26
Schritt für Schritt bewegten sie sich vorwärts. Wasser tropfte von der Decke.
„Brrr, ist das kalt hier“, sagte Roger Schüssli.
„Geht es allen soweit gut?“
„Außer einem leichten Druck im Kopf“, sagte Slinkssons. „Ich glaube, er wird stärker.“
Figaro Slinkssons verzog vor Schmerz das Gesicht.
„Kein Witz?“
Von Stein warf einen Blick auf Slinkssons Aurometer. Zwei grüne Balken waren bereits verschwunden. Ein Weiterer erlosch.
„Das sind höllische Schmerzen“, sagte er und sackte zusammen. „Ich glaube ich dreh durch. ARRRGGH!!!“
Er wand sich. Die Anzeige seines Aurometers fiel schneller.
„ARRRGGH!!!“ Auch Sam fiel zu Boden.
Aus der Tiefe der Höhle schossen helle Lichter auf sie zu.
„Hilfe“, rief Schüssli und rannte aus der Höhle.
„Wir müssen sie rausschaffen. Sonst sind wir gleich alle dran.“
Die Lichter umschwirrten sie.
Laima wurde schwindelig. Sie glaubte, die Kontrolle über ihre Sinne zu verlieren. Angst stieg in ihr auf.
„Raus! Los!“, schrie von Stein und zerrten mit Gompa Sam und Slinkssons zum Ausgang der Höhle.
Dann ließen die Assuri schließlich von ihnen ab und verschwanden.
Sie lagen alle am Boden.
„Mann, das hätte ich nicht gedacht“, sagte Slinkssons keuchend.
„Verdammt!“, sagte Sam. „Liegt es an uns oder warum lassen uns diese Geister da nicht rein?“
„Ich weiß es nicht“, sagte von Stein. „Ich werde es jetzt mit dem Bione-Scanner versuchen. Vielleicht kann ich die Energie der Assuri einfangen, umwandeln und zurückschicken. Als Botschaft. Und so die Energien neutralisieren. Wenn das nicht klappt, ist unsere Reise hier zu Ende.“
„Also ich bin nicht scharf drauf, da noch mal reinzugehen“, sagte Sam.
„Ich auch nicht“, sagte Schüssli.
Von Stein nahm den Bione-Scanner.
„Ich werde es jetzt versuchen!“
Er stellte sich vor den Eingang und richtete das Gerät in den Tunnel.
„Halt!“, rief Gompa. „Ist das gefährlich? Am Ende des Tunnels sitzt der Samadhi. Wenn sie in die Höhle schießen, könnten sie ihn treffen.“
„Sitzt er genau in der Mitte des Tunnels?“
„Ja.“
„Dann werde ich den Scanner so einstellen, dass die Energiewelle groß genug sein wird, damit der Ring ihn nicht berührt.“
„Mögen die Götter uns gnädig sein“, sagte Gompa. „Sind sie auch sicher, dass es klappt?“
„Sicher ist man sich immer erst hinterher! Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.“
Dann drückte er ab.
Nichts passierte.
„Mist! Mist! Mist!“
„Was ist los?“
„Der Scanner ist aufgeladen, aber er geht nicht los.“
„Und was ist mit dem zweiten Prototyp?“, fragte Schüssli.
„Der ist kaputt. Er hat den Sturz aus dem Flugzeug nicht überlebt.“
„Dann wars das?“, fragte Sam. „Können wir jetzt endlich wieder nach Hause gehen?“
„Ich weiß es nicht“, sagte von Stein und schlug wütend auf den Scanner.
Ein leises Rauschen, dann löste sich ein heller Ring genau in der Größe der Tunnelöffnung und glitt langsam in die Tiefe der Höhle. Sie sahen seinen hellen Schein, der an den Tunnelwänden entlangglitt und verschwand.
„Juchuh“, rief von Stein und küsste seinen Assistenten auf die Stirn. „Wir haben es geschafft! Jetzt wollen wir hoffen, dass wir bis zum Samadhi kommen.“
„Und dass er nicht schon selbst bewusstlos in der Höhle liegt“, sagte Slinkssons.
Langsam folgten sie Gompa ins Innere des Berges. Laima sah mit einem Auge auf ihr Aurometer. Sie war bereit, jederzeit den Rückzug anzutreten. Aber sie kamen ohne Schwierigkeiten voran.
„Da liegt mein Aurometer“, sagte Sam. „Ich habe es vorhin hier verloren.“
„Wenn es so gut weitergeht, könnten wir es fast schaffen“, sagte von Stein. „Göttergnade oder Bione-Scanner sei Dank.“
Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen tasteten sich an den Tunnelwänden entlang. Niemand klagte über Beschwerden. Dann erreichten sie eine kleine Höhle.
„Da! Da sitzt er. Auf dem Stein.“
Auf einem runden Stein, in der Mitte der Höhle, saß ein bärtiger, dünner Asket im Lotossitz. Er hatte langes weißes Haar und trug nichts weiter als ein Tuch um die Lenden.
„Da frierts mich ja, wenn ich den nur sehe“, sagte Schüssli.
„Ja, vier Grad sind das hier bestimmt“, sagte von Stein.
„Gefühlte minus vier!“, sagte Sam.
„Seine Haut sieht aus wie Stein. Blutleer und grau. Er atmet nicht“, sagte Slinkssons.
„Und wacht er auf, wenn sie herkommen?“, wollte von Stein wissen.
„Ich komme alle sechs Vollmonde ein Mal. Aber ich habe nie gesehen, dass er die Augen öffnete.“
„Sie haben also noch nie mit ihm gesprochen?“
„Nie. Seit ich ein Junge war und mein Vater mich das erste Mal hierher mitnahm.“
„Eine erstaunliche Freundschaft.“
„Und wie lange sitzt er hier schon?“, fragte Slinkssons.
„Soweit die Geschichte meiner Familie reicht“, sagte Gompa.
„Nicht anfassen!“, rief von Stein.
„Er ist wirklich ganz kalt“, sagte Sam. „Wie Stein. Seine Haut ist ganz trocken.“
„Müssen sie immer wie ein kleines Kind alles antatschen!“
„Ich dachte, vielleicht ist er tot. Und Gompas Familie kommt Generation für Generation, nur um sich eine Mumie anzusehen.“
„Wenigstens ist er noch am Leben“, sagte Laima. „Sehen sie! Er öffnet die Augen.“
Der Samadhi schlug die Augen auf. Langsam, ganz langsam hob sich sein Brustkorb. Luft strömte mit einem leisen Zischen, zwischen seinen Lippen hindurch, in seine Lungen. Dann atmete er langsam wieder aus.
Es dauerte eine Weile, in der alle ihn anstarrten. Die Gegenwart, die sich vor ihnen entfaltete, war wie das Schauspiel eines Schmetterlings, der seinem Kokon entsteigt, um seine Flügel für ein neues Leben auszubreiten. Langsam, unbeholfen fand die Seele zurück in ihren Körper. Stück für Stück. Bewegung um Bewegung. Atemzug um Atemzug hielt das irdische Leben wieder Einzug in den Samadhi.
Seine Lungen füllten sich erneut mit Luft. Seine Adern begannen zu pulsieren. Und seine Haut verwandelte sich vom aschfahlen Grau in ein zartes Rosa.
Trotz des Alters dieses Mannes hatte Laima den Eindruck, als entfaltete sich die Knospe einer Blume zu einer wunderschönen, frischen Blüte.
„Was für eine Freude“, sagte der Samadhi mit fester Stimme, die von den Höhlenwänden hallte.
„Sie sprechen unsere Sprache?“
„Ich spreche alle Sprachen dieser Welt. Und darüber hinaus! Ich tue nichts anderes, als zu reisen und zu lernen.“
„Entschuldigen sie vielmals, dass wir sie aus ihrer Versenkung gerissen haben“, sagte von Stein und fiel auf die Knie.
Auch Laima spürte die Ehrerbietung, die von dem Samadhi ausging.
„Es ist nichts. Alles hat seinen Platz. Alles hat seine Zeit.“
Er streckte seine Glieder aus.
„Und es ist immer wieder schön, in diesen Körper zurückzukehren. Die Erde unter meinen Füßen zu spüren“, sagte er und stand von seinem Stein auf.
„Gompa, lass dich in die Arme schließen. Über so viele Dekaden habt ihr euch um mich gekümmert. Ich bin dir und deiner Familie zu Dank verpflichtet.“
Er schloss Gompa in seine Arme und fiel dann vor ihm auf die Knie, um Gompas Hand auf seine Stirn zu legen.
„Dein Segen hat mir all dies ermöglicht.“
„Bitte steht auf. Ich bin es nicht gewohnt, dass ihr mich so behandelt.“
„Ihr habt noch ganz anderes verdient, Gompa.“
„Und sie nehmen es uns nicht übel, dass wir sie fast umgebracht hätten?“, sagte Sam, den wohl doch ein schlechtes Gewissen plagte.
„Ganz im Gegenteil. Es ist an der Zeit, dass die Menschheit die Wahrheit erfährt. Deswegen bin ich hier.“
„Was meinen sie?“
„Geduld, Slinkssons“, sagte von Stein.
„Die Welt steht am Abgrund“, sagte der Samadhi.
„Und morgen sind wir schon einen Schritt weiter“, flüsterte Schüssli.
„Es ist kein Zufall, dass ihr hier seid“, sagte der Samadhi. „Zufall ist nur eine Ausrede, um das Offensichtliche nicht sehen zu müssen. Ich werde euch erzählen, wie alles begann.
Zuerst war das Nichts. Weniger als alles, was man sich vorstellen kann. Es gab nämlich niemanden, der da war, um es sich vorstellen zu können. Dann entstand das Bewusstsein. Wir sagen auch, Gott fing an zu träumen. Es entstanden die Engelwesen. Und sie erschufen durch ihr Sein den Raum.
Zuerst war es nur ein Punkt. Dieser Punkt dehnte sich aus zu einer Kugel. So entstanden die Himmelsrichtungen. Auf dem Rand dieser Kugel erschufen sie das Zentrum einer weiteren Kugel. Damit war die Welt geboren.
Diese Grundlage allen Seins bildet bis heute das Muster, nach dem sich jede Zelle eines Menschen teilt, wenn sein Körper aus dem Nichts entsteht. Aber bis zum Menschen war es noch ein langer Weg.
Nach den Engeln, die selbst körperlos waren, sie bestanden lediglich aus Geist, entstand die zweite Zivilisation, die Hyperboreer. Es waren ätherische, geisterhafte Wesen. Unendlich lang und dünn. Sie pflanzten sich durch Knospung fort, indem sich ihre Körper teilten.
Dann folgten die Lemurer, die bereits über dichte, fest Körper verfügten. Sie entstanden aus Feuchtigkeit und Wärme. Gefolgt von den Atlantern, die kompakt und mit einer Größe von mehreren Metern am ehesten den Menschen ähnlich waren. Bis wir schließlich erschaffen wurden.“
„Gingen die Zivilisationen einfach unter? Was geschah mit ihnen?“
„Apokalypsen. Die Achse des Universums verschob sich. Alles wurde ausgelöscht. Jedoch nicht ganz. Die Zivilisationen gingen unter, aber Einzelne aus ihnen blieben zurück. Diese Avatare halfen mit ihrem Wissen, die neuen Zivilisationen aufzubauen. So ermöglichten sie eine Evolution vom Geist zur Materie. Ein langer Prozess, der über einen unendlichen Raum hinweg geschah.“
„Und jetzt? Heißt es, wir stehen wieder vor einer Apokalypse?“
„So ist es. Und ihr seid hier, dies zu verhindern. Zu verhindern, dass alles ein Ende findet!“
„Wie sollen wir das denn schaffen?“
„Hilfe ist dort, wo sie benötigt wird. Jede neue Zivilisation bekam Hilfe. Die Avatare sind da. Sie warten auf euch. Damit sie ihr Wissen weitergeben können. Damit der Übergang in die neue Zeit beginnen kann.“
„Und wo finden wir sie?“
„Das werde ich euch sagen. Den Weg selbst müsst ihr allerdings alleine gehen.“