19
Die Stelle im Schnee war tief und groß. Ihre roten Ränder hatten sich mit Blut vollgesogen. Dann sah sie es. Das große Tier war tot. Die Bauchdecke des Yaks war aufgerissen. Seine Eingeweide quollen heraus. Die Zunge hing schlaff aus dem Maul.
Sofort waren die Bilder der zwei toten Männer bei Bione da. Der Dropaolat. Zerfetzt, zerfleischt und von Geiern zerteilt. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Was war es, das sie verfolgte? Was wollte es? Wann würde es sie selbst erwischen? War es noch in ihrer Nähe? Sie sah sich um. Spuren gab es keine.
Sie sah, wie Gerold von Stein seinen Kopf aus dem Schnee reckte.
„Schnell, kommen sie“, rief sie. „Es hat wieder zugeschlagen!“
Mühsam kämpfte er sich zu ihr.
„O Gott! Ist es wieder da? Ist es das, was wir glauben?“
„Ich denke schon“, sagte Laima.
„Der Kadaver ist kaum angerührt. Ging es wieder bloß ums Töten?“
„Aber mit welcher Absicht? Und wenn es darum ginge, uns zu erwischen, hätte es doch mehr als genug Gelegenheiten dazu gegeben“, sagte Laima.
Er zuckte mit den Schultern. Dann streckte Tsin seinen Kopf ans Tageslicht. Intuitiv spürte er, dass etwas nicht in Ordnung war. Er stolperte durch den Schnee. Dann blieb er wie angewurzelt stehen, als er das tote Yak sah.
Thian und die anderen kamen.
„Was ist los?“
Tsin redete auf Thian ein.
„Tsin sagt, ein Wolf habe das Yak heute Nacht angefallen“, sagte von Stein.
„Das war doch kein Wolf“, sagte Sam.
„Was weißt du schon von Wölfen. Könntest ihn wahrscheinlich nicht mal von einer Kuh unterscheiden, wenn du ihn siehst“, sagte Slinkssons.
„Ach, halt doch den Mund.“
„Kinder, Kinder, meine Lieben, so früh am Morgen wollen wir doch nicht streiten“, sagte Professor Carlsen. „Ist es denn schlimm?“
„Als Arzt sollten sie doch sehen, dass es tödlich ist. Das sehe selbst ich als Koch.“
„Natürlich sehe ich, dass das Tier tot ist. Ich meine, wird es für uns ein großer Verlust sein?“
Gerold von Stein wandte sich an Thian, der Tsin fragte.
„Er meint, wir können die Sachen umpacken, dann sollte es kein Problem sein.“
„Hast ja noch mal Schwein gehabt, Schüssli, sonst hätten wir dich als Packesel genommen. Auf allen Vieren, das kannst du ja.“
„Sehr witzig, Sam. Pass lieber auf, dass dir bei deinem Sinn für Humor nicht bald die Eier abfallen.“
„O hört, hört“, sagte Sam, „der kleine Rote kann ja richtig giftig werden. Hätte ich mir doch bei der Haarfarbe denken können, dass das kein Mimikry ist.“
„Mimi... was?“, fragte Slinkssons.
„Vortäuschen von Giftigkeit zum Beispiel, indem man das Aussehen verwandter, wirklich giftiger Arten nachahmt“, sagte von Stein.
„He, Koch, wusste gar nicht, dass du auch Biologe bist“, sagte Slinkssons.
„Ist nicht jeder so dumm, wie er aussieht, was?“
„Wir bepacken die Tiere und dann machen wir uns nach dem Frühstück an den Abstieg“, sagte von Stein.
Figaro Slinkssons, Sam und Schüssli schaufelten einen Kanal vor der Gruppe frei. Mit einigem Abstand trieb Tsin langsam die Yaks an. Hinter den Yaks gingen Professor Carlsen, von Stein und Laima.
„Hat Tsin wirklich gesagt, dass es ein Wolf war, oder haben sie es so weiterübersetzt?“, fragte Laima.
„Trauen sie mir vielleicht nicht?“, sagte von Stein.
„So habe ich das nicht gemeint“, sagte Laima.
„Was meinen sie denn überhaupt?“, fragte Professor Carlsen. „Was wollen sie damit sagen, dass es kein Wolf sein könnte?“
„Tsin ist davon überzeugt, dass es ein Wolf ist“, sagte von Stein. „Zumindest hat er nicht erwähnt, dass es ein Hungergeist gewesen sein könnte.“
„Was soll es denn, außer einem Wolf, sonst sein?“, fragte Professor Carlsen.
„Ist ihnen nicht aufgefallen, dass bereits die zwei toten Bombenattentäter in meiner Firma Bissverletzungen hatten?“
„Hm, sie meinen es war ein Tier?“
„Eben nicht!“, sagte Laima.
„Was denn nun? Ich verstehe nicht, worauf sie hinauswollen. Es gab Verletzungen, die ungewöhnlich waren. Aber was sollen die mit dem Tod zu tun haben?“
„Wie meinen sie das?“, fragte Laima. „Sie haben doch gesagt, dass die Verletzungen nicht künstlich hervorgerufen wurden. Waren es denn keine Bisswunden, die wir gesehen haben?“
„Ich weiß nicht, was sie gesehen haben, aber Bisswunden ...“, sagte Professor Carlsen.
Laima ging schweigend weiter. Warum wollte Professor Carlsen darüber nicht reden? Warum tat er so, als sei alles anders gewesen, als sie es alle gesehen hatten? Oder wollte er nur vor von Stein nicht weiter über das Thema reden? Verschwieg er ihm bewusst etwas?
Sie kamen gut voran. Laima schaufelte jetzt mit von Stein und dem Professor. Der Schnee wurde immer weniger. Bald sahen sie, dass unterhalb von ihnen das Schneefeld endete.
Es ging ihr nicht aus dem Kopf, was der Professor gesagt hatte. Was war hier los? Sie verstand es nicht. Es machte keinen Sinn. So sehr sie sich auch bemühte, einen Sinn zu finden. Alles wurde nur unklarer.
Kurz darauf stießen sie auf die graue und schneefreie Fläche, die sich vor ihnen ausbreitete.
Es war für alle eine Erleichterung. Tsin trieb die Yaks vor ihnen her. Laima kam es ohne den Schnee wie ein Spaziergang vor. Die Gruppe war ausgelassen. Der seltsame Einwand des Professors verblasste.
Dann nahm Laima aus dem Augenwinkel etwas wahr. Es war eine Bewegung, die ihre Aufmerksamkeit erregte. Als sie hinsah, konnte sie aber nichts Ungewöhnliches entdecken.
Dann wieder. Ein Umriss löste sich aus dem Grau der Steine. Er bewegte sich schnell. Dann noch einer. Und noch einer.
„Dort. Seht doch! Wölfe!“
Dann sahen die anderen es auch.
„Wir sind umzingelt von einem Rudel Wölfe!“, schrie Schüssli. „Holt das Gewehr raus!“
Tsin hatte es ebenfalls bemerkt. Die Wölfe bewegten sich schnell und kamen auf sie zu.
„Alle Sachen sind auf den Yaks! Das Gewehr auch.“
„Sie schneiden uns den Weg ab!“
„Aber sie haben es nicht auf uns abgesehen. Sie wollen die Yaks!“
„Wir können nichts machen“, sagte Schüssli. „Und ich schmeiß mich bestimmt nicht dazwischen, wenn es darum geht, ein paar Rinder zu retten.“
„Dass du kein Held bist“, sagte Sam, „haben wir schon lange verstanden.“
„Und Tsin? Was macht er?“
„Der hilft sich gerade selbst!“
„Aber doch nicht mit einer Steinschleuder?“
„Damit macht er die Wölfe doch nur wütend!“
Die Yaks fingen an, nervös zu werden. Die Wölfe kamen immer näher.
„Das bringt doch nichts. Mit einer Steinschleuder gegen Wölfe!“
Tsin zielte.
„Nein, er hat einen getroffen.“
„Da, jetzt haben sie eines der Yaks von der Gruppe getrennt. Sie treiben es auf den Abgrund zu.“
„Die sind wirklich nicht dumm.“
„Sie haben es umkreist.“
„Tsin scheint ziemlich wütend. Er läuft zu ihnen hin.“
„Das macht sie unruhig. Sie wollen das Yak haben.“
„Tsin ist zu dicht dran, Mann. Das ist gefährlich.“
Die Tiere zogen sich immer enger um das Yak am Abgrund zusammen. Tsin schaffte es nicht, sie auseinanderzutreiben.
„Jetzt bricht das Yak aus!“
„Nein, es schafft es nicht. Die Wölfe wollen es packen. Sie versuchen es von hinten, aber es steht mit dem Rücken zum Abgrund.“
„Jetzt beißt einer in seine Kehle. Uhh!“
„Wie will er dass denn bei dem dicken Fell schaffen?“, sagte Sam.
„Die anderen Yaks kommen ihm zur Hilfe!“
„Sie vertreiben die Wölfe.“
„Bis auf einen!“
„Ay, jetzt hat das Yak den Wolf mit den Hörnern erwischt. Nochmal! Es spießt ihn regelrecht auf.“
„Das Yak ist aber richtig sauer.“
„Wäre ich auch“, sagte Schüssli.
„Jetzt tritt es den Wolf.“
„Der schafft es gar nicht mehr auf die Beine.“
„Kann einem schon fast leidtun der Arme.“
„Jetzt kommt Tsin dazu.“
„Sie fletschen die Zähne und wollen ihn nicht ranlassen. Sie geben nicht auf.“
„Doch! Jetzt kneifen sie den Schwanz ein und hauen ab. Puhh.“
„Ich dachte schon, das geht schlecht aus“, sagte Slinkssons.
„Also doch ein Wolf!“, sagte Laima zu Professor Carlsen.
„Also doch, meine Liebe!“
„Den kann man nicht mal mehr zu einem Pelz verarbeiten“, sagte Slinkssons, als sie um den toten Wolf herumstand. „So wie der durchlöchert ist.“
„Sieht ja widerlich aus“, sagte Schüssli. „Das Yak hat ihn echt übel erwischt.“
„Nicht wieder übergeben, Kleiner. Reiß dich zusammen!“
Tsin trieb die Yaks an und der Abstieg ging weiter. Das Gelände wurde immer flacher, bis sie schließlich in der Ebene angekommen waren.
„Das ist ja Sand“, sagte Laima.
Vor ihnen breiteten sich weiße Dünen aus.
„Ich dachte von oben, es sei Schnee.“
„Ich hoffe, dass wir jetzt nicht noch eine Wüstendurchquerung vor uns haben?“, sagte Sam.
„Keine Angst. Tsin sagte, das kleine Dorf sei nicht weit. Es liegt nur am Rand der Wüste.“
„Na, da bin ich ja beruhigt“, sagte Sam. „Trekking ist eine Sache, aber Wüste ...“
„Es gibt sogar Kamele hier“, sagte von Stein. „Die einzige Salzwasser trinkende Art der Welt.“
„Super! Wenn man selbst schon lange verdurstet ist, kommen die Kamele munter mit unseren verdörrten Kadavern auf dem Rücken auf der andren Seite der Wüste wieder raus.“
„Immer wieder unser guter alter Slinkssons. Wie werde ich den wohl vermissen!“
Sie marschierten durch den weichen Sand am Rande der Wüste. Es war ermüdend, aber es gab keinen anderen Weg. Dann tauchte vor ihnen das Dorf auf.
„Osiang Lu!“, sagte Tsin.
„Das soll ein Dorf sein? Das ist eine Hütte und eine paar Benzinfässer“, sagte Sam. „Und natürlich Internet. Steht ja fett oben drauf.“
Laimas Herz schlug höher. Hatte Chang ihr geantwortet? Sie war selbst überrascht, wie stark das ziehende Gefühl in ihrem Bauch war. Die Vorfreude, vielleicht eine Nachricht von ihm zu haben. Wer war ihr sonst noch geblieben? Ihre Mutter, die im Koma lag. Ihr Vater und Professor Bersinsch. Sie fühlte sich auf ein Mal sehr allein.
Der alte Einsiedler, der gleichzeitig einziger Bewohner, Bürgermeister und bester Kunde seiner eigenen Schnapsbrennerei in einer Person war, kam bereits neugierig aus seiner Bude, als sie kaum in Sichtweite waren.
Seine Fahne und der Gestank nach Tabak schlugen ihnen schon von Weitem entgegen.
Er bot ihnen als Erstes seinen Schnaps an und freute sich, in Professor Carlsen einen echten Kenner zu finden. Thian war hauptsächlich an seinen Zigaretten interessiert.
Die Maschine mit dem chinesischen Händler war im Laufe des Tages zu erwarten.
Von Stein versuchte über Thian dem alten Einsiedler vergeblich klarzumachen, dass auch sie ein Flugzeug benötigten. Es interessierte ihn aber wenig. Er nahm die Gesellschaft von Professor Carlsen zum Anlass, noch mehr zu trinken, als er es sonst schon tat.
Thian rauchte Kette.
Von Stein, Sam und Slinkssons halfen Tsin beim Abladen der Yaks. Dann setzten sie sich vor die Hütte in die Sonne, um sich auszuruhen.
Laima nutzte die Gelegenheit und rief ihre E-Mails ab. Zwei neue Nachrichten. Keine von Chang. Sie war enttäuscht und merkte, wie es ihrem Herzen einen Stich versetzte. Warum war er ihr so wichtig geworden? Warum steigerte sie sich da nur so rein? Sie kannte ihn doch gar nicht. Sie war sauer auf sich selbst und fühlte sich so hilflos und unselbstständig. Warum machte sie sich wieder abhängig davon, ob er ihr antwortete? Sie hatte mit Tooms gerade eine Abhängigkeit hinter sich gelassen und klammerte sich sofort an eine neue. Eine, die noch traumtänzerischer war als die andere. Sie hätte sich genauso gut in einen Stoffteddybären verlieben können. Sie ärgerte sich.
Eine Nachricht war von Professor Bersinsch. Das ließ ihr Herz wieder in anderer Weise höher schlagen. Und eine war von ihrem Vater, was sie verwunderte, weil er ungern Mails verschickte. Allerdings blieb ihm auch keine andre Wahl, um sie hier, am Ende der Welt, zu erreichen.
Sie öffnete zuerst die von Professor Bersinsch. Vielleicht ging es ihm besser. Sie würde ihm schreiben, was sie alles bereits entdeckt hatten. Von den Dropa, ihren Legenden, der Stadt der Götter, die vor ihnen noch niemand zu Gesicht bekommen hatte. Und die Abenteuer. Wie sie mehrfach fast zu Tode gekommen waren. Es erschien ihr schon wie ein Traum.
Sie klickte mit der Maus auf „Öffnen“. Im Hintergrund grölte der Einsiedler und holte eine neue Flasche seines Selbstgebrannten. Vielleicht war es nur Benzin, das er einfach aus den Fässern hinter der Hütte zapfte. Zumindest roch es so, dachte Laima.
Laima,
es freut mich wirklich, dass du auf diese Reise gegangen bist. So bist du weit, weit weg und ich muss dich nicht ertragen. Ich habe eine sehr traurige Mitteilung zu machen. Dein geliebter Professor Bersinsch wird es nicht schaffen. Er ist jetzt bald auf dem Weg zu den übrigen Schrumpfköpfen ins Nirvana, in die ewigen Jagdgründe, ins Himmelreich. Schade, schade!
Jetzt muss ich leider seinen Posten übernehmen und bin kommissarische Leiterin der ethnologischen Fakultät. Es kann nicht mehr lange dauern und ist nur noch reine Formsache, bis ich die Professur bekomme.
Endlich! So lange habe ich gewartet, dass der alte Schwachkopf mit seinen verworrenen Theorien das Feld räumt. Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin und was für eine Freude es ist, dass du mir nicht länger in die Quere kommen kannst. Hätte ich das gewusst, hätte ich mich damals gar nicht so aufgeregt, dass du diese Reise ins ferne Tibet machst. Dafür möchte ich mich wirklich in aller Form und aus tiefstem Herzen bei dir entschuldigen. Allerdings wäre es gar nicht schlimm, sollte dir doch was zustoßen. Dein Gesicht nicht mehr wiedersehen zu müssen, wäre mir eine Freude!
Also Hals- und Beinbruch!
Ach und das mit deiner Mutter tut mir schrecklich leid.
Kommissarische Leiterin
Professorin Dace Augstmane
Laima war schockiert. Sie wusste nicht, was sie mehr betroffen machte. Der bevorstehende Tod von Professor Bersinsch oder die ekelhafte Selbstzufriedenheit, mit der sich Dace in geschmackloser Weise darüber freute. Sie war wie benommen. Alles rauschte in ihrem Kopf. Sie hatte sich so auf eine paar Worte des Professors gefreut. Jetzt würde sie vermutlich nie wieder von ihm hören. Und ihm nie mehr von den Ergebnissen der Reise berichten. Seines Lebenswerks, das er nicht mehr zu Ende bringen konnte.
Tränen rannen ihr die Wangen hinunter. Aus Trauer, aber vor allem aus Wut darüber, wie er mit Füßen getreten wurde. Sie hatte ja gewusst, dass sein Zustand hoffnungslos war, aber etwas tief in ihr hatte immer noch geglaubt. Sie dachte an den letzten Moment, als sie sich umarmt hatten. Es war ein Abschied für immer gewesen.
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dieser Ort und das Gelage hinter ihr machten sie auch traurig. Es schien ihr so wenig angemessen, das Andenken an einen so warmherzigen und aufrechten Menschen gebührend zu würdigen. Aber die anderen konnten ja nicht wissen, was gerade in ihr vorging.
Dann öffnete sie die Nachricht von ihrem Vater.
Eine dunkle Vorahnung schob sich wie eine schwarze Wolke vor ihre Augen, als sie die Worte las:
Liebste Laima,
gerne hätte ich dir etwas anderes geschrieben. Etwas Fröhliches, eine Erinnerung aus alten Zeiten, denn sie sind das Einzige, das uns jetzt noch bleibt.
Mutter hat es nicht geschafft. Ihre Kollegen haben alles versucht, aber heute Morgen ist sie von uns gegangen.
Laima verstand die Worte nicht. Sie las sie erneut und sie machten wieder keinen Sinn. Was sollte das bedeuten? Ihr Verstand sperrte sich gegen den Inhalt, den sie vermittelten. Sie sperrte sich gegen ihren Zusammenhang, gegen das, was ihr Vater ihr sagen wollte. Der schwarze Schleier wurde zu einer Wand. Die Geräusche des Hintergrunds waren verschwunden. Sie war allein in einem Raum. Gefangen, auch wenn sie frei war. Sie war gefangen in einem Gefühl. Dieser Käfig war wie eine Falle zugeschnappt. Sie konnte ihm nicht mehr entkommen. So sehr sie auch versuchte, sich dagegen zu wehren, es half nichts. Die Gitterstäbe hatten sie geschluckt. Je mehr ihr Verstand sich sträubte, je mehr sie sich bewusst war, dass sie eben noch nicht in diesem Käfig festsaß, um so mehr war ihr klar, dass sich gerade alles geändert hatte. Ohne Ausweg. Sie bekam keine Luft mehr, zog ihren Pullover aus und lief nach draußen. Sie taumelte. Schnappte nach Sauerstoff.
„Was ist los, Laima? Sie sind so blass. Was ist passiert?“
Von Stein hatte ihr stützend unter den Arm gegriffen.
„Setzen sich erst mal hin! Slinkssons, holen sie einen Schluck Wasser, schnell.“
Laima setzte sich hin.
„Atmen sie tief durch. Ganz ruhig. Einfach ein und aus.“
Sie versuchte, ihren Blick in die Weite der Wüste zu richten. Langsam atmete sie tief ein. Ein schrecklicher Druck in ihrem Kopf ließ das Bild verschwimmen.
„Atmen“, hörte sie von Steins Stimme.
Dann drückte ihr jemand ein Glas in die Hand.
„Trinken sie etwas!“
Laima spürte, wie jemand ihr das Glas an die Lippen hielt. Ihr Arm war schwach und zitterte bei dem Versuch, das Glas selber zu halte.
Sie trank. Die kalte Flüssigkeit fühlte sich fremd an in ihrem Körper. Als sei ihr Körper nicht sie selbst. Als beobachtete sie sich von der Seite. Als spürte sie sich selbst nicht mehr. Was war sie? Wer war sie?
Ihre Mutter war tot.
Sie konnte nichts mit diesem Satz verbinden, dennoch tauchte er auf. Und verschwand wieder.
Sie wurde von einem lauten Propellergeräusch wach.
„Was ist passiert?“
„Sie sind ohnmächtig geworden“, sagte von Stein. „Mein Beileid. Ich habe ihre E-Mail auf dem Schirm gelesen.“
„Mein Beileid“, sagte auch der Professor, der, über sie gebeugt, gerade nach ihrem Puls tastete.
„Ja, danke“, antwortete Laima.
Sie fühlte sich seltsam. Sie konnte ja nichts dafür, dass ihre Mutter tot war.
„Kommen sie mit rein. Die Maschine wirbelt zu viel Staub auf.“
Von Stein und Slinkssons stützten sie.
Ihr wurde schlecht vom Tabak- und Schnapsgeruch, der in der kleinen Hütte hing.
„Wir haben schon besprochen, dass wir mit der Maschine, die mit dem chinesischen Raupenhändler gelandet ist, weiterfliegen werden. Eine andre Maschine holt ihn dann morgen ab. Wir werden Richtung Manasarovarsee fliegen und endlich zum Kailash vorstoßen. Vielleicht muntert sie das ein bisschen auf.“
„Professor Bersinsch geht es schlecht. Er wird es nicht mehr schaffen“, sagte Laima.
Alle schwiegen.
„Wir werden diese Expedition und alle seine Entdeckungen in seinem Namen machen und ihm zu Ehren widmen“, sagte von Stein. „Ist das im Sinne aller Mitglieder? Schließlich wäre es ohne ihn nie zu dieser Reise gekommen!“
Alle nickten.
„Dann verkünde ich hiermit offiziell, dass die ‚Professor-Bersinsch-Expedition’ sich nun auf die letzte große Etappe begeben wird. Verladet die Sachen, wir brechen auf!“