12
Sie setzten schon lange nicht mehr einen Fuß vor den anderen, sondern bewegten sich flach an den Berg gepresst.
„Der Vorsprung ist viel zu niedrig. Wir werden abstürzen“, sagte Sam ‚The Rock’.
Er war der problematischste Kandidat.
„Es wird schon irgendwie gehen“, sagte Laima. „Wenn wir uns an den Händen halten, sollten wir es schaffen.“
Das Gleichgewicht ihres Körpers hielt sich auf dem schmalen Grat eben die Waage. Die Klippe vor ihnen zwang sie in die Knie, sodass sie ihren Schwerpunkt weiter über den Abgrund verlagern mussten. Der Fels bot kaum halt. Die einzige Möglichkeit bestand darin, dass sie sich gegenseitig festhielten. Der junge Dropa war bereits am Hindernis vorbei. Für eine Sekunde dachte Laima, er könne sie bewusst in eine Falle gelockt haben, um sie in den Tod zu stürzen und den Geiern zum Fraß zu überlassen. Doch dann streckte er ihr seine Hand entgegen.
„Ich werde ebenfalls versuchen dich festzuhalten, Laima“, sagte Sam. „Auch wenn ich fürchte, mit meinem Gleichgewicht genug zu tun zu haben.“
Laima musste sich bücken. Jetzt durfte sie nicht abrutschen. Auch wenn der Junge und Sam sie hielten, mussten sie im Zweifelsfall loslassen, um nicht mit in den Tod gerissen zu werden. Sie durfte nicht nach unten sehen. Mehrere hundert Meter freier Fall. Sie hing an zwei Händen. An Sams und der des Jungen. Sie musste vertrauen. Zweifel waren ihr sicherer Tod. Sie merkte, wie ihre Handflächen schwitzten. Auch Sam war nervös. Er versuchte, seine und Laimas Hand in der Nähe der Felswand zu halten. Er ging mit ihr in die Knie. Er wackelte kurz. Dann ließ er los.
Der Dropa zog sie um die Ecke zu sich und sie stürzte auf den Vorsprung. Tatsächlich wurde der Weg dahinter breiter, man konnte normal stehen.
„Kommen sie, Sam“, rief sie. „Hier hinter ist genügend Platz.“
Jetzt fasste sie nach Sams Hand. Der junge Dropa versuchte, Laima zu halten.
„Langsam! Langsam“, sagte sie. „Jetzt!“
Mit Schwung zog sie, so fest sie konnte, an Sams Hand.
„Ich schaff es nicht“, schrie er und rutschte ab.
Sein Oberkörper schlug gegen die Kante der Klippe. Seine Arme stoppte den Fall. Er stütze sich mit den Ellenbogen auf. Sofort griff Laima zu. Auch der Dropa packte an, um Sams massigen Körper heraufzuwuchten. Sie konnten es mit eigener Kraft alleine nicht schaffen, trotzdem hielten sie ihn so fest es ging.
„Können sie sich mit den Beinen abstoßen?“, fragte Laima.
„Ich versuchs. Jetzt! Ja, es geht. Ziehen sie!“
Mit aller Kraft hievte sie Sam ‚The Rock’, der tatsächlich so schwer wie ein Felsbrocken war, herauf.
„Danke“, stöhnte er, als er auf dem Rücken lag und schnaufte.
„Ich, ich glaube, ich schaffe das nicht“, hörten sie bereits Schüssli hinter dem Felsvorsprung.
Sam rappelte sich auf und zog erst Figaro Slinkssons und dann Professor Carlsen zu sich herüber.
„Ich kann das nicht, ich stehe so schon kaum auf den Beinen“, jammerte Schüssli.
„Wissen sie was“, sagte von Stein, „wenn sie nicht in die Hocke gehen und sich um diesen verdammten Felsen schleifen lassen, gebe ich ihnen einen Tritt, der das Problem sofort löst. Scheißen sie sich nicht ein und gehen sie gefälligst in die Knie!“
Erst herrschte einen Moment Stille. Alle waren überrascht von diesen Worten. Dann sahen sie in Kniehöhe eine zitternde Hand. Slinkssons, der am nächsten stand, zögerte nicht lange und riss den Arm herum, an dem Schüssli baumelte.
Von Stein schlüpfte bereits ohne jede Hilfe hinterher. Roger Schüssli wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Der Pfad war nun breit genug, um bequem und sicher zu gehen. Von Stein war an allen vorbei und ging an zweiter Position hinter dem Dropa. Offenbar wollte er soweit wie möglich von seinem Assistenten entfernt sein. Der trottete hinter allen her, aber niemand schenkte ihm Beachtung.
Die felsige Bergflanke öffnete sich, wurde weniger steil und brüchiger. Eine Art natürliche Treppe führte in engen Serpentinen hinunter. Sie folgten dem Dropa, der immer wieder sein Tempo drosseln musste. Das Heruntersteigen war wesentlich anstrengender als das Klettern. Bereits nach kurzer Zeit merkte Laima, wie ihre Waden krampften. Der Blick ins Tal aber bezauberte sie. Es war eine Entschädigung für die Anstrengungen. Sie freute sich, dass sie einen Weg gefunden hatten und die aufkeimende Hoffnung wiedergekehrt war. Der Weg hinab war zwar noch weit und die Stelle mit ihrer Ausrüstung schienen sie gänzlich aus dem Blick verloren zu haben, aber das Leben war neu und voller Versprechungen.
Die Geier waren verschwunden und der Himmel war aufgeklart.
„Ich schlage vor, wir machen eine kleine Rast“, sagte von Stein, dessen Missmut verflogen war.
Alle nahmen den Vorschlag gerne an. Das Trockenfleisch wurde großzügig aufgeschnitten. Die Stimmung war ausgelassen und Sam erzählte sogar ein paar Witze. Professor Carlsen wirkte erschöpft und blass, was aber, seinem Alter entsprechend, kaum eine Überraschung war. Die Kühle, die vom Fluss aus dem Tal aufstieg, war bereits spürbar. Laima war verschwitzt und froh, sich wenigstens am Morgen ein Bad gegönnt zu haben.
„Wann werden wir die Stelle mit unserem Equipment erreichen?“, fragte Professor Carlsen.
Von Stein wandte sich an den Dropa.
„Der Junge sagt, es könnte sein, dass wir heute noch die Stelle erreichen. Aber es könnte ebenso gut sein, dass wir es nur knapp bis hinunter ins Tal schaffen. Ich vermute, dass es am Fluss, aufgrund des schwankenden Wasserstands in der Monsunzeit, sehr schwierig sein wird, einen Weg durch das Tal zu finden.“
Nach einer angemessen kurzen Rast, sie durften sich in den verschwitzten Sachen nicht zu lange ausruhen, stiegen sie, gestärkt vom frischen Wasser und der Zehrung, weiter abwärts.
Mit der guten Laune erwachten aber auch die dunklen Gedanken wieder zum Leben. Ob man wollte oder nicht, holte einen alles wieder ein, dachte Laima. Dennoch blieb ihr nichts weiter übrig, als Stein um Stein hinabzusteigen. Alle Grübeleien würden ihr nichts nützen. Weder Gedanken über ihre möglicherweise beschädigte Ausrüstung noch über den Tod, der unter ihnen lauerte.
Je weiter sie hinunterstiegen, umso unebener wurde der Weg. Die natürlichen Stufen lösten sich immer mehr auf. Es wurde weniger steil und sie merkten, dass sie der Talsohle näher kamen. Dafür war es umso umständlicher, über die immer größer werdenden Steinbrocken zu klettern. Mühsam mussten sie sich ihren Weg hinunterbahnen. Es glich mehr einem über die Felsen Hinabrutschen als einer Bergtour. Jeder einzelne Fels wurde zur Herausforderung. Die Ersten die hinabstiegen waren meist von Stein und der junge Dropa, aus dem sie immer noch nicht seinen Namen herausbekommen hatten.
Danach war die Reihenfolge der Absteigenden so gestaffelt, dass die Schwereren wie Sam und Figaro Slinkssons dem Professor halfen, hinunterzusteigen. So sparten sie ihre Kräfte. Sie kamen nur langsam voran, sodass sie bis zum Abend knapp oberhalb des Wasserlaufs angelangt waren. Die Dämmerung brach herein.
„Ich denke, wir sollten für heute hier unser Lager aufschlagen“, sagte von Stein. „Bis hinunter ans Wasser würden wir sicherlich noch ein bis zwei Stunden brauchen.“
„Ich fühle mich total fertig“, sagte Schüssli, und Professor Carlsen und Sam schnauften zustimmend.
„Außerdem erscheint es mir auch sicherer, nicht direkt am Wasser zu kampieren, um nicht von einem plötzlichen Wasseranstieg des Flusses überrascht zu werden“, sagte von Stein.
„Ja, im Dunkeln weiter abzusteigen macht keinen Sinn“, sagte Slinkssons. „Ein wärmendes Feuer werden wir wohl nicht zusammenkriegen in dieser kahlen Einöde.“
„Dort unten am Fluss liegt zwar jede Menge Treibholz, aber ich glaube nicht, dass einer von uns damit bis zum Morgengrauen wieder zurück wäre“, sagte von Stein.
„Unsere Schlaffelle werden das Einzige sein, das uns vor dem Frieren schützt“, sagte Laima und rollte ihrs aus, um es sich umzulegen.
Sie teilten noch etwas von ihren Vorräten, während sich die Nacht über sie legte. Der klare Sternenhimmel zeigte sich. Laima fror und es dauerte lange, bis ihre Sachen sich nicht mehr völlig nass anfühlten. Schweigend hatte sich jeder hingelegt. Niemand konnte einschlafen. Auch Laima nicht, obwohl sie müde war.
Sie hatte sich das Schlafen unter freiem Himmel immer romantisch und schön vorgestellt. Natürlich hatte sie oft gezeltet. Aber ganz ohne Dach fühlte sie sich ausgeliefert. Der Sternenhimmel, so schön er auch war, spiegelte ihre Verlorenheit. Sie kam sich winzig wie ein Staubkorn vor. Die Berge um sie herum lagen in tiefer Finsternis.
Sie erschrak. Ein Stein fiel in der Ferne. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er irgendwo im Tal liegenblieb. Wer hatte ihn ins Rollen gebracht? Hatte er sich von selbst gelöst? Die Geräusche wirkten, wenn sie auch weit weg sein mochten, durch die Beschaffenheit des Tals ganz nah. Sie lauschte in die Stille. Nichts. Oder bewegte sich doch etwas im Dunkel der Nacht? Schleichend leise? Gleitend wie eine Schlange? Lautlos, um aus der Dunkelheit zu schnellen und seine Zähne blitzartig in sein Opfer zu schlagen? Lauerte das Untier dort draußen auf sie? War es möglicherweise ganz nah neben ihr? Alles um sie herum war schwarz. Sie konnte nicht einmal ihre eigene Hand sehen. Ihre Augen starrten in die Nacht. Bewegte sich dort etwas? Oder spielten ihre überspannten Nerven ihr einen Streich?
Das Schlagen von Hufen ließ ihr fast das Herz stehen. Ein pfeifender Tinnitus in ihren Ohren setzte ein, der es ihr unmöglich machte, die Richtung zu bestimmen, aus der das Geräusch kam. Wild drehte sie sich hin und her und versuchte verzweifelt etwas in der Dunkelheit zu erkenne. Sie hatte den Eindruck, dass auch die Anderen sich aufgerichtet hatten.
„Das sind nur ein paar wilde Bergziegen“, hörte sie von Steins Stimme durch das Pfeifen in ihren Ohren, das langsam verschwand, je mehr sie sich entspannte.
Die kühle Feuchtigkeit, die vom Fluss aufstieg, wurde zu einer beißenden Kälte auf ihrem Gesicht. Trotzdem überkam sie mit einem Mal der Schlaf und riss sie hinfort. Sie träumte von Geiern, die sie packten, auf sie hackten. Stücke aus ihr herausrissen, ohne dass sie sich dagegen wehren konnte. Unter furchtbaren Schmerzen wand sie sich. War sie bereits tot? Warum tat es dann so unsagbar weh? Oder empfand man Schmerzen, obwohl man bereits gestorben war?
Schweißnass wachte sie auf. Ihre Rippe hatte sich verklemmt und ihr Arm war auf dem harten Untergrund eingeschlafen. Sie versuchte, durchzuatmen und ihre Rippe so zu befreien. Tief sog sie die kalte, feuchte Luft in ihre Lungen. So fest, dass mit einem heftigen Stich die Rippe nachgab. Langsam ebbte auch das Brennen ihres tauben Arms ab. Sie legte sich auf den Rücken. Der reale Schmerz machte aus ihrem Traum einen unheimlichen Spuk. Realität und Vorstellungswelt verschmolzen so, dass Laima das Gefühl bekam, weder der einen noch der andren entrinnen zu können.
Was war das? Bewegte sich jemand oberhalb von ihr? Schlich der Mörder umher? Suchte er etwas? Sie lauschte angestrengt in die Nacht. Würde er kommen, ihr den Hals durchzuschneiden? Würde sie aufwachen und um sie herum wären alle tot? Waren sie es vielleicht schon? Aber wie würde der Mörder sich selbst aus dieser Lage befreien? Er wäre ebenso schutzlos der Natur und der Wildnis ausgeliefert wie sie. War er nicht auf die Hilfe der Anderen angewiesen wie jeder von ihnen?
War es Thian? Er war seit Lukla dabei. Dort musste der Anschlag auf das Flugzeug vorbereitet worden sein. War es Slinkssons, wie sie vermutete? Oder war es am Ende der Pilot Ranjid Singh gewesen? In wessen Auftrag? Und warum hätte er sich von Stein offenbaren sollen, wenn er der Saboteur war?
Der Gedanke, dass der Mörder, der es auf sie abgesehen hatte, sollte es Ranjid Singh gewesen sein, nicht mehr unter ihnen war, beruhigte Laima, sodass sie schließlich zurück in den Schlaf fand, ohne es selbst zu merken und ohne weitere Albträume. Zumindest keine, an die sie sich am folgenden Morgen erinnerte.
Der Himmel war blau und die Sonne schien Laima direkt ins Gesicht. Alle Knochen taten ihr weh und sie lag noch eine Weile im Halbschlaf, um ihrem Körper Erholung zu verschaffen. Das Atmen der Anderen um sie herum gab ihr die Gewissheit, dass alle noch am Leben waren und sich die Albträume der Nacht nicht bewahrheitet hatten.
So miserabel sich ihr Körper anfühlen mochte, empfand sie so etwas wie stille Freude und Dankbarkeit. Der Morgen war so hell und klar wie das Bergwasser, in dem sie tags zuvor gebadet hatte. Zwischen den Fellen war es einigermaßen warm. Sie wartete, bis einer nach dem anderen aufwachte. Der sonnige Tag wirkte sich auf alle belebend aus und neue Kraft strömte nicht nur durch Laimas Körper.
„Frühstück?“, fragte Professor Carlsen, nachdem alle mehr oder weniger wach waren.
„Ich glaube, getrocknetes Fleisch ist heute Morgen nicht das Richtige, danke“, sagte Laima.
Die Männer, bis auf den Dropa, schälten sich dünne Scheiben vom Schinken. Laima nahm nur einen Schluck Wasser zu sich und fühlte sich trotz des Hungers frisch und gestärkt.
„Dann machen wir uns mal auf“, sagte von Stein.
„Auf zu unseren Sachen“, sagte Schüssli.
„Und zu einem ordentlichen Mittagessen“, sagte Sam. „Dieser Ziegenschinken zum Frühstück, mittags und abends und wieder zum Frühstück kommt mir langsam zu den Ohren raus.“
Laimas Knochen und die Gelenke erholten sich mit jeder Bewegung und schnell war mit dem schwindenden Schmerz die Erinnerung an die Nacht mit ihren Schatten ausgelöscht. Alles um sie herum erschien ihr bei Tag so normal und unbedrohlich, dass sie sich fragte, wie ihr Geist ihr solche wahnhafte Streiche spielen konnte.
Der Fluss lag jetzt in greifbarer Nähe unter ihnen. Die Kletterei machte allen Spaß angesichts des nahenden Ziels. Das Rauschen des Wassers wurde immer lauter. Es brauste und schäumte wild zwischen den großen Felsen, und die Wogen und Strudel ließen die Wasseroberfläche brodeln und tanzen.
Sie kamen am Fluss an. Der Stand des Wassers war, wie Gerold von Stein vorhergesagt hatte, zur Monsunzeit höher als gewöhnlich. Der Strom wirkte wild und bedrohlich kraftvoll. Sie stiegen vorsichtig über die feuchten Steine. An manchen Stellen der engen Schlucht mussten sie sich direkt an der steilen Felswand knapp oberhalb des reißenden Flusses bewegen. Die Wogen schlugen ihnen entgegen, als wollten sie die Mannschaft mit sich reißen.
Dann öffnete sich das Tal und sie konnten unweit ihrer Position den wehenden Fallschirm erkennen, der sich immer wieder träge blähte und in sich zusammenfiel. Bald sahen sie auch die zweite Palette, die allerdings auf der anderen Seite des Flusses gelandet war. Laima hatte ein mulmiges Gefühl, wenn sie daran dachte, wie sie die zweite Charge ihrer Fracht bergen sollten. Der Fluss war unbändig und übte eine hypnotische Wirkung aus. Wenn sie länger auf die dahinschießenden Wellen sah, machte es sie schwindelig und konnte sie leicht dazu bringen, in die Fluten zu fallen.
Sie stiegen durch das offene Tal. Da rief Schüssli etwas.
„Hier liegt ein Fallschirm“, hörte Laima ihn über das Tosen des Wassers hinweg schreien. „Was hat das zu bedeuten?“
Langsam näherten sich auch die Anderen.
„Das muss der Fallschirm aus Kapitän Ranjids Flugzeug sein“, schrie Schüssli aufgebracht und hob eine Art Rucksack hoch. „Das heißt, jemand hatte den Fallschirm während des Fluges an.“
„Und warum regen sie sich so auf?“, sagte Gerold von Stein und trat vor.
„Bleiben sie zurück!“, schrie Schüssli und zog ein Messer.
Es war das Messer, das sie von den Dropa mitgenommen hatten, mit dem sie das Ziegenfleisch zerteilt hatten. Wie gerade Schüssli an das Messer kam, war Laima ein Rätsel.
„Machen sie keine Dummheiten, Roger!“, sagte von Stein.
„Was wissen sie, was sie uns verschweigen?“, sagte er zu von Stein und hielt das Messer in seine Richtung. „Sie wollen mir doch nicht sagen, dass sie nicht auch sofort die gleichen Schlüsse gezogen haben wie ich? Wenn sie so cool sind, sind sie das nur, weil sie etwas wissen. Sagen sie es!“ Er stach auffordern mit dem Messer in die Luft.
Von Stein schwieg einen Augenblick und schien zu überlegen, wie er anfangen sollte, ohne dass alles außer Kontrolle geriet.
„Verkaufen sie uns nicht für dumm, Gerold“, sagte Schüssli. „Wenn jemand den Fallschirm getragen hat, bedeutet es, dass er einen Grund hatte, ihn zu tragen. Da er uns anderen nicht sagen wollte, dass er den einzigen Fallschirm an sich genommen hatte, wollte er uns etwas verschweigen. Nicht nur wegen des Fallschirms allein, sondern weil etwas passieren würde, das uns alle in Gefahr bringt. Ich habe einen Blick ins Cockpit geworfen. Die ausgebauten Armaturen weisen darauf hin, dass der beinahe Absturz absichtlich herbeigeführt worden ist, was derjenige wusste, der die Weste trug. Später hat er sie dann über die Klippe geworfen.“ Er machte eine Pause.
Laima ließ ihren Blick über jeden Einzelnen von ihnen wandern. Gab es eine Reaktion, ein Zucken, ein überlegenes Grinsen? Gab es in der nächsten Sekunde ein Geständnis, das Zücken einer Waffe? Nichts dergleichen geschah. Keiner der Anwesenden zeigte Anzeichen, dass er derjenige war, den Roger Schüssli in seinen Ausführungen beschrieben hatte. Niemand zuckte auch nur mit der Wimper. Entweder der Saboteur war ein verdammt guter Schauspieler oder aber an der Geschichte war nichts dran.
„Roger“, setzte von Stein vorsichtig an, „wir sind hier alle einer auf den anderen angewiesen.“
„Ich scheiß auf ihr Gesülze. Gerade sie haben es gewusst und uns anderen nichts gesagt. Sie haben uns in Lebensgefahr schweben lassen. Jeder von uns hätte zu jedem Zeitpunkt Opfer werden können. Ohne es zu ahnen, ohne sich schützen zu können. Ein Messer im Bauch. Über die Klippe gestürzt.“
„Ich wollte keine Panik verbreiten. Kein Misstrauen säen, wo es vielleicht nicht notwendig ist.“
„Sie hätten jeden von uns über die Klinge springen lassen. Eiskalt!“
„Sie haben recht. Es tut mir leid. Es war ein Fehler.“
„Ein Fehler! Sie hätten uns sofort warnen müssen.“
„Aber vielleicht war es jemand, der gar nicht zur Gruppe gehörte. Jemand aus Lukla!“, versuchte Gerold von Stein sich zu verteidigen.
„Oder es war Kapitän Singh selbst“, sagte Laima.
„Aber jetzt“, sagte Schüssli, „jetzt sollte uns klar sein, dass derjenige, der den Fallschirm hatte, der Täter war.“
„Trotzdem könnte es Singh gewesen sein“, sagte Figaro Slinkssons.
Laima wusste nicht recht, was sie von seinem Einwurf halten sollte. Slinkssons bestätigte zwar ihre Meinung, aber ein vages Gefühl im Bauch blieb, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Dass er von sich ablenken wollte.
Roger Schüssli starrte auf das Messer.
„Trotzdem macht es sie verdächtig, Gerold. Ich fordere sie hiermit auf, nicht weiter Informationen zurückzuhalten, die alle andren betreffen oder gefährden. Verpflichten sie sich, nichts mehr zu unterschlagen?“
„Mit einem Messer vorm Gesicht bleibt mir nichts andres übrig, oder?“
Schüssli ließ das Messer sinken.
„Und jetzt?“, fragte er.
„Ich schwöre“, sagte von Stein und hob dazu die Hand.
Langsam setzten sich alle wieder in Bewegung. Laima fiel auf, dass Thian nervöser war als sonst. Dauernd tastete er nach seinen Zigaretten. Offenbar hatte er sie verloren, oder sie waren aus. Die allgemeine Stimmung war gedämpft. Und als sie ihre Ausrüstung erreichten, kam keine richtige Freude auf.
Es war noch nicht mal Mittag. Alle ließen sich auf den warmen Steinen in der Sonne nieder, während Gerold von Stein den Schutzmantel seiner Konstruktion öffnete. Der Airbagball war längst in sich zusammengefallen, aber der Inhalt wirkte auf den ersten Blick tatsächlich heil und unversehrt. Alle möglichen Dinge wurden nach und nach auf den umliegenden Felsen ausgebreitet. Kocher, Matten, Schlafsäcke. Rucksäcke mit Kleidung, Apparaturen, Seile, Gummiboote.
„Damit können wir versuchen, auf die andere Seite zu kommen“, sagte Sam, als er die Boote sah.
„Vielleicht können wir schon versuchen, die Schlauchboote aufzupumpen, meine Lieben“, sagte Professor Carlsen zu Figaro Slinkssons und Sam.
„Die Seile sind vierzig Meter lang. Damit sollten wir es schaffen, über den Fluss zu kommen“, sagte von Stein.
„Warum rudern wir nicht?“, fragte Schüssli.
„Wenn wir rudern, werden wir zu weit abgetrieben. Das könnte gefährlich werden. Wir müssen ein Seil spannen und das Boot rüberziehen.“
„Wo ist eigentlich der Dropa?“, bemerkte Laima.
„Verschwunden!“
Er hatte sich einfach aus dem Staub gemacht, dachte Laima. War ihm die Gruppe nicht geheuer? Wovor hatte er Angst?
Sie hatte ja selber Angst, wenn sie ehrlich war. Sie beneidete den Dropa, der jetzt alleine aber in Sicherheit war.
„Ich werde mal mein Glück versuchen“, sagte Sam und ließ Professor Carlsen und seinen Assistenten alleine weiter das Boot aufpumpen.
Er hatte sich eine Angel aus der Vielzahl der Ausrüstungsgegenstände gegriffen.
„Ein Koch muss nicht nur Töpfe haben“, sagte er und ging, um sich in einiger Entfernung auf einen günstigen Stein zu stellen.
Immer wieder warf er die Schnur seiner kleinen Angel aus, ließ sie auf der Wasseroberfläche treiben, gab Schnur nach und holte sie wieder ein.
„Fliegenfischen. Da werden wir mal hoffen, dass die Fische in China auch anbeißen, meine Lieben.“
Slinkssons trat den Blasebalg und die Luftkammern des kleinen Bootes füllten sich allmählich.
„Wenn die Fische wie die Menschen hier sind“, sagte Slinkssons, „sollten sie alles essen, was Beine hat.“
„Außer Tisch und Stuhl, wie es so schön heißt“, ergänzte der Professor.
„Wie sollen wir eigentlich das Seil auf die andre Seite kriegen?“, sagte Schüssli.
„Haben sie vielleicht eine Idee?“, fragte Laima.
„Mit einer Lassoschlinge sollten wir es schaffen“, sagte von Stein.
Die Sache gestaltete sich schwieriger als gedacht. Laima sammelte in der Zwischenzeit trockenes Treibholz, das sich bei einem noch höheren Wasserstand zwischen den Felsen verkeilt hatte.
Nach einer Weile gaben Schüssli und von Stein auf.
„Vielleicht müssen wir doch jemanden ins Boot setzen“, sagte Professor Carlsen.
„Wenn wir ihn dann am Seil halten und er hinübermanövriert, könnte es klappen“, sagte von Stein. „Mit dem Lasso wird es nichts. Außerdem hat sich das Seil schon so voll Wasser gesogen, dass ich es kaum noch werfen kann.“
„Mir fällt schon der Arm ab“, sagte Schüssli. „Aber ich werde nicht in das Boot steigen.“
„Auch noch wasserscheu und höhenkrank“, sagte Slinkssons.
„Ich hab einen“, rief Sam vom Wasser her und sie sahen, wie er mit seiner Angelrute kämpfte, die sich unter einem starken Widerstand gefährlich durchbog. Er kurbelte wild an der Rolle, dann gab er wieder Schnur.
„Warum lässt er dem Fisch denn immer wieder los“, fragte Laima.
„Dann holte er ihn doch wieder ran. Jedes Mal ein Stückchen näher“, sagte Schüssli.
„Da, jetzt wird der Fisch müde. Muss ein ganz ordentlicher Brocken sein“, sagte Professor Carlsen und leckte sich schon über die Lippen. „Das wird ein Festmahl.“
Nach einigem Hin und Her zog Sam schließlich einen knapp siebzig Zentimeter langen, silbernen Fisch aus dem Wasser.
„Was ist das?“, fragte Schüssli.
„Sieht aus wie eine Mischung aus Lachs und Forelle“, sagte von Stein.
„Auf jeden Fall hat es keine Schlitzaugen“, sagte Sam.
Sam stach dem Tier mit einer routinierten Bewegung von oben hinter den Kopf. Laima wandte sich ab.
„Das Rückgrat durchtrennen. Jetzt merkt er nichts mehr“, sagte Sam zufrieden.
Dann ließen sie ihn weiterfischen und machten sich daran, jemanden für die Überfahrt zu finden.
„Du bist der Leichteste, Roger“, sagte von Stein.
„Könnte man auch sagen, dass ich damit am leichtesten umkippe und wir den Schwersten nehmen sollten“, entgegnete er.
„Da hast du auch wieder recht. Tiefgang ist hier von Vorteil für die Stabilität. Es sind Zweimannkajaks. Mit einem Seil sichern wir den Kapitän, mit dem andren das Boot. Slinkssons?“ Von Stein sah ihn an.
„Na gut. Ich machs.“
Sie trugen das aufblasbare Kajak über die Felsen zum Wasser.
„Hey, Sam, unterbrich mal den Fischfang!“
Mittlerweile hatte er bereits mehrere Fische neben sich auf dem Felsen liegen.
„Wir brauchen deine Hilfe!“, rief Professor Carlsen.
„Wir binden ein Seil um deine Hüfte, daran das Paddel, falls es dir aus der Hand gleiten sollte“, sagte von Stein zu Slinkssons. „Ein Seil ans Boot. Die Enden binden wir zur Sicherheit an den Felsen hier. Und wir halten dich und geben Seil nach. Du musst versuchen, durch die Strömung auf die andre Seite zu rudern. Wir müssen versuchen, dich zu halten, ohne dass die Strömung dich wegreißt.“ Von Stein klopfte ihm ermunternd auf die Schulter. „Selbst wenn du in den Bach fällst, ziehen wir dich einfach wieder raus. Kannst du schwimmen?“
Slinkssons nickte.
„Dann kann dir ja nichts passieren. Wenn du auf der andren Seite bist, knotest du das Seil um einen Felsen und wir ziehen dich mit der ersten Ladung wieder rüber.“
„Das klingt nach einem Kinderspiel. Wie am Schnürchen. Warum werde ich nur das Gefühl nicht los, dass dem nicht so ist?“, sagte Slinkssons.
In Laimas Kopf wirkte das Zusammenspiel der Gruppe so harmonisch, dass sie sich nicht vorstellen konnte, dass einer von ihnen ein Verräter sein könnte und seine Rolle so perfekt spielte. Konnte man so gut lügen? Hatte Figaro Slinkssons gerade Angst, dass seine geheimen Pläne durchkreuzt werden könnten? Welches Ziel verfolgte er? Ihm war sichtlich unwohl, als er, wenn auch angeseilt, in das Schlauchboot stieg.
Das aus Luftkammern bestehende, federleichte Kajak bockte wie ein Stier beim Rodeo, als sie es auf die Wasseroberfläche setzten. Sie hatten Mühe es mit einem Mann vorn und einem hinten überhaupt festzuhalten, damit Slinkssons einsteigen konnte. Hinzu kam, dass keiner von ihnen Erfahrung mit Booten oder auch nur Schlauchbooten hatte. Laima erinnerte sich an die Sommerurlaube am Meer. Schon die Wellen der Ostsee waren in so einem schlüpfrigen Gefährt ein Abenteuer. Sie hatte die Unberechenbarkeit des Bootes auf den Wellen immer geliebt. Es war ein Spiel. Aber jetzt hing von der Kontrolle über das Boot der Erfolg einer Mission ab. Es war kein Spiel mehr. Jede ungelenke Bewegung brachte das Boot zum Kentern. Einmal war sie bei ihrem Onkel, der ein leidenschaftlicher Ruderer war, allein in einem der schmalen Sportboote gefahren. Prompt war sie umgekippt und hatte sich mit dem Boot auf den Rücken gedreht. Das war im Sommer gewesen, auf einem warmen See. Das Wasser hier spritzte ihr ins Gesicht. Es war eiskalt, obwohl Sommer war. Aber Bergflüsse hatten die Angewohnheit, zwischen Sommer und Winter wenig Unterschied zu machen.
Mit gemeinsamen Anstrengungen hatte es Figaro Slinkssons schließlich geschafft und saß etwas blass mit einem Paddel in der Hand im Boot. Laima, Sam, Thian und der Professor hielten das Seil fest, das zur Sicherheit an einen Felsen gebunden war. Von Stein und Schüssli waren am Boot.
„Dann allzeit gut Fahrt“, sagte von Stein. „Leinen los!“
Und sie stießen Slinkssons ab.
Unsicher tauchte er sein Paddel ein. Die Strömung zog stark am Boot und am Seil. Von Stein und Schüssli packten mit an.
„Das ist ein dicker Fisch an der Angel“, sagte Sam. „Wenn der uns mal nicht durch die Lappen geht.“
Slinkssons kämpfte sich durch die Wellen. Das Kajak tanzte auf und ab. Erst jetzt mit dem Boot konnte man merken, wie stark die Strömung wirklich war.
„Schön festhalten“, sagte Sam. „Langsam ein bisschen Leine lassen.“
Es war überhaupt nicht einfach festzuhalten und gleichzeitig Seil nachzugeben.
„Wie Tauziehen“, sagte Professor Carlsen und schnaufte.
„Festhalten und nicht quatschen. Wir sind schließlich keine Frauenmannschaft“, sagte von Stein.
„Was soll das bitte heißen?“, sagte Laima.
„Na ja, mit Roger und dir sind wir fast eine“, sagte Sam.
Schüssli trat Sam von hinten mit voller Wucht zwischen die Beine. Sam krümmte sich vor Schmerz und brach zusammen. Es gab einen Ruck und das Seil sauste Laima durch die Hände und verbrannte ihr schmerzhaft die Handflächen. Von Stein, Professor Carlsen, Thian, Schüssli, alle stürzten bei dem Versuch, das Seil zu halten, vorwärts auf die Steine. Es war aussichtslos. Mit dem Geräusch einer sich spannenden Klaviersaite hörte Laima, wie das Seil sich mit einem Ruck spannte. Sie sah noch, wie Slinkssons aus dem Boot gerissen wurde und in die tobenden Fluten klatschte.
Noch bevor Gerold von Stein fluchen konnte, erfasste er die Situation und sah, wie Slinkssons von der Wucht der Wassermassen immer wieder unter Wasser gezogen wurde.
„Versuchen sie, das Boot zu erreichen!“, schrie er.
Aber das Boot war gut zwei Meter länger angebunden, sodass es in seinem Rücken trieb. Für Figaro Slinkssons unerreichbar. Die Strömung machte es ihm unmöglich, es zu sich heranzuziehen. Sie sahen, wie er kämpfte und versuchte, an der Oberfläche zu bleiben. Vielleicht war es das Paddel oder einfach die Strömung, die ihn immer wieder hinabzog.
„Wir müssen ihn sofort einholen.“ Es war keine Panik in von Steins Stimme. Es war blanker Unglaube, dass etwas so schief laufen konnte.
Alle zusammen zogen sie am Seil. Sam unter anhaltenden Schmerzen.
Die Kraftanstrengung war ungleich größer als vorher. Es war, als müssten sie einen Betonblock aus der Tiefe ziehen. Es fühlte sich an, als würde sich nichts auch nur einen Millimeter bewegen. Laima sah immer wieder, wie Slinkssons im Überlebenskampf mit aufgerissenen Augen auftauchte, um nach Luft zu schnappen. Wie lange konnte er das durchhalten? In dem kalten Wasser brauchte er nur einen Muskelkrampf zu bekommen und sie sahen ihn nie wieder. Hatte sie ihm vielleicht Unrecht getan? Sie versuchte sich zu motivieren, um die Sache wieder gutzumachen. Hatte er nicht, auch wenn er vielleicht ein Mörder war, das Recht gerettet zu werden?
Sie bot all ihre Kräfte auf.
„Kommt Jungs“, schrie sie, „seid ihr Männer oder Memmen. Habt ihr Rosinen im Sack, oder was?“ Sie war selbst überrascht von ihren eigenen Worten, aber sie verfehlten ihre Wirkung nicht.
Langsam bewegte sich das Seil. Stück für Stück.
„Auf gehts, Männer“, schrie sie. „Eins und zwei ... Und eins und zwei ...“
Sie gab den Takt vor und das Seil bewegte sich, wie unter einem unsichtbaren Zauber, durch ihre Hände.
Laima spürte das Brennen ihrer Handflächen, aber sie biss die Zähne zusammen und stellte sich vor, sie wäre da draußen in den Fluten.
Immer kürzer wurden die Abstände, in denen Figaro Slinkssons auftauchte und immer weniger schaffte er es, sich aus dem Wasser zu schieben. Es war klar, dass er nicht mehr lange durchhielt. Es waren noch sechs oder sieben Meter. Er versuchte selbst Richtung Ufer zu schwimmen, war aber damit beschäftig, überhaupt den Kopf über Wasser zu kriegen.
Es ging jetzt immer schneller. Gleichzeitig spürten sie, wie der Widerstand am andren Ende des Seils immer geringer wurde. Das bedeutete, dass Slinkssons Körper erschlaffte. Dass er nachgab und bald sein Bewusstsein verlieren würde.