14

 

„Die Stadt der Götter!“

„Wow, das war es also, von dem der Dropaolat uns erzählt hat“, sagte Laima. „Es gibt sie also wirklich!“

Vor ihnen lag ein halbrundes, bewaldetes Tal, an dem der Fluss eine Biegung machte. Oberhalb der Bäume waren drei kunstvolle Tempel im Fels zu sehen. Sie bildeten einen Gürtel oberhalb der Baumwipfel. Riesige Säulen, steinerne Elefanten und Statuen säumten die Eingänge, die in die Tiefen des Berges führten. Alles war mit geometrischer Präzision angelegt, die besonders von Ferne ihre Faszination entfaltete.

„Die Steinskulpturen müssen geradezu gigantisch sein, wenn man sie auf diese Entfernung so gut erkennt. Das Tal hat mindestens einen Kilometer Durchmesser“, sagte von Stein. „Lassen sie uns anlegen. Dort auf dem Strand.“

Mit Leichtigkeit manövrierten sie das Schlauchboot auf den Sand. Sobald sie es sicher an Land gezogen hatten, riefen sie den Andren zu, die gerade in Sichtweite kamen. Es dauerte nicht lange und alle standen staunend am Strand des Tals.

„Ich vermute, der Flusslauf verlief mal unterhalb der Anlagen“, sagte Figaro Slinkssons.

„Aber warum ist der ganze Tempelkomplex oberhalb der Bäume angelegt?“, fragte Roger Schüssli.

„Vielleicht war der Wasserstand mal höher als jetzt, mein Lieber“, sagte Professor Carlsen. „Vielleicht wurden die Tempel mit Booten erreicht?“

Laima beobachtete, dass Thian nervös wirkte.

„Gerold, fragen sie doch Thian, ob er irgendetwas über diese Tempel weiß“, sagte sie.

Thian sah sie sofort skeptisch an, noch bevor Gerold von Stein übersetzt hatte. Thian verneinte. Er gab sich jetzt Mühe, seine Unsicherheit nicht weiter zu zeigen.

„Dann würde ich vorschlagen, wir sehen uns die Anlage mal genauer an“, schlug von Stein vor. „Dawei!“, sagte er auf Russisch.

Thian blieb stehen und sagte etwas zu von Stein.

„Will noch jemand hierbleiben?“, fragte er. Ohne eine Antwort abzuwarten: „Alle oder keiner! Entweder gehen wir zusammen oder wir bleiben alle hier bei den Booten und dem Equipment.“

Er blickte in die Runde.

„Dann alle. Dawei, Thian!“

Sie nahmen noch ein Seil und Klettergeschirr mit, mehrere Lampen und Wasser. Von Stein kramte einen Computer und ein GPS-Gerät aus seiner Ausrüstung. Dann gingen sie los.

Die Bäume bildeten ein dichtes Blätterdach, in dem scharenweise Vögel die seltsamsten Schreie von sich gaben.

„Man könnte denken, wir seien im Zoo“, sagte Sam.

„Auf dieser Seite des Himalaya haben wir normalerweise kein subtropisches Klima“, sagte von Stein. „Sehen sie die Affen dort?“

„Tatsächlich.“

Eine Horde kleiner Affen rottete sich aus den umliegenden Bäumen zusammen, um die Neuankömmlinge unter großem Gekreische zu bestaunen.

„Zum Glück gibt es hier kein Buschwerk im Unterholz“, sagte Slinkssons.

Es dauerte trotzdem eine ganze Weile, bis sie die Distanz zur Stirnseite in der Tiefe des Tals zurückgelegt hatten. Dann stießen sie auf die senkrechte Felswand.

„Wie hoch das ist?“, sagte Schüssli.

Sam hatte nach seinem letzten Streit mit ihm, die bissigen Kommentare eingestellt. Zumindest vorerst. Es war allen klar, dass Schüssli jeder Stuhl zu hoch war, auch wenn er es tapfer über die letzten Etappen geschafft hatte. Gegen seine Höhenangst, was auch immer sie ausgelöst hatte, waren er und sie machtlos. Sie stellte sich hartnäckig immer wieder aufs Neue ein.

„Dort“, sagte Schüssli auf einmal und zeigte entlang der Felswand, „eine Treppe.“

„Wie haben die nur in dieser Höhe arbeiten können?“, fragte Slinkssons.

„Und vor allem wieso? Wenn die eine Treppe haben, die bis hier herunter führt, zeigt das doch, dass der Fluss schon immer auf diesem Niveau verlief. Warum dann die Tempel in dieser Höhe?“

„Als Schutz von Angreifern?“, sagte Laima.

Sie bewegten sich zu den in den Felsen gearbeiteten Stufen.

„Also ich weiß nicht“, sagte Schüssli.

„Wenn das wieder losgeht ...“, sagte von Stein. „Alle oder keiner. Außerdem muss ich davon ausgehen, dass wenn einer unbedingt zurückbleiben will, er die Gelegenheit sucht, einen Sabotageakt zu verüben.“

„Wollen sie damit sagen, dass ich der ...“, Schüsslis weißes Gesicht wurde dunkelrot vor Zorn. Sein karottenfarbenes Haar wirkte im Gegensatz zu seinem Gesicht geradezu blass. Er blies die Backen auf wie einen Ballon, der gleich platzen wollte.

Dann stieß er die Luft aus und begann, trotzig stapfend, als Erster die Stufen hinaufzusteigen. Sie waren schmal und ohne Geländer. Je höher sie kamen, umso langsamer wurde Schüssli und umso mehr drückte er sich gegen die Felswand. Aber mit allen andren hinter sich und den gegen ihn erhobenen Vorwürfen quälte er sich bis ganz nach oben. Sie erreichten eine weite Plattform vor dem Säuleneingang des Tempels.

Ihre Blicke glitten über das Tal. Die geschlossene Decke der Baumkronen wirkte wie weiches Moos. Sie sahen ihre Boote am Fluss, die wie Fremdkörper in der Wildnis wirkten.

„Was schätzen sie, Laima, aus welcher Epoche stammen diese Bauwerke?“, fragte Professor Carlsen.

Laima warf einen Blick auf die Steinfiguren. Es gab sie in allen Größen und Formen.

„Sehen sie die Buddhadarstellungen? Das würde bedeuten, dass sie erst nach der Entstehung des Buddhismus datiert sein dürften. Allerdings sehen sie auch hier Darstellung von Hathoren, die auf die Göttin Hathor hinweisen, die auch im alten Ägypten verehrt wurde. Sie war als Göttin des westlichen Himmels und der Fruchtbarkeit bekannt. Sie wird mit einem Gehörn dargestellt, das eine Sonne einfasst. Charakteristisch sind auch die schmalen Flusspferd-Ohren.“

„Wie kommt eine ägyptische Göttin hier auf einen tibetischen Tempel?“

„Sie taucht in verschiedenen Kulturen unabhängig von einem gemeinsamen kulturellen Hintergrund auf. Ebenso wie die Pyramiden, die zwar aus Ägypten bekannt sind, aber ebenso bei den Inka und in nahezu allen andren Hochkulturen auftauchen. Niemand kann genau sagen warum. Ebenso wird über ihren Zweck spekuliert.“

„Heißt das, es könnte sein, dass die Hathoren vielleicht von mehreren Kulturen gesehen worden sind?“, sagte Figaro Slinkssons.

„Wie meinen sie das?“, fragte von Stein.

„Dass es gar keine stilisierten Götter in dem Sinne waren, wie wir es heute interpretieren.“

„Sie meinen, dass sie real waren und deswegen in verschiedenen Kulturen unabhängig voneinander auftraten?“

„Das wäre doch zumindest logischer, als von einem Zufall auszugehen?“

 

Gerold von Stein verteilte die Lampen und sie betraten den Tempel. Sie kamen in eine Halle, die von mehreren facettierten Säulen gestützt war. An der Decke kunstvolle Verzierungen und Figuren.

„Das ist Granit“, sagte Slinkssons. „Wer schafft es bloß, dies alles so präzise aus einem so harten Gestein herauszuarbeiten?“

„Sehen sie hinter den Säulen die lange ruhende Abbildung des Buddhas“, rief Schüssli.

„Das ist eine der klassischen Darstellungen des Erleuchteten in seiner Versenkung und Einheit mit der Welt“, sagte Laima.

„Aber warum ist die Figur blau?“

Sie gingen weiter.

„Seht hinter uns das Fenster“, sagte von Stein.

Über dem Eingang, durch den sie gekommen waren, befand sich eine Öffnung, die wie drei stilisierte Lotosblätter aussah.

Von Stein hatte sein GPS an den Laptop angeschlossen. Sie stießen tiefer in die Halle vor.

„Seht die Wände“, sagte Sam. „Macht mal die Lampen aus!“

Sie folgten seinen Anweisungen.

„Ist das schön. Was ist das?“

Sie sahen, dass die Wandgemälde von sich aus leuchteten.

„So etwas habe ich noch nie gesehen. Wie fluoreszent“, sagte Laima und strich vorsichtig mit ihrer Hand über die Oberfläche. Die Farbe verblasste unter dem Druck ihrer Finger, um dann wieder aufzuleuchten.

„Es sieht aus, als würde ich auf meinen Bildschirm drücken. Die Farben verschwinden und tauchen wieder auf“, sagte Schüssli.

„Als wären sie organisch. Als würden sie leben“, sagte Slinkssons. „Wie bei einem Chamäleon oder als drückte man auf einen Tiefseetintenfisch. Schaut euch die Darstellungen an! Die Gottheiten! Halb Mensch, halb Tier.“

„Diese sind aber keine bekannten Gottheiten“, sagte Schüssli. „Ein Stier mit Menschenleib?“

„Eher mythologisch“, sagte Laima. „Ein Minotaurus.“

„Und da. Ein Mensch mit Vogelbeinen“, fuhr Schüssli fort. „Gruselig.“

„Erinnert mich an die Sphinx“, sagte von Stein.

„War die nicht Mensch und geflügelter Löwe?“, sagte Slinkssons.

„Und hat jeden Vorüberkommenden verschlungen, der ihr Rätsel nicht lösen konnte“, sagte Laima.

„Dort in der Tiefe ist eine Stupa“, sagte von Stein.

Das Licht seiner Lampe reflektierte auf dem strahlenden Gold der runden Kuppel. Er tippte etwas in sein GPS und hielt es Richtung Fenster, das über dem Eingang war. „Das ist unglaublich“, sagte er.

„Was?“

„Wenn die Daten stimmen, bedeutet es, dass dieses Fenster genau nach Süden ausgerichtet ist. Wartet ...“ Er hielt erneut suchend sein GPS in die Luft. „Das bedeutet, dass genau zur Sommersonnenwende das Licht durch dieses Fenster direkt auf die Stupa fällt. Was für eine Präzision muss dieser ganze Anlage zugrunde liegen? Offenbar ist alles exakt nach dem Lauf der Planeten und ihrem Stand berechnet.“

 

Hinter der goldenen Stupa entdeckte von Stein ein quadratisches Loch im Boden.

„Sieht aus, als geht es hier weiter“, sagte er. „Keine Treppe, aber da unten ist ein Raum. Ziemlich groß.“

„Dann binde ich das Seil um den Sockel der Stupa“, sagte Schüssli. „Wir seilen uns einer nach dem andren ab.“

Es waren gute drei Meter, die Laima im Sitzgurt in die Tiefe glitt.

„Die Wandmalereien sind wirklich unglaublich, meine Lieben“, sagte Professor Carlsen. „Es ist fast taghell hier.“

„Erinnert mich an Goapartys“, sagte Slinkssons.

„Du warst mal auf Goapartys?“, sagte Laima.

„Die einzig aufregende Zeit in meinem trostlosen Leben.“

„Ich verstehe.“

Als alle unten waren, setzten sie ihr Erkundung fort.

„Es geht quasi hinter der Stupa weiter in den Berg“, sagte von Stein.

„Hier ist ein Durchgang“, sagte Schüssli, der neugieriger war, als Laima erwartet hätte. „Der Säulenaufbau hört auf und die Decke wird flacher.“

„Als wir runterkamen, lag doch eine zerbrochene Steinplatte auf dem Boden“, sagte von Stein. „Ich vermute, sie diente als Abdeckung und ist im Laufe der Zeit eingebrochen.“

„Das heißt, dies ist ein Teil des Tempels, der verborgen bleiben sollte?“

„Das nehme ich an.“

„Was war das?“, fragte Schüssli.

„Was?“

„Habt ihr das auch gehört?“

„Du hörst doch die Flöhe husten“, sagte Slinkssons.

„Nein, da war was. Ein Kratzen. Oben in der Haupthalle.“

„Weiter! Mach kein Theater“, sagte von Stein.

„Hier wird es jetzt aber dunkel!“

„Dafür haben wir unsere Taschenlampen.“

„Was ist das dort an der Wand?“, fragte Schüssli.

„Ein bärtiger Mann mit Fischleib und Fischmaul auf dem Kopf, in einer riesigen Blase.“

„Ein Meerjungmann?“, grinst Slinkssons.

„Sieht ein bisschen aus, als habe der Fisch ihn verschluckt.“

„Das ist Dogon“, sagte Laima, „auch als Gott der Fruchtbarkeit bekannt. In der Bibel auch Dagan oder Dagon genannt. Er ist der Vater aller Götter.“

„Was sind das dort für Kisten?“

„Das sind keine Kisten“, sagte Professor Carlsen. „Das sind Sarkophage.“

„Aber die sind klein. Wie für Kinder“, sagte Laima.

„Machen wir sie auf!“, sagte von Stein.

„Nein!“, sagte Schüssli.

„Los! Pack gefälligst mit an!“, sagte von Stein zu ihm.

„Ich bin Ingenieur und kein Leichengräber“, sagte Schüssli. „Ich glaube nicht, dass so etwas in meinem Arbeitsvertrag steht.“

„Da steht noch was ganz andres im Kleingedruckten. Und zwar, dass ich dich bei Befehlsverweigerung lebendig einmauern darf. Und das werde ich auch mit Freuden tun, wenn du nicht gleich den Deckel mit abnimmst.“

Widerwillig hob Schüssli mit ihm die Steinplatte zur Seite.

„O je!“

„Meine Güte“, sagte Professor Carlsen und wich zurück. „Ist das ein Kind?“

Er beugte sich näher hinunter und schob seine Brille auf der Nase vor und zurück.

„Also von der Länge des Körpers her, würde ich sagen ja“, antwortete von Stein. „Aber irgendwie auch nicht.“

„Ich glaube es könnte ein Affe sein. Ein Schimpanse vielleicht?“, sagte Schüssli.

„Dafür stimmt der Knochenbau nicht mit dem eines Primaten überein“, sagte Slinkssons. „Affen haben die Rippen in einer A-förmigen Anordnung, das heißt, der Brustkorb ist oben schmal und unten breit.“

„Aber Schimpansen haben doch breitere Schultern als wir“, sagte Schüssli. „Sie brauchen doch viel mehr Kraft in den Armen.“

„Das stimmt. Deswegen haben sie auch einen oben schmaleren Brustkorb. Sie brauchen dort mehr Muskeln. Der Mensch hat einen V-förmigen Brustkorb, ist also genau umgekehrt gebaut.“

„Und warum sollten die Dropa oder ihre Vorfahren hier Affen bestatten?“, sagte Sam.

„Vielleicht ist es das fehlende Puzzleteil der Evolution. Das Bindeglied in der Entwicklung des Affen zum Menschen“, sagte Schüssli.

„Zwischen Affe und Mensch“, sagte Slinkssons. „Hast du dir mal selber zugehört?“

„Aber der Mensch stammt doch vom Affen ab!“, sagte Schüssli.

„Du musst nicht immer alles ungefragt nachplappern, was man dir mal in den Kopf getrichtert hat. Jeder sieht doch auf den ersten Blick, dass zwischen dem Skelett eines Affen und dem des Menschen ein riesiger Unterschied besteht. Als Erstes der Brustkorb, der vollkommen gegenläufig aufgebaut ist. Als Zweites die überlangen Oberarmknochen. Frühere Wissenschaftler haben sie sogar oft gegen Menschenknochen ausgetauscht, um diesen Unterschied bei ihren Funden sogenannter Vorzeitmenschen zu verschleiern, damit sie in das Bild der Evolutionstheorie passen. Selbst wenn du einen noch so menschenähnlichen Affen nimmst, sind die nötigen Entwicklungsschritte zum Menschen nicht einer oder zwei, oder fünf. Es wären mindestens hundertzwanzig nötig. Das heißt, es müsste nicht das berühmte eine fehlende Bindeglied gefunden werden, sondern hundertundzwanzig Stück! Da könnten wir eher noch vom Delfin abstammen als vom Affen.“

„Aber die genetische Ähnlichkeit. Die Genverwandtschaft? Achtundneunzig Prozent waren es doch.“

„Dazu muss man sich erst einmal mit Genetik befassen. Welchen Aussagewert haben die Aminosäuresequenzen? Welche Eiweiße werden verglichen? Unsere Gene sind zu sechsundneunzig Prozent mit dem Hausschwein identisch. Wenn ich Sam ansehe, glaube ich das zwar sofort, aber wir stimmen laut Genetik auch zu neunundneunzig Prozent mit der Musca domestica überein. Auch die Gemeine Stubenfliege genannt. Was sagt uns das?“

„Das kann ich bestätigen“, sagte Professor Carlsen. „Wir verwenden ihre Gene in der Krebstherapie.“

„Und wir haben eine fünfundsiebzig-prozentige Übereinstimmung mit der Banane. Deswegen würde doch keiner ernsthaft behaupten, von ihr abzustammen.“

Schüssli schwieg einen Moment.

„Was ist dann mit der Evolutionstheorie?“

„Das ist eine gute Frage. Wie unser verehrter Gerold bereits so treffend sagte, ist eine Theorie nichts weiter als eine Theorie. Das wusste bereits Charles Darwin. Und das machte ihm schon damals Kopfzerbrechen. Genauer gesagt war es die kambrische Explosion, die seine Evolutionstheorie bereits im Ansatz zunichtemachte.“

„Was ist die kambrische Explosion?“

„Die kambrische Explosion ist das plötzliche Auftreten der Artenvielfalt in der besagten Zeit der Erdgeschichte, nämlich dem Kambrium. Aber auch heutige Wissenschaftler haben anhand von Einzellern, die sich sehr schnell vermehren und damit entwickeln, versucht, die von Darwin angeführte Mutation, die der Motor der Evolution und für die Artenvielfalt verantwortlich sein soll, nachzuweisen. Innerhalb eines Tages erhält man bereits unzählige Generationen von Einzellern, die sich durch Teilung oder Knospung vermehren. Dass heißt, über einen längeren Zeitraum beobachtet, sollten sich diese erkennbar rasch genetisch verändern. Leider taten sie es nicht. Damit kommen wir zurück zum Kambrium. Das Kambrium liegt erdgeschichtlich, im Gesamten gesehen, nicht so weit zurück. Ich werde es an einem Beispiel verdeutlichen. Nehmen wir die ganze Erdgeschichte als einen Tag mit vierundzwanzig Stunden.

Zu Beginn haben wir die besagten Einzeller. Man kann die Erdgeschichte übrigens anhand der Erdschichten genau ablesen. Wann welche Tiere die Erde bevölkert haben. Also Stunde eins. Die Einzeller. Stunde zwei. Die Einzeller. Stunde drei. Immer noch die Einzeller. Stunde zehn, fünfzehn, zwanzig, einundzwanzig. Die Einzeller. Stunde einundzwanzig und eine Minute. Boom! Da war die Artenvielfalt. Zwischen einundzwanzig eins und einundzwanzig zwei war eine Fülle von komplexen Arten da, wie die Welt sie noch nie gesehen hatte. Das wusste leider schon unser guter Darwin. Das Einzige was er beobachtet hatte war, dass es auf den Galapagosinseln eine andre Finkenart gab als auf dem Festland. Daraus eine so weitläufige Theorie abzuleiten, war sicher ein Fehler. Einer der vielen Fehler, die die Geschichte der Wissenschaft auszeichnet. So weitreichend, dass andre dieses lineare und starre Denkmodell bis zum Ursprung des Universums zurückführen, dem Urknall.“

„Was haben sie noch mal studiert?“, fragte Laima.

„Politikwissenschaften. Aber niemand weiß besser als eine Religionsethnologin: ,Die Wege des Herrn sind unergründlich’.“

„Warum wird dann überall die Evolutionstheorie verbreitet, wenn sie gar nicht haltbar ist?“, sagte Schüssli.

„Genau das ist eine Frage, die ich mir auch schon gestellt habe“, sagte Figaro Slinkssons. „Und vor allem, wer profitiert davon, die Menschen in einem falschen Glauben über sich und ihre Herkunft zu lassen?“

„Und was ist die wahre Geschichte?“, fragte Schüssli.

„Das sind genau die richtigen Fragen. Und damit wirst du mir immer sympathischer. Vielleicht liegt sie gerade vor uns.“

„Öffnen wir noch einen der Sarkophage?“, sagte Sam.

Von Stein nickte.

„Dann los! Unnnd anheben ...“

„Wieder diese kleinwüchsigen, wasserköpfigen Zwerge“, sagte Sam. „Und das soll die Antwort sein?“

„Zumindest für die Dropa“, sagte Laima. „Wenn ihre Vorfahren zum einen Menschen waren und diese Wesen ihre Götter, würde es ihre Größe erklären.“

„Sie sollen eine Mischung aus beiden sein?“

„Das wäre gut möglich“, sagte Professor Carlsen. „Es würde den ausladend großen Hinterkopf erklären, den der Dropaolat unter seinem Bowler verbarg.“

„Sternenkinder!“, murmelte Laima.

„Alles deutet darauf hin, dass diese Wesen hier bereits ausgewachsen waren“, sagte der Professor, während er einen Knochen untersuchte, den er aus dem Sarkophag genommen hatte.

„Dort hinten stehen noch mehr Scheiben, wie sie uns der Dropaolat gezeigt hat“, sagte Laima.

„Tatsächlich.“

Sie gingen zu dem weiteren Raum, der sich anschloss.

„Hier ist alles voll mit den Dingern“, sagte Slinkssons. „Ich fass keins mehr davon an.“

„Dort an der Wand. Sehen sie, eine Karte des Sonnensystems“, sagte Laima. „Das bestätigt, was Gerold gerade über den Aufbau des Tempels gesagt hat. Die Menschen oder Wesen, die dies hier erbaut haben, mussten präzise Kenntnisse vom Universum haben. Sehen sie. Da ist Sirius B.“

„Was haben sie noch mal studiert?“, fragte Slinkssons. „Astrophysik?“

„Sirius B ist erst in den Dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts entdeckt worden“, sagte Laima. „Diese Anlage ist mindestens mehrere Tausend Jahre alt. Warum ich von Sirius B weiß, ist, dass bereits die Ägypter von diesem schwer auszumachenden Planeten wussten. Lange bevor er offiziell entdeckt wurde. Ebenso das Volk der Dogon, das in Westafrika lebt. Sie verehren auch einen Fischgott, wie wir ihn hier gefunden haben. Es wird vermutet, dass sie aus dem syrischen Raum, dem Kulturkreis der Ägypter, abgewandert sind.

So erklären sich Ethnologen ihren Kult. Ebenso wie der christliche Glaube aus dem alten Ägypten stammt. Das Schlusswort jedes Gebetes bezieht sich bis heute auf den altägyptischen Gott Amon Ra.“

„Amen?“

„Der Fischgott, der aussieht als sei er in eine Fischhaut verpackt, wird bis heute im Christentum gefeiert. Im offenen Fischmaul auf seinem Kopf liegt das Geheimnis der Mitra, der Kopfbedeckung des Papstes. Haben sie sich noch nie über die seltsame Form gewundert? Es stammt von ebendiesem Gott Dogon oder auf Hebräisch Dagon. Es ist, wenn sie es von der Seite betrachten, deutlich als ein offenes Fischmaul zu erkennen. Warum trägt der Papst dazu den Fischerring, den jeder bei der Audienz unterwürfig küssen muss? Warum wurde im Dagontempel die Bundeslade aufbewahrt? Was verbirgt sich hinter dem, was wir sehen, wirklich?“

„Sie meinen der Gott Dogon oder Dagon ist in einer Blase, so wie dort dargestellt, von seinem Planeten Sirius B hier zu uns gekommen, um sich mit den Menschen zu vereinen?“, fragte Slinkssons.

„Also ich bin mir nicht sicher, was meine Freunde vom Gospelchor der Church of Louisiana dazu sagen würden“, meinte Sam.

 

Als sie zurück zum Liegeplatz der Schlauchboote kamen und die Zelte für die Nacht aufstellten, drehte sich bereits alles wieder um das Alltägliche.

„Ich wollte gerne die Menüwünsche der Herrschaften für das heutige Dinner entgegennehmen“, sagte Sam in gespieltem Tonfall eines Oberkellners. „Natürlich steht eine ganze Reihe üblicher Expeditionsstandardverpflegung wie Tütensuppen und Konserven auf der Speisekarte. Aber ich dachte mir, dass angesichts der uns noch reichlich zur Verfügung stehenden Fauna, die Tageskarte, über den, wenn auch in den Variationen von gegrillt bis gegart, bereits zu Genüge verköstigten Fisch hinaus, erweitert werden könnte.“

„Ich verstehe gar nichts“, sagte Slinkssons. „Was will der Affe?“

„Affe, mein Verehrtester, wäre genau meine Empfehlung gewesen“, sagte Sam ‚The Rock’ Jackson.

„O nein“, sagte Laima, „dann lieber wieder Fisch.“

„Sie meinen diese süßen, possierlichen Tierchen wären nichts für den Spieß? Dabei habe ich ein ganz außergewöhnliches Rezept aus Papua-Neuguinea für sie.“

„Die essen auch Menschen“, sagte Figaro Slinkssons trocken.

„Wenn sie damit auf die Artverwandtschaft zwischen den Primaten und uns anspielen, so waren sie es doch, der uns heute so anschaulich erklärt hat, dass es diese Verbindung gar nicht gibt.“

„Meinetwegen nehme ich dann einen Affen am Spieß.“

„Die anderen Herrschaften?“

Alle bis auf Laima waren für Affe.

„Haben wir geeignete Waffen für die Jagd?“, fragte Sam von Stein.

„Wir haben ein Kleinkalibergewehr, das ist alles.“

„Wie gut, dass ich meine kleine Kocharmbrust mitgenommen habe. Das verschreckt bei der Jagd weniger die anderen Artgenossen. Laima, sie machen so ein beleidigtes Gesicht. Sie meinen, ich versündige mich oder ziehe womöglich den Zorn des Affengottes in diesem Tal auf mich. Nun, da hätte ich schon eine lange Liste von Todesfällen abzusitzen. So ist das Leben. Und so ist der Tod. Wenn man kein Vegetarier ist, zu denen sie ja auch nicht gehören, wie ich am Rande bemerken darf, gehört sterben dazu. Müssen wir schließlich alle.“

Er nahm einige Teile aus seiner Tasche, die er geschickt zu einer kleinen Armbrust zusammensetzte.

„Für sie muss ich nicht mehr angeln. Es ist noch genau ein Fisch vom Mittagsfang übrig. Der dürfte noch frisch genug sein. Möchte mich ansonsten jemand begleiten? Niemand? Nun ja, ich werde mein Los mit Fassung tragen. Dafür werde ich schließlich bezahlt.“

Er tippte sich mit zwei ausgestreckten Fingern militärisch an die Stirn und verschwand mit seiner Armbrust im Schatten der Bäume.

„Wir werden eine Nachtwache aufstellen“, sagte Gerold von Stein und nahm das Kleinkalibergewehr zur Hand. „Falls tatsächlich ein Saboteur unter uns ist, was ich nicht hoffe, oder dieses Ding, was auch immer es sein mag, hier auftaucht.“

Dann lud er das Gewehr durch.

 

Als die Affen ausgenommen und gehäutet über dem Feuer brutzelten, war es bereits dunkel. Es sah makaber aus. Auf den Spießen, die über die Flammen geneigt waren, hingen die Tiere in der Luft und machten den Eindruck, als vollführten sie einen grotesken Tanz. Ihre Muskeln verkürzten sich beim Braten, sodass sich die kleinen Körper unter Einwirkung der Hitze bewegten und in verzerrten Posen verrenkten, obwohl sie schon lange tot waren.

Laima war bei diesem Anblick der Appetit vergangen.

Mit dem Eintreten der Nacht waren auch die Geräusche der Vögel verstummt.

Sam verteilte die Spieße.

„Das Beste ist hier drin“, sagte er und schlug mit einer schnellen Bewegung den Kopf des Tieres auf einen Stein, sodass er aufplatzte. „Und man muss es warm essen.“

Das war Laima zu viel. Sie entfernte sich aus dem Schein des Feuers, an dem die Männer sie weniger an zivilisierte Menschen als an Kannibalen erinnerten.

Sie dachte an die kleinen Skelette, die sie heute gefunden hatten. Was verbarg sich dahinter für ein Geheimnis? Waren sie das, wofür Laima sie hielt? Waren sie der Schlüssel zu den offenen Fragen, die selbst die allwissende Wissenschaft nicht beantworten konnte? Wurde die Wissenschaft kontrolliert oder sogar manipuliert? Warum? Wozu? Wer profitierte davon? Und was war die echte Wahrheit?

Hätte Professor Bersinsch ihr nur mehr vertraut. Wusste er es oder hatte er es geahnt? Sicher. Aber sie musste jetzt selbst ihre Wahrheit finden. Wenn er mehr wusste, hätte sie ihm geglaubt? Hätte sie ihn nicht wie die meisten für verrückt erklärt?

So wie sie es noch vor wenigen Tagen getan hatte. Obwohl sie ihm traute und ihn schätzte, hatte sie ihm schon bei dem Bisschen, was er ihr erzählt hatte, nicht geglaubt. Sie hatte an seinem Verstand gezweifelt.

Und jetzt war alles gekippt. Ihre ganze Welt hatte sich auf den Kopf gedreht und alle Puzzlestücke waren durcheinander. Aber vielleicht musste sie die Stücke nur zu einem neuen Bild zusammensetzen. Was kam dann heraus? Es machte ihr Angst. Wollte sie überhaupt wissen, was hinter all dem lag, was sie immer mit so vertrauten Augen gesehen hatte? War es nicht der große Wunsch nach Frieden, der es ihr verbot, tiefer zu graben? Aber was hatte sie zu verlieren? Es war bereits alles aus dem Ruder gelaufen.

Sie zog ihre Schuhe aus und machte ein paar Schritte im kühlen, feuchten Sand des Strandes. Der Fluss brauste in der Dunkelheit. Sie sah ihn nicht, aber sie hörte ihn. War es nicht dasselbe mit der Welt, die sie täglich umgab, nur umgekehrt? Sie sah sie, aber sie hörte nichts. Sie hörte nicht, was sie ihr eigentlich sagen wollte.

Ein Kreischen im Dunkel des Tals. Vögel flatterten durch die Luft. Dann verstummte alles. Irgendwo im Tal war etwas passiert. Laimas Herz schlug schneller.

Dann wieder. Das Kreischen der Affen, das Flattern der Vögel. Dann Stille. Es näherte sich etwas. Sie wich instinktiv zurück. Ihr Fuß berührte das kalte Wasser des Flusses. Sie musste Richtung Feuer. Sie konnte es kaum mehr sehen. Ein kleiner Punkt in der Ferne.

Da war es wieder. Direkt am Strand. Sie fing an zu laufen. Die Vögel kreischten, als sie über sie hinwegflogen. Sie spürte den Wind ihrer Flügel auf der feuchten Haut. Sie lief und sank immer wieder in den nassen Sand. Jeder Schritt gab ihr das Gefühl, auf der Stelle zu treten. Panisch steuerte sie auf das Feuer zu. Aber es kam nicht näher.

„Hier“, schrie sie. „Hier!“

Mehr brachte sie nicht aus ihrer angstverschnürten Kehle hervor.

Adrenalin flutete ihr Blut.

Sie sah, wie die Männer sich vom Feuer erhoben und in die Dunkelheit starrten. Hatten sie ihre Rufe gehört? Hatten sie sie gesehen? Nur noch ein kurzes Stück, aber es erschien ihr wie eine Ewigkeit.

 

 

 

Die Wesen
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