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Dann setzten sie auf. Augenblicklich schaltete sich der Bremsschub der Düsen ein. Laima kniff die Augen zusammen und hoffte, die Länge der Landebahn möge reichen.

Der Jet kam zum Stehen.

„Geschafft“, hörten sie es aus dem Lautsprecher knacken, „halleluja!“

 

Als sie ausstiegen, sahen sie, dass sich die Wolken am Mount Everest zu einem Unwetter zusammenschoben.

„Wir werden vor morgen sowieso nirgendwohin weiterfliegen“, sagte Gerold von Stein. „Das Material wird auf eine kleinere Maschine umgeladen, die uns dann auf die andere Seite der Berge bringen wird. Und was morgen für ein Wetter sein wird, werden wir dann sehen.“

„Ich bin erstmal froh, dass wir überhaupt hier angekommen sind“, sagte Professor Carlsen. „Ich hatte zwischendurch schon den Eindruck gewonnen, dies wäre meine letzte Expedition gewesen.“

„Ich könnte erstmal ein heißes Bad vertragen“, sagte Figaro Slinkssons.

„Und Roger eine trockene Unterhose“, sagte Sam und lachte.

„Ich finde das gar nicht komisch“, gab Schüssli beleidigt zurück.

Sie gingen vom Flugplatz die einzige Straße, die es in Lukla gab, zu ihrem Hotel.

„Internet überall“, sagte Sam.

„Und da! Da gibt es Pizza“, sagte Schüssli.

„Dann können wir uns ja heute Abend aussuchen, ob wir zum Griechen oder zum Italiener wollen“, sagte Slinkssons.

„Eine deutsche Bäckerei“, sagte von Stein überrascht.

„Und eine Apotheke“, sagte Professor Carlsen. „Da fährt man ans Ende der Welt und alles ist ein bisschen wie zu Hause.“

 

Das Hotel sah einladend aus. Sie erledigten die Formalitäten, dann wies der Mann an der Rezeption sie auf einen Chinesen hin, der in einer Ecke saß und rauchte.

„Unser Guide“, sagte von Stein.

Der Chinese stand auf und kam auf sie zu.

„Dobre wetscher“, sagte er und reichte von Stein die Hand.

Er war etwas irritiert.

„Pa russkie?“, hakte der Chinese nach.

Gerold von Stein fing an, sich mit ihm auf Russisch zu unterhalten. Nach einer Weile war die Sache zwischen ihnen offenbar klar.

„Spricht noch jemand Russisch?“, fragte er.

„Ich ein wenig“, sagte Professor Carlsen.

„Sie, Laima?“, fragte von Stein.

„Ich muss leider passen. Ich gehöre zu der Generation, die schon kein Russisch mehr versteht.“

„Na ja“, sagte von Stein, „offenbar hat er eine russische Gruppe erwartet. Vielleicht hing es noch mit dem guten Professor Bersinsch zusammen. Wer weiß? Auf jeden Fall haben wir jetzt einen russischen Guide. Er spricht kein Englisch. Und Chinesisch kann, glaube ich, auch keiner von uns.“

Alle schüttelten den Kopf.

„Na gut, seis drum“, sagte von Stein. „Es gibt Schlimmeres. Schließlich wird es für das Nötigste schon reichen.“

 

Laima freute sich über das weiche Bett, das sie auf ihrem Doppelzimmer vorfand, das nur für sie gebucht war.

Nach dem Essen, das schließlich doch in der Pizzeria stattfand und ausgesprochen gut war, beschloss Laima die Gelegenheit zu nutzen und in eines der Internetcafés zu gehen, um Chang eine E-Mail zu schreiben.

 

 

Lieber Chang,

 

es ist so seltsam, dir zu schreiben. Wir sind uns noch nie begegnet und doch fühle ich mich dir so nahe wie niemandem sonst. Es sind seltsame Dinge geschehen in den letzten Tagen und ob du es glaubst oder nicht, bin ich dir tatsächlich näher als je zuvor. Ich befinde mich zurzeit am Mount Everest und wir brechen morgen nach China, besser gesagt nach Tibet, auf. Es ist so schade, dass wir nicht die Gelegenheit haben werden, uns zu sehen, aber ich befinde mich auf einer wichtigen Expedition.

Wo soll ich nur anfangen? Vor einigen Tagen habe ich mich von Tooms getrennt und war bei meiner Mutter, als Professor Bersinsch sich bei mir meldete. Ich habe dir von ihm geschrieben. Er ist mein Lieblingsprofessor. Er wollte mir eine seltene Steinscheibe zeigen, die er unter dem Dom gefunden hat. Er hatte zufällig den Zugang vom Keller des Museums, in dem er arbeitet, zu einer Kammer unterhalb des Altars entdeckt.

Als wir dort ankamen, war die Scheibe verschwunden. Es war eine eigenartige Scheibe. Er meinte, sie könne die Form eines Ufos haben. Sie sei der letzte Hinweis auf die Quelle der Weisheit, die er hier im Himalaya am Kailash vermutet. Dasselbe sagt auch Professor Carlsen, der mit Professor Bersinsch zusammen geforscht hat.

Ich weiß gar nicht, wie ich dir weitererzählen soll, was passiert ist. Die Ereignisse haben sich überschlagen. Professor Bersinsch wollte, dass ich für ihn mit Professor Carlsen zusammen auf die Suche nach der Quelle allen Wissens gehe. Alles war schon organisiert. Professor Bersinsch ist leider sehr krank. Er sagte auch, seine Krankheit sei kein Zufall.

O je, ich hoffe, du verstehst irgendetwas von dem, was ich hier schreibe. Ich verstehe ja selbst nicht alles.

Ich kam von Professor Bersinsch zurück nach Hause, also zu meiner Mutter. Da war die Polizei da! Und sie haben Drogen gefunden und mich verdächtigt. Kannst du dir das vorstellen? Ich musste abhauen, sonst hätten sie mich eingesperrt. Dann bin ich zu meiner Mutter, die im Koma lag, weil sie einen Unfall hatte, der kein Unfall war.

Da haben dann zwei bewaffnete Typen auf mich gewartet. Echt grobe Kerle. Sie haben mich verfolgt und auf mich geschossen. Mir wird noch ganz anders, wenn ich daran denke. Das ist gerade drei Tage her. Und jetzt sitze ich hier im Internetcafé am Mount Everest.

Die Typen haben mich dann am Flughafen abgepasst. Aber ich war gut verkleidet. Mein Vater arbeitet doch in der Oper. Aber sie haben ihn an seinem durchdringenden Bass erkannt.

Ich habe es irgendwie ins Flugzeug geschafft. Frag mich nicht wie. Dann tauchten die Typen trotzdem wieder auf. Tot.

Getötet auf grausame Art. Als hätte ein riesiges Tier sie gerissen. Unter ihnen lag eine Bombe. Offenbar wollten die uns, das heißt mich, Professor Carlsen und die restlichen Expeditionsteilnehmer, in die Luft jagen.

Selbst Gerold von Stein, unser Sponsor, ist aus Sorge früher als geplant mit uns aufgebrochen. Aber was kann an dieser Expedition so wichtig sein, dass man sie mit allen Mitteln verhindern will? Dass meine Mutter deswegen im Koma liegt? Was könnten wir finden, was wir nicht finden sollen?

Ich habe Angst. Ich sage es dir ganz offen. Selbst wenn die beiden Killer tot sind, habe ich schreckliche Angst.

 

Ich umarme dich, lieber Chang,

Laima

 

 

Als sie aus dem Internetcafé kam, hatte sich bereits die Dunkelheit über die Berge gelegt. Nebel zog auf. Sie folgte dem fahlen Licht der Straßenlaternen.

Das Hotel leuchtete freundlich und einladend. Es lag allein stehend am Hang. Sie hörte lautes Lachen, als sie den Eingangsbereich betrat. Von Stein, Slinkssons, Sam und Schüssli saßen mit Professor Carlsen und dem chinesischen Guide um einen Tisch. Professor Carlsen und der Guide rauchten. Eine fast leere Flasche Schnaps stand auf dem Tisch und die Gläser zeugten davon, dass alle sich mehr oder weniger daran beteiligt hatten.

„Sie rauchen?“, sagte Laima überrascht.

„Seit fünfundzwanzig Jahren nicht mehr“, antwortete Professor Carlsen. „Aber da ich heute die Engel gesehen habe, die mich abholen wollten, gönne ich mir eine Zigarette. Eine Zigarre haben wir ja leider nicht, also genehmige ich mir zur Feier des Tages einen dieser köstlichen russischen Sargnägel, den ich mir von unserem Freund Thian geschnorrt habe. Ich möchte dann doch lieber selbst meine Kiste zunageln, als mich von so einem leichtsinnigen Piloten an die Felsen klatschen zu lassen. Nehmen sie es mir bitte nicht übel, Herr von Stein, ihr Pilot in allen Ehren.“

Sam ‚The Rock’ Jackson schlief mit verschränkten Armen in einem Sessel.

Roger Schüssli hatte mehr Gesichtsfarbe, als ihm guttat. „Setzen sie sich doch zu uns“, sagte Professor Carlsen und blies den Rauch unachtsam in ihr Gesicht. „Wir dachten schon, einen Suchtrupp nach ihnen loszuschicken. Dachten, sie wären in dem dichten Nebel abhandengekommen. Aber dann war es so gemütlich hier, dass wir dachten, sie finden den Weg bestimmt alleine.“

„Das sehe ich, wie sie sich hier Sorgen um mich machen.“

Thian rauchte eine nach der anderen und wechselte ab und zu einige Worte mit Professor Carlsen, der offenbar den Löwenanteil der Flasche zu sich genommen hatte und am redseligsten von allen war.

„Wenn sie sich an die Höhenluft gewöhnen wollen, gibt es nichts Besseres, als ihr Blut ordentlich mit Schnaps zu verdünnen. Das steigert die Fähigkeit des Blutes, Sauerstoff aufzunehmen“, sagte er.

„Ist das ein medizinischer Ratschlag oder sind sie bereits unter die Schamanen gegangen?“, fragte Slinkssons.

„Nur als Arzt unter uns Medizinern natürlich, mein Lieber.“

„Ich gehe jetzt zu Bett“, sagte von Stein, der trotz der Ausgelassenheit unter einer unmerklichen Anspannung zu stehen schien, die Laima ebenfalls spürte. „Vielleicht sollten wir alle schlafen gehen“, fügte er hinzu.

„Das ist eine gute Idee“, begrüßte Figaro Slinkssons von Steins Vorschlag.

„Dann nehme ich mir noch den Rest hier mit und putze mir damit die Zähne“, sagte Professor Carlsen und klemmte sich die Flasche unter den Arm. Mühsam erhob er sich aus seinem Sessel. „Odin Sigarett, pascholsta“, sagte er zu Thian. „Eine Kippe noch, damit der Sargdeckel auch bis morgen früh nicht von alleine aufklappt.“

 

Alle verteilten sich auf ihre Zimmer. Da es Nebensaison war, war das Hotel fast leer. Es gab Zimmer im Erdgeschoss und im ersten Stock. Bis auf Laima waren alle unten einquartiert und sie war froh, möglichst weit von schnarchenden und betrunkenen Männern entfernt zu sein.

Das Bett kam ihr noch weicher vor als vor wenigen Stunden. Sie zog sich aus und fiel wie ein Stein zwischen die frischen Laken, die nach Höhenluft und Sonne dufteten. Sie dachte an Chang und ein leichtes Ziehen im Bauch verschaffte ihr ein angenehmes Gefühl, über das sie in einen tiefen, traumlosen Schlaf sank.

 

 

Es dauerte nicht lange und eine fast absolute Ruhe hatte sich ausgebreitet. Nur das leicht unruhige Herumwälzen einiger Leiber und das gelegentliche Schnarchen waren zu hören.

Das leise Quietschen eines Holzfensters im Erdgeschoss war kaum wahrzunehmen, als sich kurz darauf eine dunkle Gestalt hinausschwang. Nach wenigen Schritten über die knirschenden Kiesel hatte der Nebel sie bereits geschluckt. Sicheren Schrittes und mit untrüglicher Orientierung bewegte sich der schwarze Schatten hinunter zum Rollfeld des Flugplatzes. Da nur zwei Maschinen neben einem leeren Hangar standen, war es nicht schwer, das gesuchte Ziel zu finden. Die Wetterbedingungen konnten besser nicht sein. Es war geradezu wie ein Tarnumhang. Selbst der schwache Schein der Taschenlampe sollte nicht mehr als anderthalb Meter zu sehen sein.

Das Licht der abgeklebten Lampe leuchtete ins Innere der kleinen Maschine, die neben dem Jet stand. Zwei Paletten mit Ausrüstung waren bereits im Laderaum des Propellerflugzeugs vertäut. Die Beleuchtung sollte niemanden wecken, der vielleicht zufällig im Flieger schlief. Vorsichtig untersuchte die Gestalt alles und leuchtete auch die Pilotenkabine aus. Es kam häufig vor, dass die Piloten der kleinen Maschinen, die oft ihr ein und alles waren, ihre Lebensgrundlage, sie hüteten wie ihren Augapfel. Aber niemand war zu sehen.

Dann wurde mit einem kleinen Draht und einem dünnen Schraubenzieher das primitive Schloss der Seitentür geöffnet. Im Cockpit flackerte kurz der Schein der Lampe, als sie hingestellt wurde. Mit schnellen, präzisen Bewegungen wurden die Schrauben am Armaturenbrett gelöst.

Alles war bereits zum Einbau vorbereitet. Die ferngesteuerte elektronische Überbrückung. Dann noch eine weitere kleine Manipulation. Es war so einfach und würde so effizient sein. Selbst wenn man die Spuren finden würde, wäre es längst zu spät. Niemanden würde das noch retten. Die Schrauben waren schnell wieder festgedreht, die Armaturen und Knöpfe in Ordnung. Alles war wieder an seinem Platz.

Die schwarze Gestalt tauchte ins Dunkel des Laderaums. Es dauerte eine Weile, dann war auch dort alles vorbereitet. Das Flugzeug wurde wieder verschlossen und die entwendete Tasche geschultert. Jetzt konnte niemand mehr entkommen.

 

 

 

Die Wesen
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