Kurz bevor sie die Schneegrenze erreichten, machten sie eine Rast.
Tsin versuchte, ein Feuer zu entfachen.
„Das sind doch keine Yakfladen, die der da nimmt?“, sagte Sam, der gerade mit Slinkssons Hilfe abstieg.
„Die heizen nur damit“, sagte von Stein. „Sie sammeln die Fladen einfach ein, wenn sie auf der Steppe getrocknet sind. Billig und einfach.“
„Sieht ein bisschen wie die Teeziegel aus“, murmelte Sam skeptisch. „Könnten sie gleich die Butter und den Tee weglassen, der Geschmack wäre bestimmt der Gleiche. Mann, Mann, Mann. Was die nicht alles aus Kuhscheiße machen. Fehlt nur noch, dass sie es als Potenzmittel an die Chinesen verkaufen. Professor? Nein, das kann nicht ihr Ernst sein.“
„Als Potenzmittel nicht. Aber Tabletten aus Yakfladen gibt es wirklich. Ob die helfen, weiß ich allerdings nicht.“
Nachdem Tsin den Tee aufgesetzt hatte, öffnete er eines der Yarsagumbu-Fässer und füllte mehrere Hände voll in die Schale, in der er zuvor den Teeziegel zerrieben hatte.
Er zerdrückte die Raupen. Heraus kam eine schwefelgelbe Paste, die er Professor Carlsen reichte. Er machte eine Geste, sie auf Sams Bein und von Steins Hände zu reiben.
Dann sagte er etwas zu Thian.
„Die Creme soll uns helfen“, sagte von Stein zu Sam. „Wenn wir den Pass erreichen, müssen wir alle mit anpacken. Er hofft, dass die Yaks mitspielen und es nicht zu stark vereist ist.“
„Na dann! Reichen sie mir die Wundersalbe mal rüber.“
„Warum benutzen sie ihren Strahler nicht?“, fragte Laima. „Ich hatte den Eindruck, es hat mir gut geholfen. Außer ein paar Schwielen sind meine Hände wie neu.“
„Batterie alle.“
„Lädt sich das Gerät nicht von selbst wieder auf wie der Bione-Scanner?“
„Ich arbeite noch an einer Symbiose beider Geräte. Aber wie sie gesehen haben, gibt es noch Schwächen. Solange nehme ich gerne die Yarsagumbu-Paste.“
Dann reichte Tsin ihnen Tee.
„Nein, ich nicht, danke“, sagte Sam. „Mein Bedarf an Yakromantik ist gedeckt. Ich muss ja auf dem Tier noch bis zum Pass. Da werde ich die wackelige Freundschaft zu ihm nicht wegen einer läppischen Tasse Buttertees aufs Spiel setzen.“
Als sie das Schneefeld erreichten, wurde es kalt. Das Licht blendete auf der weißen Fläche so stark, dass sie Sonnenbrillen aufsetzen mussten.
„Was macht der Verrückte da?“, sagte Sam. „Er fängt doch nicht an, mein geliebtes Yak zu kämmen?“
Tsin fuhr dem Yak mehrfach mit den gespreizten Fingern durchs dicke Fell, bis er ein langes Büschel in der Hand hielt. Er band es sich hinter dem Kopf zusammen, sodass es genau über die Augen verlief.
„Das ist ja verschärft, Mann. Ich flipp aus. Eine Sonnenbrille aus Yakhaar. Leck mich, ist das cool!“
„Vielleicht fängst du am Ende noch vor Begeisterung an, Yaks zu züchten, wenn du wieder in Louisiana bist“, sagte Slinkssons.
„Oder ich komme dafür zu euch nach Schweden. Da ist das Klima ja genau richtig.“
Sie kamen immer höher und unter dem Schnee war kein Weg zu erkennen. Sie tasteten sich nach Gefühl durch die weiße Wüste, aus der nur hier und da ein schwarzer Felsen ragte. Der Kontrast der Landschaft war hart und gleichzeitig so einmalig und überwältigend unwirklich. Hätte Laima nicht den vereisten Grund unter sich gespürt, auf dem sie ständig abrutschte, hätte sie geglaubt, die Welt löse sich zwischen Himmel und Erde auf diesem Schneefeld vor ihr einfach ineinander auf.
Sam musste absteigen. Tsin trieb die Yaks vorsichtig vor sich her. Sie schienen ein besseres Gespür zu haben, wo unter ihren Hufen der Weg trittfest war.
„Der Schnee wird immer tiefer“, sagte von Stein. „Tsin sagt, wir müssen den Weg zum Pass für die Tiere freischaufeln. Sie könnten sonst steckenbleiben. Das wäre eine Katastrophe. Nicht für die Tiere, aber für uns. Wenn wir hier oben einschneien, könnten selbst unsere Vorräte an Yarsagumbu im Zweifelsfall nicht ausreichen, unser Überleben zu sichern.“
„Also wenn die Alternative zu gelber Raupensuppe für die nächsten paar Wochen Schneeschaufeln ist, dann fällt mir die Wahl nicht schwer“, sagte Sam. „Her mit der Schaufel!“
Sie nahmen alles, was sie als Schaufeln benutzen konnten und machten sich daran, einen für die Yaks gangbaren Weg in den Schnee zu graben. Es war mühsamer und schweißtreibender, als sie es sich vorgestellt hatten. Nach einer Stunde hatten sie gerade ein paar Dutzend Meter vom Schnee befreit.
„Tsin will es versuchen, bevor alles wieder zuschneien könnte“, sagte von Stein. „Er wird die Yaks jetzt langsam vorausgehen lassen. Sie müssen sich selbst davon überzeugen, dass für sie keine Gefahr besteht. Wenn eines von ihnen stürzt, gehen die andren nicht weiter.“
„Warum scheuchen wir sie nicht einfach hoch?“, sagte Sam.
„Du hast wirklich keine Ahnung“, sagte Slinkssons. „Hast du in deinem Leben schon mal eine Kuh gesehen, außer auf einer Milchpackung?“
„Die Tiere sind sehr empfindlich“, sagte von Stein. „Wenn einer von uns Faxen macht, laufen sie den ganzen Berg wieder runter. Und wenn sie nicht mehr weiterwollen, legen sie sich einfach in den Schnee.“
„Dann kannst du für die nächsten Wochen schon mal deinen Suppenlöffel rausholen.“
Tsin fing an, die Yaks mit seinen Rufen voranzutreiben. Langsam und vorsichtig setzten sie einen Huf vor den anderen. Dann blieben sie stehen und warteten.
„O je, sieht nicht gut aus“, sagte Schüssli.
Langsam machte Tsin ein paar Schritte auf sie zu, rief und sie machten ebenfalls wieder ein paar Schritte.
„Versucht, euch nicht hektisch zu bewegen und bleibt auf Abstand. Wenn die Tiere nervös werden, ist es aus.“
„Ich bin aber nervös“, sagte Schüssli. „Wegen ein paar dummen Kühen!“
„Sei nett zu ihnen! Schließlich tragen sie dein Gepäck. Wenn sie deine Gedanken lesen können, ist alles wegen dir vorbei. Also konzentrier dich darauf, dass sie es schaffen“, sagte Slinkssons.
Schritt für Schritt stiegen die schweren Tiere den Pfad hinauf.
„Langsam, immer schön behutsam“, sagte Sam. „Immer einen Fuß vor den andren.“
„Noch ein Stück, ihr Rindviecher, dann habt ihr es geschafft“, sagte Schüssli.
Tsin gab ihnen Zeichen, dass sie folgen sollten. Sie mussten durch den tiefen Schnee, um die Tiere herum.
„Jetzt können wir wieder schaufeln“, sagte Sam. „Was habe ich nur falsch gemacht, dass ich als Mensch geboren wurde und nicht als Gott, oder wenigstens als Halbgott? Verdient hätte ich es.“
„Vom Affen zum Halbgott schafft man nicht in einem Leben“, sagte Figaro Slinkssons.
„Sei du ganz still, du Sitzenbleiber“, sagte Sam.
„Als Mensch hat man doch viele Freiheiten“, sagte Laima. „Ist doch langweilig, wenn alles sich gleich erfüllt, wenn man nur daran denkt. Es mag zwar angenehm erscheinen, aber ist doch ziemlich frustrierend auf Dauer.“
„Also mir würde das nichts ausmachen“, sagte Sam.
„Ich hätte auch nichts dagegen“, sagte Slinkssons.
„Einen Sechser im Lotto, alle Frauen, die man will, schnelle Autos und eine Villa mit Pool. Einfach ein Gott sein ist doch super!“, sagte Schüssli.
„Ist es nicht die Vorfreude, meine Lieben, die den Reiz der Dinge erst ausmacht?“, sagte der Professor.
„Also mir egal. Hauptsache reich!“, sagte Schüssli.
„Aber dann willst du noch reicher sein. Dass deine Frau noch hübscher ist“, sagte von Stein.
„Klingt zum Schluss fast wie bei den Hungergeistern“, sagte Laima. „Außerdem müssen Götter auch mal sterben. Und sie können nichts davon mitnehmen.“
„Unser letztes Hemd hat auch keine Taschen“, sagte Sam.
„Siehst du. Also gar nicht so viel besser, als bei uns“, sagte Slinkssons.
„Na ja, zumindest gerade wäre ich für ein paar Minuten gerne ein Halbgott. Dann wäre der Weg frei und wir säßen schon im Warmen.“
Während sie schaufelten, zogen dicke Schneewolken auf und eine Wetterfront kamen immer näher.
„Wenn wir wenigstens heute noch den Pass erreichen könnten“, sagte von Stein, „der Himmel da hinten sieht gar nicht gut aus. Als könnte es bald ordentlich schneien. Tsin sagt, dass wir auf der andren Seite vor einem Sturm sicher wären.“
„Dann hauen wir mal rein“, sagte Slinkssons. „Nicht so trödeln, Leute!“
Schon bald setzte heftig Schneefall ein.
„Tsin geht vor. Er sagt, es kann nicht mehr weit bis zur Passhöhe sein. Wenn wir Glück haben, schaffen wir es.“
„Ich weiß nicht, wo der seinen Optimismus hernimmt?“, sagte Sam.
„Schaufeln und Mund halten!“, sagte Slinkssons.
Nach kurzer Zeit tauchte Tsin aus dem dichten Schneegestöber auf.
„Nur noch etwa vierzig Meter, sagt er. Wir werden versuchen, die Tiere durch den Schnee zu treiben. Das Schaufeln macht keinen Sinn mehr. Es schneit alles sofort wieder zu.“
Der Schneesturm machte den Tieren nichts aus. Ihr dickes zotteliges Fell wehte im Wind. Vorsichtig trotteten sie durch den Schnee. Ihre kurzen Beine hatten es nicht leicht, aber dank Tsins Zurufen, die mal streng, mal aufmunternd waren, gingen die Tiere unbeirrt voran.
Sie hatten keine Sicht mehr. Es war ein reines Wunder, dass Tsin den Weg durch das Schneegestöber fand, in dem sie ohne jede Orientierung waren. Ein Abgrund oder eine Spalte vor ihnen wäre ihr sicheres Ende gewesen.
Dann ging es nicht mehr bergan, sondern leicht bergab. Es war das Einzige, was Laima in dem weißen Sturm, der um sie herum wütete, spüren konnte. Sie gingen alle dicht hinter den Yaks. Einer nach dem andren, um sich nicht aus den Augen zu verlieren. Einen kurzen Moment stehenzubleiben bedeutete in dieser Situation sofort, den Anschluss zu verlieren.
Sobald die dichte Flockenwand einen geschluckt hatte, war man hoffnungslos verloren. Ohne Weg, ohne Sicht und ohne Kontakt. Abgeschnitten im weißen Nichts des Unwetters, eingeschlossen in der Ausweglosigkeit. Ein Seil, dachte Laima. Aber sie waren so plötzlich vom Sturm überrascht worden, dass sie nicht dazu kamen. Jetzt waren das Tosen des Windes und der Schnee so stark, dass sie einfach weitergehen mussten.
Dann machten die Tiere Halt.
„Wir werden unsere Zelte hier aufschlagen“, schrie Gerold von Stein gegen den Wind an, als sie dicht zusammenstanden. „Es macht keinen Sinn mehr, weiterzugehen. Wir müssen warten, bis das Wetter sich beruhigt.“
„Ist schlimmer als im Dschungel. Hier hilft nicht mal eine Machete“, sagte Sam.
Sie versuchten, so gut es ging, die Zelte anzubringen, ohne dass der Sturm sie ihnen aus den Händen riss. Sam verteilte Gaskocher, Tütensuppen und etwas Trockenfleisch, das Tsins Frau ihnen mitgegeben hatte.
„Nehmen sie Schnee zur Zubereitung der Suppe! Haben wir ja genug hier“, schrie Sam Laima zu, bevor sie alle in ihren Zelten verschwanden. „Schlafen sie aber nicht dabei ein, wenn sie nicht wieder mit dem Zelt abfackeln wollen!“
Der Ausdruck auf seinem Gesicht, als er das sagte, wirkte befremdend auf sie. Oder war es der Sturm, der alles verzerrte?
Als der Gaskocher brannte, wurde es im Zelt schnell warm. Trotz der unguten Erinnerungen an das Feuer der letzten Nacht war Laima dankbar über die angenehme Behaglichkeit des Gaskochers. Sie hatte sich in ihren Thermoschlafsack verkrochen. Das Brausen in ihrem Ohren, das der Sturm hervorgerufen hatte, ließ langsam nach. Draußen fegte der Wind weiter über die Bergkuppe und rüttelte an der Zeltplane.
Sie hatten es gerade, kurz unterhalb des Passes, auf die andre Seite geschafft. Ihre Gedanken wanderten zu den Bildern der letzten Nacht. Das brennende Zelt, die Kinder, die Gestalt, die hinaushuschte. Es war Sam gewesen. War er es auch, der den Anschlag verübt hatte?
Die Suppe war weniger scheußlich, als sie es sich vorgestellt hatte. Und mit dem Trockenfleisch geradezu ein Genuss. Sie spürte all ihre Knochen im Leib, nach dem Tag und der Nacht, die sie hinter sich hatte.
Dann rüttelte etwas an ihrem Zelt, das bestimmt nicht der Wind war. Ihr Herz schlug schneller. Der Reißverschluss öffnete sich.
Thian reichte ihr eine große Tasse Buttertee herein. Mit einem kurzen Nicken, das sie reflexartig erwiderte, verabschiedete er sich eilig. Ein paar Schneeflocken fielen in den Tee und lösten sich darin auf, während sie das Zelt wieder schloss.
Der Tee ließ sie an ihren Traum mit Chang denken. War sie romantisch? Oder war sie im Herzen immer ein kleines Mädchen geblieben, das so naiv war, an die eine große Liebe zu glauben? Warum weigerte sie sich, der Realität ins Auge zu sehen? Es gab diese Liebe nicht! Sie hatte es bei ihren Eltern erlebt. Sie hatte es mit Tooms erlebt. Aber vielleicht sehnte sie sich gerade deshalb so sehr danach? Nach dem, was es nicht zu geben schien.
Der Buttertee breitete sich als wohlige Wärme in ihr aus und entspannte sie so sehr, dass der Schlaf sie übermannte. Sie löschte den Kocher aus und wickelte sich wie eine Raupe in einen Kokon. Das Märchen vom Buttertee hatte sie berührt. Und wenn etwas das Herz berührte, konnte es dann falsch sein?
Als sie am nächsten Morgen aufwachte, war es stockfinster und sie dachte, es sei immer noch mitten in der Nacht. Dann verstand sie, dass ihr Zelt gänzlich eingeschneit war. Als sie es geschafft hatte, den Reißverschluss zu öffnen, fing sie an, sich durch die weiße Wand nach oben zu graben. Sie konnte gerade stehen. Ihr Kopf ragte aus dem Schnee. Es war aber nur eine Verwehung, die sich vor ihrem Zelteingang gebildet hatte. Als sie es aus ihrem Zelt geschafft hatte, ging der Schnee ihr gerade bis zu den Knien. Das Laufen war schwer, aber nicht unmöglich.
Sie stapfte durch den Schnee und hielt Ausschau nach den anderen Zelten. Alles war versunken. Die Zelte waren lediglich als kleine Buckel in der Landschaft zu erahnen. Sie ließ ihren Blick über das makellose Weiß gleiten.
Ein Fleck aus hellem Rot zog unweigerlich ihre Aufmerksamkeit auf sich. Einige Yaks standen eingeschneit und unbeweglich herum. Sie stapfte auf dem Punkt zu, der ihr Interesse geweckt hatte.