27

 

Sie verließen die Höhle und wanderten am Berg entlang.

„Wir müssen höher“, sagte der Samadhi.

„Das ist doch schon das Maximum, was ohne Sauerstoffgeräte drin ist“, sagte Slinkssons. „Und die haben wir nicht mehr!“

„Außerdem, wie sollen wir es an diesen steil überhängenden Felsen nach oben schaffen?“, sagte Schüssli.

 

Dann ging es nicht mehr weiter. Eine gefrorene Eiswand schnitt ihnen den Weg ab.

„Die Höhle des Avatars hat vier Türen“, sagte der Samadhi. „Vier Türen, wie die vier Elemente. Feuer, Wasser, Luft und Erde. Dies ist die Erste von ihnen.“

„Wasser!“, sagte von Stein.

„Mehr als ein einfaches Seil haben wir nicht“, sagte Slinkssons. „Das schaffen wir niemals.“

„Ich habe noch ein paar Steigeisen bei der Höhle“, sagte Gompa. „Ich habe sie dort im letzten Winter vergessen. Wartet!“

Gompa lief zurück. Laima sah Lhatsen an, der angespannt wirkte.

„Was ist los?“, sagte sie und wollte ihm über die Wange streichen.

„Bitte!“, sagte er streng und hielt ihr Handgelenk fest, bevor sie sein Gesicht berühren konnte.

„Au, du tust mir weh! Was ist los? Ist es dir peinlich, vor den andren? Dann sag es einfach! Aber nicht so!“

 

„Da ist er wieder“, sagte Figaro Slinkssons, als Gompa angelaufen kam.

„Aber er hat nur ein Paar dabei“, sagte Schüssli.

„Und Eishaken“, sagte von Stein. „Dann müssen wir eben einzeln hoch.“

„Zitterst du schon wieder vor Angst, Hosenscheißer?“, sagte Sam.

Roger Schüssli biss sich auf die Lippe und überhörte den Kommentar.

„Ich gehe zuerst“, sagte er dann und griff sich die Ausrüstung.

„Wir werden dich sichern, Roger. Ich binde dir das Seil um den Bauch, nur für den Fall der Fälle. Der Weg geht dort oben weiter. Du musst also nicht nur rüber, sondern auch hoch.“

Schüssli schnallte sich die Eisenspitzen unter die Schuhe und nahm die zwei Metallhaken in die Hände.

„Immer erst die Haken in die Eiswand. Das Gewicht auf die Füße verteilen. Mit den Beinen steigen. Nie über die Arme hochziehen. Alles aus den Beinen heraus. Mit den Armen hältst du sonst nicht lange durch. Und das kann gefährlich werden. Deinen Schwerpunkt immer dicht an der Wand. Dann schaffst dus.“

„Alles klar. Wir sehen uns oben!“, sagte Schüssli.

Dann schlug er die Haken ins Eis.

„Das sieht wie ein gefrorener Wasserfall aus“, sagte Slinkssons.

„Höchstwahrscheinlich ist es das auch.“

„Dann haben wir Glück, dass nicht gerade Tauwetter ist. Wie soll er den Überhang da schaffen?“

„Rede nicht so viel, sondern konzentrier dich aufs Sichern.“

 

Laima beobachtete, wie Roger Schüssli sich an der Eiswand vorantastete. Es lenkte sie von dem unguten Gefühl ab, das Lhatsen zwischen ihnen geweckt hatte. Schüssli hackte mit dem Fuß ins Eis, um festen Halt zu finden. Dann spreizte er die Arme und schlug einen der Haken in die Wand. Eisstücke splitterten ab und fielen klirrend am gefrorenen Wasserfall hinunter.

„Jetzt kommt er langsam rein“, sagte von Stein. „Er ist gar nicht so schlecht.“

„Wo ist seine Höhenangst geblieben?“

„Freuen wir uns doch, dass er uns ein Mal auf dieser Reise damit keine Probleme macht.“

„Hoffen wir, dass es auch so bleibt.“

„Hier ist der Weg“, rief Schüssli zu ihnen herunter. „Ich bin gleich da!“

„O je, jetzt hat er runter geschaut. Das geht schlecht aus.“

„Nein. Er reißt sich zusammen und klettert weiter.“

„Was für ein Gesicht, als er nach unten gesehen hat. Das hätte ich zu gerne als Foto. Schade!“

„Jetzt ist er gleich drüben! Aufgepasst! Er steigt aus der Wand. Geschafft!“, sagte von Stein. „Jetzt die Eisen an die Leine binden!“, rief er zu ihm hoch.

Schüssli tat es und ließ sie fallen.

„Der Nächste!“

 

Als nur noch Laima, von Stein und Gompa übrig waren, sprach der Samadhi zu ihnen.

„Von ihnen wird es abhängen. – Was mit dieser Welt geschieht, liegt nun in ihren Händen. – Seien sie sich dessen bewusst. Meine und damit auch unsere Aufgabe ist hiermit erfüllt“, sagte er und nickte Gompa zu, der lächelte. „Wir werden jetzt einen schönen Becher Tee zusammen trinken. Wir haben uns viel zu erzählen.“

„Vielen Dank, Gompa“, sagte von Stein und drückte beiden herzlich die Hand.

„Laima, sie gehen vor. Die Andren sollen mich dann von oben sichern.“

 

An der Eiswand zu klettern, war schwer. Wie eine ungelenke Spinne kam sich Laima vor. Sie drückte sich so nah wie möglich an die Wand.

Die Kälte des Eises drang durch ihre Kleidung und brannte auf ihrem Gesicht. Vorsichtig suchte sie neuen Halt. Sie zog sich an den Armen hoch. Weiter, dachte sie. Einfach immer weiter. Sie versuchte, nicht nach unten zu sehen.

„Nicht mit den Armen!“, rief von Stein. „Stemmen! Mit den Beinen. Nur mit den Beinen!“

Dann merkte sie es. Ihre Armen fingen an zu übersäuern. Sie begannen, unter der Anstrengung zu zittern. Wurden immer schwächer. Wenn sie loslassen musste, würde sie mit voller Wucht aufs Eis prallen. Sie schlug die Haken, so fest es ging, in die gefrorene Wand.

Sie versuchte, sich zu konzentrieren. Sie rammte ihren Fuß ins Eis und legte ihr Gewicht drauf. Weiter. Einfach weiter, dachte sie.

Dann packte sie jemand an der Kleidung und zog sie hinauf.

„Nicht schlecht so eine Kletterpartie, was?“, sagte Slinkssons. „Ich glaube, dieses Mal haben wir alle geschwitzt. Nicht nur Roger.“

Sie ließen die Eisen ab. Nach kurzer Zeit war auch von Stein bei ihnen.

 

„Dort drüben! Könnte das schon die Höhle sein?“, sagte Schüssli.

Als sie zur Höhle kamen, stießen sie auf eine schwere verkohlte Holztür, die den Eingang versperrte.

„Es sieht so aus, als seien wir hier richtig“, sagte von Stein.

„Aber das hilft uns nicht weiter. Die Tür ist zwar verkohlt“, sagte Slinkssons und trat dagegen, „aber sie lässt sich nicht öffnen.“

Sam beugte sich vor, um sich das große Schloss genauer anzusehen.

„Was siehst du dir da an?“, fragte Slinkssons.

„Vielleicht haben wir doch eine Möglichkeit“, sagte er. „Das ist nicht gerade das neuste Modell. Reich mir mal von der Steigausrüstung die Hakenkralle da. Wenn ich die Spitze zwischen die Steine hier stecke und umbiege. Dann etwas mit dem Stein zurechtklopfe“, er schlug die zu einem ‚L’ gebogene Spitze des Hakens flach, „dann könnte es hineinpassen.“

„Warst du in deinem früheren Leben mal beim Schlüsseldienst?“

„So was Ähnliches! Und jetzt reinstecken und ...“

„Vorsicht!“

„Zurück!“

„Die Tür geht in Flammen auf!“

 

„Mann, ich hätte mir fast den Arm abgefackelt!“

„Die Tür brennt immer noch wie ein Lagerfeuer.“

„Das hätten wir uns denken können“, sagte Figaro Slinkssons. „Der Samadhi redete von den vier Elementen. Und die Tür war schwarz verkohlt. Wie dumm muss man sein, das nicht zu verstehen?“

„Na, das haben wir sauber hingekriegt“, sagte Sam.

„Wenn wir den Schlüssel rausziehen, hört es dann wieder auf?“, sagte Laima.

„Probieren wir es! Ich brauche ein feuchtes Tuch“, sagte Sam.

Er zog sein Unterhemd aus und tränkte es mit Wasser, um es sich über den Arm und um die Hand zu wickeln.

„Vorsicht, das Metall müsste glühend heiß sein“, sagte von Stein.

Sam beugte sich so tief wie möglich herunter, um der Hitze auszuweichen.

Als er seine Hand nach dem Schlüssel ausstreckte, loderten die Flammen auf. Sam zuckte zurück. Dann griff er zu. Es zischte, als der feuchte Lappen das Metall berührte.

Es sah aus, als habe er Schwierigkeiten, ihn herauszuziehen.

„Was macht der Idiot da?“

„Gar nicht“, sagte Laima.

Statt den Schlüssel herauszuziehen, versuchte Sam, ihn im Schloss zu drehen. Er kniff die Augen vor der Hitze zusammen und tauchte unter den aufschnellenden Flammen weg. Dann knackte das Schloss. Die Tür sprang auf.

Augenblicklich erlosch das Feuer. Rauchend schwang die versengte Tür auf.

„Du hast es geschafft, alter Teufelsbraten“, sagte Slinkssons.

„Wie ein Teufelsbraten fühle ich mich auch. Mein Fleisch ist schon nicht mehr medium, sondern gut durch. Wasser, bitte!“

 

„Das waren also schon zwei der vier Türen“, sagte Laima. „Feuer und Wasser!“

„Bleiben noch Luft und Erde!“, sagte von Stein.

„Könnte die Luft in der Höhle gefährlich sein? Vielleicht giftig?“, fragte Schüssli.

„Es bleibt uns nichts anderes übrig, als es herauszufinden.“

„Vielleicht nicht alle auf einmal.“

„Das ist ein sehr ökonomischer Vorschlag, Roger. Wer will das Versuchskaninchen sein? Keiner? Gut, dann muss ich es eben selber machen.“

„Ich komme mit“, sagte Laima.

Sie war enttäuscht, dass Lhatsen sie einfach so gehen ließ. Es schien ihm nichts auszumachen.

„Wir werden die Aurometer einschalten“, sagte er, den Bione-Scanner in der Hand. „Wenn alles in Ordnung ist, werden wir euch rufen.“

Sie schalteten ihre Taschenlampen ein und stiegen, an der verkohlten Tür vorbei, in die Höhle.

 

 

 

Die Wesen
titlepage.xhtml
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_000.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_001.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_002.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_003.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_004.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_005.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_006.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_007.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_008.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_009.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_010.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_011.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_012.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_013.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_014.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_015.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_016.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_017.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_018.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_019.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_020.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_021.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_022.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_023.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_024.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_025.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_026.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_027.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_028.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_029.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_030.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_031.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_032.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_033.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_034.html
CR!X8T01Q5JG17KK2H5TA5QKHHKAJ22_split_035.html