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Das Gambretta war mit seinem Arm zu einer Waffe verschmolzen. Es war ein gutes Gefühl. Seine Hand traf die Schläfe des Chinesen. Punktgenau. Das Blut schoss in die platzenden Äderchen seiner Augäpfel. Das Weiß färbte sich rot. Der Mund des Chinesen klappte auf. Dann kippte er hintenüber und sank lautlos ins Wasser.
Es war zu einfach. Oder wurde er alt? Es war eine Langeweile, die ihn mit einem Mal überkam. Nein, keine Langeweile. Es machte ihm keine Freude mehr. Freude war vielleicht das falsche Wort. Befriedigung? Ja. Wobei das Wort Frieden auftauchte. Suchte er seinen Frieden? Mit wem wollte er ihn schließen? Mit sich? Mit dem Pfarrer, der ihn gequält hatte? Mit seinem Vater, den er nicht kannte? Mit seiner Mutter?
Er fühlte sich nicht gut. Was dachte er da? Ihm war schlecht. Er musste sich übergeben und beugte sich über den Rand des Bootes. Er sah das Gesicht des Chinesen unterhalb der Oberfläche. Wie es langsam verschwand. Dann kotzte er ins Wasser.
Laima sah auf ihren Tiefenmesser. Sie war gleich bei vierzig Metern. Von den Andren war nichts mehr zu sehen. Die Dunkelheit hatte sie geschluckt. Sie griff mit einer Hand in den Beutel, um nach der richtigen Probe zu suchen, als ein brummender Ton sich in ihr Bewusstsein drängte. Vor ihr sprang ein gleißend helles Licht an. Ein riesiges ovales Etwas lag vor ihr. Sie erschrak dermaßen, dass sie beinahe die Lampe fallen ließ. Es musste die ganze Zeit dort gewartet haben. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Was war das? Dann setzte sich das riesige Ding langsam in Bewegung. Schwebte an ihr vorbei und schoss wie ein heller Blitz zur Oberfläche. Ohne einen Sog zu verursachen oder ein andres Geräusch, außer dem dumpfen Brummen, von sich zu geben.
Sie versuchte ruhig zu atmen. Da bemerkte sie einen Aussetzer ihrer Atemflasche. Nein, nur das nicht, dachte sie. Sie schnallte den Pressluftbehälter ab. Der Zeiger der Anzeige stand auf fast voll. Sie hätte bereits zu einem Drittel leer sein müssen. Sie schüttelte ihn. Er war fast gänzlich leer. Dann ertastete sie etwas kleines Rundes auf der Rückseite der Pressluftanzeige. Ein schwarzer Magnet. Sie entfernte ihn. Sofort fiel die Nadel der Anzeige unter Null. Sie bekam Panik. Sie befand sich vierzig Meter tief unter Wasser. Sie würde ersticken oder beim zu schnellen Auftauchen an einem Lungenriss sterben. Das war also das Grab, das auf sie gewartet hatte.
Sie durfte sich nicht aufgeben. Wenn sie starb, sollte es zumindest kämpfend sein. Aber sie musste ruhig bleiben. Jede Bewegung kostete sie Sauerstoff. Sie musste überlegt handeln. Die Luft, die sie ausatmete, war kostbar. Sie musste sie einfangen. Der Beutel, den sie hatte, war zwar aus Stoff, aber mit etwas Glück hielt sich die Luft darin. Wenn sie es schaffte, eine Luftblase darin einzufangen, würde sie der Sack zum einen langsam an die Oberfläche ziehen, ohne dass sie wertvolle Muskelkraft und damit Sauerstoff aufbrauchen musste, und zum andren war es eine Reserve. Der Sauerstoff der Blase würde nicht ewig reichen, aber es war ihre einzige Chance. Ihre einzige Hoffnung lag darin, dass der Gehalt im Gasgemisch ausreichend sein würde, sie am Leben zu halten, bis sie, nach einigen Dekompressionsstopps, wieder an der Luft war.
Sie hielt den Beutel über die Blasen, die aus ihrem Mundstück kamen. Der Beutel hielt dicht. Es fühlte sich wie ein Sieg an, der ihr neuen Mut gab. Wenn der Plan weiter so gut aufging, konnte sie es vielleicht schaffen.
Sie ließ die ganze restliche Luft aus der Flasche ab und füllte so den Beutel. Vorsichtig hielt sie ihn mit einer Hand unten geschlossen. Sie spürte, wie er sie hinaufzog, und sie ließ die schwere Pressluftflasche in die Tiefe sinken.
Sie musste es einfach schaffen, während sie aufstieg zu dekomprimieren. Das würde schwierig werden, da sie sich einige Minuten auf derselben Höhe halten musste. Sie sah auf den Tiefenmesser. Dann spürte sie, dass sie unbedingt Luft brauchte. Sie kämpfte gegen den Reflex an, das Wasser tief in ihre Lungen zu saugen, wie es Ertrinkende machen, und zog den Beutel an ihren Mund.
Eine große Luftblase löste sich durch ihre ungeschickte Bewegung und trudelte nach oben. Ein lebenswichtiger Teil war ihr verloren gegangen. Sie versuchte, nicht zu tief die kostbare Luft einzuatmen, um die verbliebenen Reserven zu schonen. Aber es war wie frisches Wasser, wenn man durstig war. Noch besser! Es war Luft.
Zwei flache Züge gönnte sie sich. Sie atmete zurück in den Beutel. Sie sah auf den Tiefenmesser. Quälend langsam zog sie die Luftblase nach oben. Ihr wurde schwindelig. Sie hätte bereits eine erste Pause einlegen müssen. Aber was blieb ihr übrig? Sie konnte nicht anhalten und sie konnte auch nicht schneller. Wenn sie starb, starb sie.
Sie beschloss einen weiteren Zug zu nehmen, in der Hoffnung, er würde ihren trüben Verstand aufhellen. Sie musste mehrere Züge nehmen. Sie merkte deutlich, wie schnell der Sauerstoffgehalt nachließ. Waren dies die letzten Atemzüge ihres Lebens? Reichte der Rest, dass sie es bis an die Oberfläche schaffte? Ihre Muskel fingen an zu brennen. Das war kein gutes Zeichen. Ihr Kopf fühlte sich an, als schrumpfe er.
Sie erschrak, als ein Gesicht vor ihr auftauchte. Es sah sonderbar leblos aus und glitt an ihr vorüber in die Tiefe. Es war Thian.
Der Schrecken wuchs in ihr. Was ging hier vor sich? Halluzinierte sie? Oder war er es wirklich?
Sie drehte den Kopf nach oben. Zumindest hielt sie es für oben. Auch wenn sie wusste, dass der Luftsack ihr den Weg wies, fühlte es sich an, als habe sich jede räumliche Dimension aufgelöst. Sie sah Helligkeit. Es war eine glitzernde, schöne Helligkeit.
Sie musste atmen. Atmen! Sie sog alles gierig ein, was im Beutel verblieben war. Damit hatte sie keinen Auftrieb mehr. Sie tat ein paar Schläge mit den Flossen. Sie wurde fast bewusstlos, als sie dem Glitzern entgegenstrebte. Sie schlug erneut mit den Beinen. Sie hatte kaum noch Kraft. Jetzt sah sie, dass es die Oberfläche des Wassers war. Die rettende Luft war nur noch wenige Meter von ihr entfernt. Sie versuchte, die Hand auszustrecken, in der Hoffnung, jemand würde sie emporziehen. Empor, ins Reich des Lebens. Hinaus aus diesem See. Aber die Oberfläche war weit weg. Unerreichbar!