6

 

Sie schreckte hoch. Die Umgebung war ihr fremd. Sie lag im Sitz eines Flugzeugs. Es roch nach frisch gebrühtem Kaffee.

„Guten Morgen, meine Liebe“, sagte Professor Carlsen, reichte ihr eine Tasse Kaffee und setzte sich in den Sessel neben Laima. Sie brauchte einige Zeit, um ihren Albtraum abzuschütteln.

„Alle sind schon auf den Beinen. Wir sind bereits im Landeanflug auf Kathmandu.“

„Kathmandu?“

„Von hier aus geht es weiter nach Tibet.“

„Was genau ist eigentlich unsere Aufgabe bei dieser Expedition, Professor?“

„Eine Ethnologin und ein Arzt sind schon mal grundsätzlich nicht verkehrt auf so einer Reise. Aber die Höhlen, von denen Gerold sprach, könnten auch für uns interessant sein. Wir werden Ausschau nach allen Spuren und Hinweisen halten, die uns zur Quelle allen Wissens führen könnten.“

„Bitte alle anschnallen“, sagte von Stein, dessen unversehrter Anblick Laima nach ihrem schrecklichen Traum erleichterte.

 

„Trotz Monsunzeit strahlendstes Wetter“, sagte Professor Carlsen, als sie in Kathmandu mitten auf dem Rollfeld ausstiegen. Sie mussten sich zum Glück nicht mit den anderen Passagieren und Rucksacktouristen durch das Gewühl und Gedränge am Terminal quälen, sondern wurden durch einen separaten Ausgang geschleust.

„Unsere Maschine wird zwar nur aufgetankt“, sagte von Stein, als sie vor dem Airport Kathmandu standen, „das kann hier allerdings schon mal einen halben Tag dauern. Also werden wir uns einen kleinen Ausflug in die Hauptstadt nicht entgehen lassen.“

Sie fuhren mit zwei Taxis. Bald schon drängten sich neben ihnen Motorräder und abenteuerlich bepackte Dreiräder, auf denen sich Hühnerkäfige, Kartons und Säcke stapelten, in einem lärmenden und staubigen Konvoi in die Stadt hinein. Die Straßen wurden immer enger. Fußgänger mischten sich in den zäher werdenden Verkehr. Als das Taxi schließlich gänzlich darin stecken blieb und sich nicht mehr von der Stelle rührte, beschlossen sie auszusteigen.

„Willkommen auf dem Dach der Welt“, sagte von Stein.

„Mehr der Arsch der Welt“, sagte Slinkssons, der aus dem Taxi hinter ihnen stieg, „so wie es hier stinkt.“

Die schmalen, kleinen, zwei- bis dreistöckigen Häuser waren mit kunstvollen Holzschnitzereien versehen. Die Abgase des Verkehrs vermochten trotzdem nicht, gegen den Duft der Gewürze auf den Tischen der Händler anzukommen. Freundlich lächelte man ihnen zu. Manche starrten sie an.

„Ein seltsames Gefühl, Ausländer zu sein, oder?“, fragte Figaro Slinkssons Laima.

„Jetzt seht ihr mal, wie es mir geht. Und das die ganze Zeit“, sagte Sam. „Nirgends kannst du dich verstecken. Überall verrät dich deine Hautfarbe.“

Sie gingen durch eine schmale Gasse zwischen den Häusern und landeten auf einem Platz, der voller Menschen war.

Der Singsang eines Flötenspiels drang aus der Mitte einer Menschentraube. Mühsam schoben sie sich hindurch, um auch einen Blick auf das Schauspiel zu werfen, das sich in seinem Zentrum verbarg.

„Ein Schlangenbeschwörer“, sagte Sam.

„Nichts für mich“, sagte Schüssli und drehte wieder um.

Die Kobra wiegte sich zu den hypnotischen Klängen der Flöte des Schlangenbeschwörers hin und her.

„Wenn die zubeißt“, sagte Laima.

„Schauen sie von der Seite. Er sitzt viel zu weit weg, als dass sie ihn erwischen könnte. Völlig harmlos“, sagte Slinkssons.

„Wie schafft er es bloß, dass sie ihm gehorcht?“, fragte Sam. „Sind es die Töne, die er spielt?“

„Sicher nicht“, antwortete Slinkssons.

„Die Pendelbewegungen seiner Flöte?“, fragte Laima.

„Schon besser, aber achten sie auf sein Knie. Es ist sein Knie, das sich hin und her bewegt und eine andere Kobra imitiert. Sonst würde sie in der Pose nicht so lange verweilen. Sie denkt, sie steht einem Gegner gegenüber.“

„Ein bisschen traurig ist das schon“, sagte Laima.

„Eine Schande! Das arme Reptil so zu quälen“, sagte Professor Carlsen, der seinen dicken Bauch durch die Menge schob.

„Gehen wir weiter?“, sagte von Stein.

Sie mussten sich bei der nächsten Darbietung nicht durch die Menschen hindurchdrängen. Alle standen im Halbkreis um einen schwarzgekleideten Magier mit Turban, der vor einer Hauswand sein Kunststück vorführte.

Er hielt eine kleine leere Limonadenflasche aus durchsichtigem Glas in der einen Hand und streckte sie in die Höhe, um sie zu präsentieren. Er drehte sie um, um zu beweisen, dass sie gänzlich leer war. Dann erschien in seiner anderen Hand, wie aus dem Nichts, ein runder roter Kronkorken. Er hielt ihn zwischen zwei Fingern und zeigte auch diesen ausgiebig seinem Publikum von beiden Seiten. Dann klopfte er ihn mit der flachen Seite gegen den Flaschenboden. Zum einen um zu demonstrieren, dass der Flaschenboden unversehrt und nicht manipuliert war, zum andren verzog er wie ein Pantomime sein Gesicht in gespielter Traurigkeit darüber, dass der Kronkorken so nicht durch den Boden der Flasche wollte.

Also nahm er ihn wieder zwischen zwei Finger und drückte ihn in der Mitte zusammen. Das Publikum applaudierte. Nun tippte er mit einem der zwei Finger auf die Spitze am Kronkorken, die sich durch das Knicken gebildet hatte. Er nickte zufrieden. Nun konnte das Kunststück offenbar beginnen.

Er deutete an, den Kronkorken durch das Glas in die Flasche befördern zu wollen. Dazu feuerte er die Zuschauer an, ihn mit Applaus zu unterstützen. Der rhythmische Applaus, angetrieben von seinen Gesten, wurde immer schneller und schneller. Er setzte an und ... Der Applaus ebbte vor lauter gespannter Erwartung augenblicklich ab. Er schüttelte den Kopf und gab zu verstehen, ihn erneut anzufeuern. Das Publikum war daraufhin außer sich und noch wilder als zuvor. Und nun ließ er tatsächlich den Kronkorken auf den Flaschenboden prallen. Ein leises Klimpern ertönte in der ungezügelten Anfeuerung. Und siehe da, der rote Kronkorken befand sich in der Flasche. Er hielt die Flasche stolz in die Höhe. Frenetischer Beifall. Immer wieder klingelte er mit dem Kronkorken, der sich in der Flasche befand. Als Beweis, dass er ihn nicht vielleicht von oben hineingesteckt hatte, drehte er die Flasche um. Der Kronkorken konnte nicht herausfallen, weil er zu breit war, um durch die Öffnung zu passen.

„Er muss ihn tatsächlich durch das Glas befördert haben“, staunte Schüssli, der sich diesen Trick nicht hatte entgehen lassen.

„Blödsinn“, raunte Slinkssons.

„Und was hat unser Meistermagier dann für eine Erklärung?“, fragte von Stein.

„Es ist ganz einfach“, sagte Slinkssons. „Er hat die Flasche immer nur in der einen Hand gehalten. An dieser Hand hatte er einen Ring, richtig?“

„Richtig“, sagte von Stein.

„Dieser Ring war magnetisch. Mit Magnetismus sollten sie sich ja auskennen.“

„Ein zweiter Kronkorken befand sich in der Flasche“, sagte Schüssli aufgeregt.

„Schlaues Kerlchen“, sagte Slinkssons. „So konnte er auch die Flasche umdrehen, um zu beweisen, dass sie leer war. Dabei wurde der Kronkorken innen in der Flasche vom magnetischen Ring gehalten. Das war also nur ein Täuschungsmanöver, um uns glauben zu machen, dass nichts weiter in der Flasche war. Und als der Kronkorken in die Flasche fallen sollte, hat er den Finger mit dem magnetischen Ring einfach abgespreizt, sodass die Magnetwirkung zu schwach wurde und er herunterfiel. Deswegen auch das Klimpern, als der Kronkorken angeblich durch den Boden stieß. Außerdem stand er nicht zufällig vor einer Wand. Niemand sollte von hinten in seiner hohlen Hand den versteckten Kronkorken sehen können.“

„Und wie hat er ihn dann vorher in die Flasche gebracht?“, fragte von Stein, dem es offenbar Spaß machte, dieses Spiel zu spielen. „Er war doch viel zu breit.“

„Ganz einfach. Er hat den Kronkorken reingesteckt und dann in der Flasche wieder aufgebogen, sodass er nicht mehr herauskonnte. Den Kronkorken in seiner anderen Hand hat er einfach verschwinden lassen. So war die Illusion perfekt.“

„Nicht schlecht, mein lieber Slinkssons“, sagte Professor Carlsen.

 

Sie bewegten sich langsam in Richtung Ausgang des Platzes, als eine weitere Attraktion ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war ein Fakir, der ein Schwert hielt.

„Will er es schlucken?“, fragte Laima.

„Das will ich sehen“, sagte Schüssli.

„Nein, ich glaube, er will es sich durch die Zunge stecken“, sagte von Stein.

„O nein, dann will ich es doch nicht sehen“, sagte Schüssli und wandte sich ab.

„Hiergeblieben!“, sagte Sam und packte ihn hinten am Kragen.

Der Fakir nahm das dünne Schwert. Er ließ einige der Umstehenden die Spitze prüfen. Unter nervösem Lachen und aufgeregtem Schreien wurde klar, wie gefährlich und scharf die Waffe war.

„Er selbst scheint völlig ruhig und furchtlos zu sein“, sagte von Stein.

„Vielleicht ist er bereits in Trance. Dann verspüren Fakire doch keine Schmerzen mehr, oder?“, sagte Schüssli.

„Vielleicht sollten wir dich auch mal in Trance versetzen“, sagte Sam, der Schüssli immer noch am Kragen hielt.

„Nein, nein, ich will das nicht sehen. Mir wird schlecht“, protestierte er.

Sam ließ ihn angewidert los.

Schüssli hielt sich die Hände vor die Augen, sah aber zwischen den gespreizten Fingern hindurch.

„O mein Gott, er tut es wirklich“, sagte er, als der Fakir unter dem Aufschrei der Menge die Klinge an seine Zunge setzte.

Mit der einen Hand hielt er die Zungenspitze. Mit der anderen drückte er das Schwert von unten gegen die Zunge. Der Fakir verzog trotz aller Gelassenheit vor Schmerz sein Gesicht.

„Es scheint mit oder ohne Trance eine qualvolle Sache zu sein“, sagte Professor Carlsen.

Die Menge schrie auf, als die Haut unter dem Druck der Klinge nachgab und ins Fleisch fuhr. Dann versuchte der Fakir die Spitze weiter durch die obere Hautschicht der Zunge zu stoßen, was ihm nicht gelingen wollte. Man sah deutlich, dass er kein vorgefertigtes Loch in der Zunge hatte, sondern die Haut sich unter dem Druck der Schwertspitze nach oben wölbte, bis sie schließlich riss. Die Klinge des Schwerts stach hervor und die Menge jubelte und klatschte Beifall. Es blutete nicht mal.

Der Fakir verbeugte sich leicht unter den Ovationen und mit einem letzten Ruck zog er das Schwert wieder heraus und steckte sich die Zunge zurück in den Mund.

„Wow, wenn das nicht echt war“, sagte Sam, „dann fress ich nen Besen.“

„Vorsicht, Vorsicht, das gibt böse Koliken“, sagte Slinkssons.

„Dann wette ich eben fünfzig Dollar, dass das kein Trick war, Mr. Figaro Slinkssons“, sagte Sam kampflustig.

„Auf jeden Fall besser, als einen Besen zu essen. Abgemacht!“

Sie schlugen beide ein und die Wette galt.

Figaro Slinkssons ging zu dem Fakir, der gerade seine Vorstellung beendet hatte, Sam hinterher.

Sie winkten den anderen, ihnen zu folgen, als sie um eine Ecke verschwanden. Laima und der Rest holten sie gerade ein, als Slinkssons dem Fakir fünfzig Dollar hinhielt.

„Es ist eine Ziegenzunge“, sagte der Fakir und holte das Exemplar, das er für die Vorstellung benutzt hatte unter seinem Lendenschurz hervor. „Ich lege sie mir, kurz bevor das Schwert kommt, in den Mund. Dann ziehe ich sie mit einer Hand heraus und halte den hinteren Teil mit den Zähnen fest. Dass es nicht blutet, macht es nur noch echter. Alle erwarten das doch von einem Fakir.“

Er schnappte sich den Schein aus Figaro Slinkssons Hand.

„Und woher wussten sie es?“, fragte der Fakir Slinkssons.

„Berufserfahrung. Ich hatte so ein Gefühl.“

„Vielen Dank, Sir. Beehren sie mich bald wieder.“

Sam sah aus, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Die andren waren überrascht und grinsten.

„Nimms nicht so schwer“, sagte er zu Sam und legte ihm den Arm auf die Schulter. „Sieh dir die armen Andren an.“

Er deutete auf einen jungen Mann, der offenbar gut betucht war und gebannt das Schauspiel des schwarzen Magiers verfolgte. Ein junges Mädchen zog ihm gerade den Geldbeutel aus der Hosentasche.

„Und der dort“, ein kleiner Junge stahl einem älteren Mann ein dickes Bündel gerollter Scheine aus der Tasche. „Das ist der größte Trick an diesem Platz. Ich wette, sie teilen alle den Gewinn. Du hast nur fünfzig Dollar verloren. Und das bei einer fairen Wette.“

Sam fasste sich hektisch an die Hose.

„Mein Geld ist noch da“, sagte er dann erleichtert.

„Ich weiß. Ich hatte ja die ganze Zeit ein Auge drauf. Trotzdem hätte ich jetzt gerne meine fünfzig Dollar.“

 

Kurz nachdem sie den Platz verlassen hatten, kam eine Horde Kinder und umringte sie.

„Dollar, Dollar“, riefen sie und streckten ihre Hände aus. Dazu machten sie mitleiderregende Gesichter, zogen und zerrten an ihnen herum. Von Stein gab jedem einen Dollarschein, aber weder mit freundlichen Bitten noch mit strengen Worten ließen sie sich abwimmeln. Als von Stein schließlich Münzen in die Luft warf, gingen nur zwei die Münzen auflesen. Die andren blieben an ihnen dran.

Da trat ein alter Mann mit weißem Bart und Farbe im Gesicht vor sie auf die Straße.

„Was ist das für ein geschminkter Typ?“, fragte Sam.

„Ein Sadhu“, sagte von Stein, „ein heiliger Mann.“

„Ich könnte ihnen helfen“, sagte er, „diese Plagegeister loszuwerden. Für ein kleines Entgelt.“

„Wer sagt denn, dass sie uns die Plage nicht erst auf den Hals gehetzt haben“, rief Slinkssons ihm trotzig entgegen.

„Dafür bekommen sie auch eine Tempelführung“, sagte der Sadhu und strich sich sein verfilztes Haar aus der rotweiß bemalten Stirn.

„Seis drum“, sagte von Stein und drückte dem Sadhu zwanzig Dollar in die Hand. Daraufhin schrie er etwas ziemlich Unfreundliches und die Kinder sprangen zu allen Seiten davon.

„Folgen sie mir“, sagte er. „Ich bringe sie zum Affentempel.“

 

Nach wenigen Minuten erreichten sie einen vom Monsun überfluteten Hof, in dem die Kinder, die sie gerade gesehen hatten, im knietiefen Wasser Fußball spielten. Sie passierten ihn über einen kleinen Damm und verließen bald das Gewirr der engen Gassen, bis sie am Fuße eines Hügels ankamen.

Eine Treppe führte unzählige Stufen hinauf.

Als sie oben waren, lag unter ihnen die Stadt, eingebettet im Kathmandutal.

„Die zweitälteste hinduistische Tempelanlage der Welt“, sagte der Sadhu.

Vor ihnen ragte ein riesiger goldener Turm, auf einer weißen halbkugelförmigen Kuppel, in den Himmel. Überall sprangen Affen in Horden herum, schnappten sich Essen aus den Opferschalen und vollführten die waghalsigsten Sprünge auf den Dächern und an den Fassaden der Tempelanlagen entlang.

„Da sitzen ja noch ein paar Kollegen von ihnen“, sagte Sam.

„Sie befinden sich bei meditativer Praxis“, sagte der Sadhu.

„Sieht für mich aus, als kiffen und saufen die dahinten“, sagte Slinkssons.

„Das ist für tiefe Einheit mit Gott“, sagte der Sadhu gelassen.

„Dann war ich die ganze Unizeit in tiefer Einheit mit Gott“, sagte Slinkssons.

„Ich führe sie nun in die Stupa hinein“, sagte der Sadhu und zeigte auf den goldenen Turm.

„Warum erinnert mich das an eine Tesla-Spule?“, grübelte von Stein.

„Und diese Augen auf der Kuppel, das sind keine Menschenaugen. Diese seltsam schweren Lider“, sagte Professor Carlsen.

„Das sind Buddhas Augen“, sagte Laima.

„Nein“, sagte der Sadhu, „es sind Gottes Augen.“

„Für mich sehen die schweren Lider eher nach zu viel meditativer Praxis aus“, sagte Slinkssons.

„Tesla war doch der Begründer der Freien Energie?“, fragte Laima.

„Richtig. Nicola Tesla hat bereits vor über hundert Jahren von Freier Energie gesprochen. Patente zu drahtlos übertragbarer Energie entwickelt ...“, sagte von Stein.

„Freie Energie heißt doch, aus dem Nichts. Wie soll das denn bitte gehen?“, sagte Slinkssons.

„Nur weil sie es sich nicht vorstellen können, heißt es noch lange nicht, dass es nicht möglich ist. Um achtzehnhundert entwickelte man das Konzept, aus Wärme Energie zu gewinnen. Mit Dampfmaschinen. Der Beginn der Industriellen Revolution. Neunzehnhundert wird von Marie Curie und Albert Einstein die Grundlage geschaffen, um aus Masse Atomenergie zu gewinnen. Und wieder hundert Jahre später sind wir endlich bereit, Energie aus Raum zu gewinnen. Freie Energie.“

„Warum gibt es die dann nicht schon überall?“, sagte Sam.

„Überlegen sie mal, was sich dann alles ändern würde! Kein Öl würde mehr gebraucht, der komplette Weltmarkt bräche zusammen. Die Energielobby wäre am Ende. Kriege könnten durch die Destabilisierung ausbrechen. Die Veränderungen wären so gravierend, dass man sich schon fragen müsste, ob es wirklich eine Verbesserung darstellt.“

„Ist nicht jeder, der sich mit der Erforschung der Freien Energie beschäftigt hat, umgekommen?“, fragte Slinkssons.

„Viele“, sagte von Stein. „Ich selbst kannte einen befreundeten Wissenschaftler, der sich mit dem Thema befasst hatte. Er wurde vor zwei Jahren in einem ausgebrannten Auto gefunden.“

„Unfall?“, sagte Slinkssons.

„Er hatte kein Auto und wäre auch freiwillig nie in eines eingestiegen, da er als Kind dabei war, als seine Mutter tödlich verunglückte. Er fuhr nie mit dem Auto. Nur Straßenbahn oder Zug. Nicht mal mit dem Bus. Wie kann so jemand also in einem Auto verbrennen?“

Alle schwiegen.

„Und diese Teslaspulen sind Kollektoren für Freie Energie?“, fragte Laima.

„Ja.“

„Kommen sie“, sagte der Sadhu. „Zu unserem Stupa-Kollektor für kosmische Energie.“

Sie traten durch eine kleine Holztür ins Innere der Stupa. In der Mitte, genau unter der Spitze des Turms, stand eine riesige, aus Holz geschnitzte und kunstvoll bemalte Lotosblüte, in deren Mitte ein bequemes Sitzkissen lag. Einige Stufen führten auf das Podest.

„Bitte, meine Damen und Herren, probieren sie es aus. Es reinigt alle Chakren und macht einen neuen Menschen aus ihnen. Nehmen sie Platz und lassen sie kosmischen Strom in sich hineinfließen.“

„Schade, dass wir unsere Bioenergiemessgeräte im Flugzeug gelassen haben“, sagte von Stein. „Und, Schüssli? Machen sie den Anfang?“

„Wenn es sein muss“, sagte er zögerlich und begab sich auf das Podest, um auf dem Kissen Platz zu nehmen. Er setzte sich im Schneidersitz und schloss die Augen.

Laima betrachtete die hinduistischen Gottheiten, die an die Wände gemalt waren.

Die Göttin Kali, die ihre Zunge herausstreckte und auf verrückte Art die Augen aufriss. Blutige Schwerter, eine Flammenkugel und abgeschlagene Köpfe in den Händen ihrer unzähligen Arme. Um den Hals eine Kette aus Schädeln.

Ganesha mit dem Elefantenkopf. Brahma mit seinen vier Gesichtern, die für die Himmelsrichtungen und die vier Veden standen. Shiva, die Erneuerin.

„Gruselig, oder?“, flüsterte Slinkssons, der von hinten an sie herangetreten war. „Warum sind die alle blau?“

„Dafür gibt es leider keine wirkliche Erklärung“, musste Laima eingestehen.

„Vielleicht sind sie gar keine Götter, sondern nur Wesen, die einer anderen Welt entspringen?“, sagte Slinkssons und machte dabei ein geheimnisvolles Gesicht.

„Sicher entspringen sie der einen oder anderen Welt“, sagte Laima. „Wenn auch nur der Gedankenwelt.“

Schüssli hatte die Augen wieder aufgeschlagen und schüttelte seine Arme aus, die ihm offenbar eingeschlafen waren.

„Ein Prickeln habe ich gespürt. Einen Schauer, wie unter einer Dusche“, sagte er.

„Wohl eher von eingeschlafenen Gliedmaßen“, sagte Slinkssons.

„Dann versuchen sie es doch als Nächster, Figaro. Vielleicht schläft dann mal ihre sarkastische Skepsis ein. Das könnte ihnen zumindest nicht schaden“, sagte Professor Carlsen.

„Wenn sie meinen“, sagte er und betrat mit übertriebener Feierlichkeit die Lotosblüte.

Umständlich setzte er sich auf das Kissen und brachte ein tiefes, langgezogenes ‚OM’ aus.

„Arrrggh!“, schrie er unvermittelt und kippte in einem starren Krampf rücklings vom Kissen.

Alle sahen erschrocken auf ihn.

Figaro Slinkssons lag regungslos da. Von Stein sprang sofort auf das Podest und legte das Ohr an seine Brust.

„Er atmet noch“, sagte er.

Slinkssons richtete sich mit einem Satz auf.

„Muss wohl ein kosmischer Stromschlag gewesen sein“, sagte er und lachte. „Überdosis“, grinsend sprang er vom Podest.

„Dass sie auch immer alles ins Lächerliche ziehen müssen“, schimpfte Professor Carlsen.

Auch die andren hatten nach dieser Vorstellung genug und machten sich daran, die Stupa zu verlassen.

„Was könnte dieser Kreis zu bedeuten haben? Der hier, zwischen Shiva und Ganesha“, fragte Laima den Sadhu.

„Ich weiß es leider nicht, Miss“, antwortete der Sadhu schulterzuckend.

„Glauben sie, es ist eine fliegende Untertasse?“, scherzte Slinkssons, der offenbar in bester Stimmung war.

„Das haben sie jetzt gesagt“, antwortete Laima.

 

„Ich habe mal gehört, dieser Tesla hätte behauptet, all seine revolutionären Ideen von Außerirdischen zu haben“, sagte Slinkssons, während sie die Stufen vom Tempel wieder herabstiegen. „Danach wollte niemand mehr mit ihm arbeiten, bis er schließlich krank und verarmt starb.“

„Wenn er sich von den Außerirdischen nicht auch das Rezept für ewige Jugend mitliefern ließ“, sagte Sam, „kann die Zusammenarbeit wohl nicht so eng gewesen sein.“

 

„Wir sollten zurück zum Flughafen“, sagte Gerold von Stein, als sie unten angekommen waren.

„Kein Problem, Sir“, sagte der Sadhu. „Folgen sie mir.“

Sie gingen an einem Fluss entlang.

„Meine Güte, stinkt das hier“, sagte Schüssli, „mir ist schon ganz schlecht.“

„Bei uns wird einfach alles in den Fluss geschmissen“, sagte der Sadhu.

„Da schwimmt auch wirklich alles voller Müll. Ganze Inseln“, sagte Professor Carlsen angewidert.

Nach kurzer Zeit kamen sie auf eine Brücke. Festlich gekleidete Menschen standen dort und sahen zu, wie ein großes Feuer neben dem Fluss abgebrannt wurde. Sie schrien und weinten.

„Was ist denn hier los?“, fragte von Stein den Sadhu.

„Das ist der Platz für Abschiede“, sagte der Sadhu.

„Abschied von wem?“

„Von Familienmitgliedern“, sagte er.

„Sie wollen doch nicht sagen, dass da unten ein Mensch verbrannt wird?“, sagte Roger Schüssli entsetzt.

„Doch, doch“, sagte der Sadhu fröhlich.

Schüssli wurde bleich und übergab sich.

„Bei uns ist der Tod keine große Sache“, fügte der Sadhu hinzu. „Ein Leben ist zu Ende, ein neues Leben fängt wieder an. Es sei denn, es kommt Erleuchtung. Dann ist es das Ende von Wiedergeburt.“

„Ist das ein Erdnussverkäufer?“, fragte von Stein irritiert.

Ein Mann mit einem Bauchladen verteilte kleine Beutel mit Nüssen und Süßigkeiten an die Kinder und die Zuschauer auf der Brücke, die das Angebot gerne wahrnahmen.

„Geschäft ist Geschäft“, sagte der Sadhu und zuckte mit den Schultern. „Der Tod ist gut für alle.“

„Was machen denn die Männer dort unten? Die, die mit den Stöcken die Asche herumschieben“, fragte Sam.

„Helfen, dass das Feuer nicht ausgeht.“

„Das sieht aus, als suchen die etwas in der Asche“, sagte Professor Carlsen.

„Reiche Familie, wie sie sehen. Die Toten werden mit viel Schmuck verbrannt. Die Helfer helfen, dass das Feuer immer gut brennt, und finden gleichzeitig ihre Belohnung.“

„Geschäft ist Geschäft“, sagte Figaro Slinkssons.

Der Sadhu nickte.

Der Geruch von verbrannten Haaren und Knochen lag in der Luft.

„Da“, Sam wirkte etwas fassungslos, „der baut doch nicht etwa einen Grill neben der Leiche auf, oder?“

„Tatsächlich“, rief von Stein.

„Die Leute haben Hunger und wollen essen“, erklärte der Sadhu. „Traditionell Würstchen.“

Schüssli musste sich erneut übergeben.

„Empfindlicher Magen, ihr Freund“, sagte der Sadhu.

„Schwache Nerven“, sagte Sam. „Aber ich muss zugeben, mir wird auch anders.“

 

Sie stiegen unweit des Krematoriums in Taxis. Von Stein gab dem Sadhu noch einmal zwanzig Dollar.

„Für die Kinder!“

Der Sadhu lächelte: „Für die Kinder!“

Dieses Mal kamen sie schnell auf der großen Ringstraße voran und waren bald am Flughafen. Der Flieger war bereits aufgetankt und es konnte gleich weitergehen.

„Puh“, sagte von Stein, als der Jet abgehoben hatte, „wer will jetzt etwas zum Mittagessen?“

Verhalten gemurmelte Ablehnung und blasse Gesichter waren die Antwort.

„Vielleicht einen Tee“, sagte Laima und einige der anderen schlossen sich ebenfalls an.

„Ich nehme einen Whiskey“, sagte Professor Carlsen. „Das reinigt und desinfiziert. Und ich muss es ja schließlich wissen, als Mediziner.“

Nachdem Tee und Whiskey ausgeschenkt waren, meldete sich der Kapitän über die Bordlautsprecher.

„In Kürze werden wir Lukla erreichen. Versäumen sie nicht, einen Blick auf den höchsten Berg der Welt zu werfen. Die Wetterbedingungen haben sich leider etwas verschlechtert. Die Landebahn am Fuße des Everest ist ebenfalls einmalig, denn sie gilt als eine der größten Herausforderungen für Piloten, die es weltweit gibt. Ich wünsche ihnen weiterhin einen guten Flug.“

„Klingt so, als stellt er jetzt auf Autopilot und springt mit dem Fallschirm ab“, sagte Sam ‚The Rock’ Jackson.

Die ersten Turbulenzen machten sich bemerkbar.

„Bitte schnallen sie sich an“, ertönte erneut die Stimme des Kapitäns aus den Lautsprechern.

„Lukla gilt als die gefährlichste Landebahn der Welt“, sagte Figaro Slinkssons.

„Ich glaube, das wollte er uns damit sagen“, sagte Laima und schloss den Sicherheitsgurt.

Schüssli hatte wieder eine ungesunde Gesichtsfarbe. Er tat Laima ein bisschen leid. Sie hatte bemerkt, dass er sich nie ans Fenster setzte, um jeden Blick in die Tiefe zu vermeiden. Und nach dieser Ansage schien er gerade zu bereuen, jemals in die Expedition eingewilligt zu haben.

„In den Bergen kommt es leicht zu Wetterumschwüngen und Luftlöchern. Wenn wir zu tief fliegen oder vorher in einem Luftloch absacken, zerschellen wir am Berg. Vor der Landebahn geht es sechshundert Meter steil in die Tiefe. Wenn wir zu hoch fliegen beim Auf-die-Piste-treffen, wird sie zu kurz, um zu bremsen. Das kommt dann aufs Gleiche raus, nur dass wir etwas weiter oben auf dem Fels zerschlagen. Landung oder Absturz ist dann eins“, sagte Slinkssons.

„Ich durfte ja bereits ausgiebig in den Genuss ihres Optimismus kommen“, sagte Professor Carlsen, „aber auf dieser Reise, mein Lieber, übertreffen sie sich wirklich selbst.“

Er klang dabei wenig freundlich und auch ihm sah man an, dass er trotz des Whiskeys recht blass war.

Laima dachte an den Traum, den sie letzte Nacht gehabt hatte. War das Meer, auf das sie zugerast war, eine Vorahnung gewesen?

Der Jet schwankte und sank abrupt in die Tiefe. Es fühlte sich an, als hätten sie den Halt in der Luft verloren. Als fielen sie wie ein Stein, ohne etwas dagegen machen zu können. Ein ziehendes Kribbeln breitete sich in Laimas Bauch aus. Sie hatte dieses Kitzeln immer geliebt. Aber jetzt verband sie es mit einem völlig neuen, existenziellen Gefühl. Sie wollte nur heil aus dieser Sache heraus. Sie wollte überleben.

„Nun haben sie zu ihrer Linken die Möglichkeit, einen Blick auf diesen beeindruckenden Berg zu werfen, der bereits so vielen Menschen das Leben gekostet hat“, meldete sich die Stimme des Piloten aus den Lautsprechern.

„Vielleicht bald auch uns“, sagte Slinkssons. Er schien diesmal mit seinem Witz die eigene Angst überspielen zu wollen.

Das Flugzeug vibrierte. Niemand wagte es, auch nur einen Blick aus dem Fenster zu werfen.

Laima erkannte, dass die engen Felswände mit rasender Geschwindigkeit auf sie zukamen.

„Zähne zusammenbeißen“, flötete der Pilot in sein Mikrofon.

 

 

 

Die Wesen
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