10
Am folgenden Morgen war es die Kälte, die Laima weckte. Das Feuer der Nacht war erloschen. Das Licht fiel matt und silbrig durch die Öffnungen im Stein. Alle anderen schliefen noch oder wälzten sich im Halbschlaf.
Ihre Gedanken wanderten zurück zum gestrigen Abend. Figaro Slinkssons, der heimlich die Höhle verlassen hatte. War er es, der ihnen nach dem Leben trachtete? Aber warum? Was sollte im Verborgenen bleiben? Und wenn, war er ein Handlanger? Für wen? Für eine größere Macht, die ihre Interessen schützen wollte? Eine Regierung, den Vatikan? Vielleicht etwas ganz anderes?
Wie sollte sie ihm jetzt entgegentreten? Außerdem konnte jeder in der Gruppe ebenso verdächtig sein. Laima versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was Professor Bersinsch ihr gesagt hatte. Aber es fiel ihr nichts Greifbares ein. Nichts, was ihr in dieser Lage weitergeholfen hätte. Warum hatte er ihr nur nicht mehr erzählt? Sicher wusste er doch, wer ihn verfolgte, wer für seine Erkrankung verantwortlich war.
Sie fühlte sich unwohl und einsam. Längst war dies alles mehr als nur eine Expedition. Sie jagten Funden hinterher und waren dabei selbst zu Gejagten geworden. Das Schlimmste war, dass der Jäger unter ihnen war.
Chang war der einzige Trost, der ihr geblieben war. Dachte sie an ihn, spürte sie gleich eine Wärme, die sie umgab. Es fühlte sich gut an. Jede Anspannung fiel ab wie bei einem heißen Bad. Der Stress der Situation saugte jeden Funken Freude und Hoffnung aus ihr. Alle Energie verwandelte sich zu Eis. Blockierte alles. Ihr Denken, ihr Handeln.
Laima stand leise auf und nahm sich vor, immer wieder nur an Chang zu denken, und so gegen die innerliche Einsamkeit anzugehen.
Die Höhle lag hoch oben über dem großen Versammlungsraum. Eine steile Steintreppe führte herunter. Es war ein Wunder, dass sie Schüssli überhaupt heraufbekommen hatten. Vielleicht lag es daran, dass es gestern Abend bereits völlig dunkel war.
„Guten Morgen“, sagte eine Stimme, als sie die letzten Stufen hinabstieg. Es war von Stein, der gerade durch das Felsentor kam, hinter dem die kleine Plattform lag, die sie für ihre Landung genutzt hatten.
„Guten Morgen“, erwiderte Laima, die überrascht war, weil sie dachte, dass alle immer noch in der Höhle schliefen. Scheinbar hatte sie sich getäuscht. „Was machen sie so früh schon auf den Beinen?“
„Ich habe einen Blick auf unser Equipment geworfen, das unten in der Schlucht liegt. Soweit ich sehen konnte, ist noch alles an Ort und Stelle. Über Nacht ist nichts vom Fluss mitgerissen worden. Das ist gut! Und sie? Was treibt sie so früh aus den Federn?“
„Die Kälte!“
Er musste lachen.
„Das ist die Umstellung auf die Höhenluft. Der Körper friert leichter, weil die Sättigung des Blutes mit Sauerstoff sich noch nicht vollständig eingestellt hat. Das ist normal. Machen sie sich keine Sorgen. In ein paar Tagen haben sie sich daran gewöhnt.“
„Das beruhigt mich, dass es nicht vielleicht doch am Essen lag. Schließlich habe ich zum ersten Mal in meinem Leben Ziegenhirn gegessen. Ich hoffe ganz ehrlich auch zum letzten Mal.“
„Das kann ich verstehen. Zum Frühstück jedenfalls gibt es Fladenbrot und eine Art Joghurt, der zwar stark nach Ziege duftet, trotzdem aber mehr nach ihrem Geschmack sein sollte. Ich werde später versuchen, den Dropaolat zu bitten, uns heute so bald wie möglich zu den Grabhöhlen zu führen. Ich brenne darauf, sie endlich zu sehen. Ich habe den Bione-Scanner bereits neu kalibriert und hoffe, einige interessante Werte zu messen und ihn in seiner Funktion als Energieakkumulator testen zu können.“
„Ich versuche, ganz offen mit ihnen zu sein.“
„Sie versuchen es nur?“, sagte von Stein.
„Es fällt mir unter den gegebenen Umständen wirklich nicht leicht, aber glauben sie, die Anschläge könnten vielleicht gar nicht mit irgendwelchen Entdeckungen zu tun haben, die wir machen könnten, sondern mit ihrer Erfindung? Jemand könnte doch versuchen wollen, die Erfindung zu verhindern oder zu stehlen?“
„Die Erfindung ist ja bereits gemacht und damit gar nicht mehr zu verhindern.“
„Ich meine, sind das die einzigen Prototypen, die sie hergestellt haben?“
„Ja, ich muss zu meiner Schande gestehen, dass lediglich noch die Skizzen in meinem Safe bei Bione liegen und einige Patente bestehen. Die Patente sind allerdings nicht für die ganze Maschine, sondern nur für einzelne Komponenten und reichen damit nicht aus, davon den ganzen Scanner nachzubauen.“
„Das heißt, wenn die zwei Prototypen verschwinden und die Unterlagen aus ihrem Safe auch, ist es, als habe der Scanner nie existiert?“
„Das stimmt. Aber man müsste mich dann auch noch beseitigen.“
„Vielleicht wurde genau das versucht!“
„Ich habe mir auch schon den Kopf zerbrochen, was das alles auf sich hat. Aber ich wollte es wohl nicht wahrhaben, dass man es auf meine Erfindung abgesehen haben könnte. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie von außerordentlichem Nutzen für die Menschen ist ...“
„Wie jeder Wissenschaftler davon überzeugt ist, dass er die Welt verbessert. Aber jetzt denken sie doch mal nach. Sie selbst haben erzählt, wenn es um Freie Energie geht, sind die Interessen der Lobbys so groß, dass sie alles tun, um die neue Energie zu unterdrücken. Sind nicht im Laufe der Geschichte eine ganze Reihe von bahnbrechenden Innovationen aufgekauft worden und dann in der Schublade von Konzernen verschwunden, die damit ihr eigenes, wenn auch veraltetes Monopol gestützt haben?“
„Meine Güte, ja, sie haben recht. Wir Wissenschaftler sind immer so klug, wenn es um die andren geht und mit Blindheit geschlagen, wenn es sich um unsere eigenen Erfindungen dreht. Einstein hätte Reich nie akzeptiert mit seinem Orgon. Dabei war es das Gleiche, was Tesla mit der Freien Energie meinte. Und was heute als Dunkle Materie bekannt ist, aus der siebzig Prozent des Universums bestehen. Ja, Nicola Tesla wollte die Freie Energie kabellos verteilen und sein finanzieller Förderer, der Bankier J.P. Morgan, vermarktete konventionellen Strom, der über die Leitungen und einen angeschlossenen Zähler abrechenbar sein sollte. So wurde Teslas Erfindung unterdrückt.
Und ein Auto, das er damals schon mit einem Freie-Energie-Generator antrieb, verschwand, als eine lokale Zeitung anfing, darüber zu berichten, dass Tesla mit hundertvierzig Sachen durch die Gegend fuhr. Sie haben völlig recht. Auch wenn ich nicht verstehen kann, warum Menschen den Fortschritt verhindern wollen, nur um ihren eigenen Profit zu steigern. Ich habe diese Ignoranz so satt.“
„Verzweifeln sie nicht. Aber wir sollten zumindest überlegen, wie wir heil aus dieser Sache herauskommen.“
„Wie denn? Zurück können wir nicht. Und zurück will ich auch gar nicht. Ich werde mich diesen Leuten nicht beugen. Ich werde meine Erfindung durchbringen, egal was es mich kostet. Und sei es mein eigenes Leben.“
„Ganz ruhig. Wir werden es schaffen, aber wir müssen vorsichtig sein. Bei dem Versuch mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, hat sich schon mancher das Genick gebrochen. Das wollte ich nur sagen.“
„Vielen Dank, Laima. Ich weiß das sehr zu schätzen.“
„Wer hat sich das Genick gebrochen?“, ertönte eine Stimme über ihnen. Es war Schüssli.
„Wenn sie nicht vorsichtig sind mit ihrer Höhenangst, werden sie es gleich sein“, sagte von Stein.
„Ich werde ihm helfen. Kommen sie, mein Lieber“, sagte Professor Carlsen, der hinter Roger Schüssli auftauchte und ihn unterhakte.
Langsam stiegen beide zusammen die schmalen Stufen runter.
„Offensichtlich sind alle wach“, sagte von Stein. „Dann werden wir uns zum gemeinsamen Frühstück begeben.“
Als auch Figaro Slinkssons, Sam ‚The Rock’ Jackson und Thian unten waren, begaben sie sich in die Versammlungshalle.
Der Dropaolat saß im hinteren Teil der Höhle im Lotossitz auf einem großen Stein, auf dem ein Ziegenfell ausgebreitet war und meditierte. Eine seltsame Ausstrahlung ging von ihm aus. Er ließ sich nicht durch die Anwesenheit der Gruppe stören. Leise setzten sie sich. Einige der Frauen, die am Feuer kochten, brachten ihnen frische Brotfladen, die sie auf den heißen Steinen gebacken hatten. Dazu reichten sie Milch und Quark.
Laima fand das Frühstück sehr schmackhaft und stärkend. Selbst Roger Schüssli hatte einen gesegneten Appetit und war nicht wählerisch. Nach einiger Zeit erhob sich der Dropaolat aus seiner Versenkung und setzte sich zu ihnen an die lange Tafel. Er wirkte ausgelassen und eine seichte Freude strahlte aus seinem sonst so unbewegten Gesicht. Seine durchscheinende weiße Haut, die wie dünnes Porzellan aussah, verblüffte Laima aufs Neue.
Nachdem sie das Mahl beendet hatten, sprach Gerold von Stein zu Thian, der versuchte, dem Dropaolat zu übersetzen. Die Freundlichkeit auf seinem Gesicht blieb und es sah so aus, als ob von Stein seinem Wunsch, die Grabhöhlen zu besichtigen, ganz nah war.
„Wir haben die Erlaubnis vom Dropaolat erhalten, die Höhlen ihrer Ahnen heute zu betreten“, verkündete von Stein den Übrigen. „Wir werden sofort nach dem Frühstück aufbrechen und der Dropaolat wird uns persönlich hinführen. Ich wäre froh, wenn alle Expeditionsmitglieder uns begleiten.“
„Tote sind mir nicht besonders angenehm, muss ich gestehen“, sagte Schüssli und schüttelte seinen roten Kopf.
„So wie ich verstanden habe, wird dort seit mehreren hundert Jahren niemand mehr bestattet. Lediglich einige Mumien der Dropavorfahren sind dort aufgebahrt. Der heutige Ritus sieht vor, die Toten auf einen Felsen zu legen. Sie werden den Geistern des Windes und der Luft überantwortet. So kehren die Seelen zurück in ihre Welt.“
„Und dann verwesen die da?“, fragte Sam.
„Verwesen tut hier nichts bei dem Klima, mein Lieber“, sagte Professor Carlsen.
„Und was geschieht dann mit den Leichen?“, fragte Slinkssons.
„Die Geier.“
„Die Geier? Sie meinen, die werden einfach aufgefressen?“, sagte Schüssli entsetzt.
„Sehr ökologisch“, sagte Slinkssons.
„Auf jeden Fall hygienisch“, ergänzte Professor Carlsen.
„Solch eine Art der Bestattung ist in den Bergen bei indigenen Völkern recht verbreitet“, sagte Laima.
„Also Mumien sind mir da fast lieber. Trotzdem, ich weiß nicht?“, meinte Schüssli.
„Keine Widerrede“, sagte von Stein, „wir gehen alle. Wenn uns die Dropa schon diese Ehre erweisen, sollten wir uns auch ihrer würdig zeigen.“
Sie versammelten sich vor der großen Höhle und warteten auf den Dropaolat, der nach kurzer Zeit zu ihnen stieß.
„Was hat er denn für einen Wanderstab dabei?“, sagte Sam.
„Sieht aus wie eine Rassel aus Kronkorken“, sagte Schüssli.
Der Dropaolat ging voran und stimmte einen tiefen kehligen Gesang an, als er vor ihnen herschritt. Mit jedem Schritt, den er machte, stieß er rasselnd mit dem Stab auf.
Es war ein eigentümlicher Gesang, der in Verbindung mit dem schellenden Stock einen ruhigen Fluss in Laima in Bewegung brachte. Langsam und bedächtig schritt er voran und alle waren gezwungen, diesem Rhythmus zu folgen. Laima sah auf seinen schwarzen Hut mit den bunten Bändern. Er erschien ihr etwas zu groß, aber sie maß dieser Tatsache keine weitere Bedeutung bei. Sie folgten dem Weg, den auch Kapitän Ranjid am Vortag gegangen war. Der Junge, der ihn begleitet hatte, war noch nicht zurückgekehrt. Offenbar befanden sie sich weit weg von jeglicher Zivilisation. Sie durchwanderten das schmale Tal der Dropa, das sich hinter der Flanke des Berges verbarg. Hinter ihnen rauschte der Wasserfall, der die Kluft mit feuchtem Nebel füllte.
Die Ziegen folgten ihnen eine Weile. Sie sprangen über ihren Köpfen von einem Felsen zum nächsten. An einigen Stellen war die Schlucht über ihnen so schmal, dass die Ziegen von der einen auf die andere Seite wechselten.
Laima genoss die Ruhe, die durch die sanften Schritte des Dropaolat in ihr entstand. Sie fühlte sich sicher, auch wenn sie wusste, dass unter ihnen ein Mörder war. Sie entspannte sich und dachte automatisch an Chang. Es war ein doppelt gutes Gefühl.
Tooms tauchte nur noch als dunkler Schatten am Rande ihrer Erinnerungen auf. Er hatte nicht mehr die Macht, sich in den Mittelpunkt zu drängen. Er war von selbst verschwunden und schlich nur noch in der Ferne durch das Halbdunkel, in dem er bereits verblasste.
Wie eigentümlich es doch war, dass man über Jahre einen Menschen liebte, ihn zum Mittelpunkt seines Lebens machte und er mit einem Mal verschwand, dachte Laima. Von einem Tag auf den andren, als wäre er nie da gewesen. Sie fühlte ihm gegenüber nichts mehr. Weder Zorn noch sonst etwas. Er war ihr völlig gleichgültig. Und gerade das erschreckte sie. Verhielt es sich nicht mit vielen andren Überzeugungen im Leben ebenso?
Man verteidigt den Geliebten gegen jede Anfeindung, wie man es mit einer Anschauung auch macht, dachte sie. Die Eltern mögen den Freund nicht, den man für die Liebe seines Lebens hält, weil sie schon wissen, dass er es nicht ist. Sie haben ihn durchschaut, noch bevor er selbst es weiß. So kämpft man für eine Idee, eine Ideologie und stellt zum Schluss fest, was man eigentlich für einen Mist verteidigt hat. Hatten ihre Eltern es gewusst? War er wirklich der Falsche gewesen?
Vielleicht musste es so sein? Vielleicht musste man all die Irrwege gehen? Im tiefsten Brustton der Überzeugung gegen jeden schimpfen, der die endgültige Wahrheit, die man gefunden zu haben glaubte, nicht hören wollte. War es nicht kindisch? War das alles nicht zutiefst albern?
Aber was sollte daran falsch sein, wenn alle es taten?
Laima kam es auf ein Mal so unerklärlich unnütz vor, mit aller Macht an seinen Überzeugungen festzuhalten. Und warum hatte sie das vorher nie gesehen? All diese Wissenschaftler, Politiker, Eltern, Lehrer. Sie alle wussten, was das Richtige war. Fünf Minuten, fünf Jahre, fünf Jahrzehnte, fünf Jahrhunderte später war alles anders. Alles hatte schlagartig oder langsam seine Gültigkeit verloren. Schleichend, aber endgültig.
Wurde sie gerade verrückt? Fühlte es sich so an, verrückt zu werden? Wurde man verrückt, wenn man über nichts mehr die Kontrolle hatte? Wenn sich Verrücktwerden so anfühlte, dann war es gar nicht so ein übles Gefühl.
Sie näherten sich dem Ende der Schlucht und das grelle Licht der Sonne strahlte ihnen entgegen. Der Dropaolat wickelte sich einen Schal vor das Gesicht. Er schien darauf bedacht, seine Haut nicht der direkten Sonne auszusetzen. Laima blinzelte, da ihre Augen sich an den strahlend blauen Himmel und die Helligkeit gewöhnen mussten.
Ihnen eröffnete sich der Blick auf ein breites, steil und tief abfallendes Tal. Genau unter ihnen schoss der Fluss des Wasserfalls aus den Felsen in die Tiefe. Ein unglaublich großer und schöner Regenbogen leuchtete in der Gischt direkt vor ihnen auf.
Roger Schüssli machte einen taumelnden Schritt rückwärts, als er die Kante der Felsen sah. Dann ließ er sich auf alle Viere fallen.
„Sie wollen doch nicht krabbeln?“, sagte von Stein.
„Ich, ich weiß nicht ...“
„Vielleicht sollten wir ihm Scheuklappen anlegen wie einem Pferd“, sagte Sam. „Dann muss er den Abgrund nicht sehen.“
Der Weg führte an der Felswand entlang.
„Oder du nimmst ihn huckepack, wenn der Esel bockig wird“, sagte Figaro Slinkssons.
„Also Esel verbitte ich mir. Nur weil ich an der Höhenkrankheit leide, heißt es noch nicht, dass ich mich deswegen diskriminieren lassen muss.“
„Na, auf allen Vieren siehst du ziemlich nach einem Rindviech aus, Roger“, sagte von Stein. „Du hast doch nicht vor, wie ein Käfer zu krabbeln?“
„Sie werden einfach mit dem Gesicht zur Felswand laufen“, sagte Professor Carlsen. „Versuchen wir es doch mal.“
„Sehen sie, selbst die Ziegen trauen sich nicht hier raus“, sagte Schüssli.
Tatsächlich blieben sie alle im Schatten der Klamm und starrten auf sie hinunter.
„Wer ist hier nun das Rindvieh?“, sagte Schüssli.
Langsam, wenn auch mit deutlichem Widerwillen, stand er auf und drehte sich mit dem Rücken zum Abgrund.
„Es ist genug Platz, dass Sam zwischen ihnen und der Schlucht gehen kann, sodass ihnen nichts passieren wird“, sagte der Professor.
Sam versuchte mit Gesten hinter Schüsslis Rücken abzuwinken, aber Professor Carlsen gab ihm zu verstehen, dass Sam ebenso wie Schüssli seinem ärztlichen Rat zu folgen hatte.
Zwischen den riesigen Bergen kam sich Laima mit ihren Sorgen verschwindend klein vor. Sam und Schüssli schafften es ganz gut bei dem gemächlichen Tempo des Dropaolat mitzuhalten, der wieder seinen Gesang angestimmt hatte und dazu im Takt die Rassel erklingen ließ.
„Ich kann mir nicht helfen“, sagte Slinkssons. „Wenn mir jemand von dieser Prozession von Höhenkranken mit ihren Betreuern und diesem Schamanen erzählt hätte, würde ich laut lachen.“
„Und jetzt stecken sie selbst mittendrin“, sagte Laima, die eine leichte Schadenfreude nicht verbergen konnte.
Der Weg stieg vor ihnen an, um sich kurz darauf wieder in die Tiefe zu stürzen.
„Wenn jetzt einer ausrutscht, kegeln wir alle direkt ins Jenseits“, sagte Slinkssons leise zu Laima.
„Das habe ich gehört“, sagte Schüssli. „Wenn sie nicht damit aufhören, uns hier Angst zu machen ...“
„Was dann?“, fragte Slinkssons.
„Nun aber Schluss“, sagte von Stein.
„Figaro, ich darf von meinem Assistenten etwas mehr Beherrschung erwarten, reißen sie sich zusammen. Ein Streit in dieser Situation ist wohl kaum das, was uns noch fehlt!“, sagte der Professor.
Laima wurde mit einem Mal ganz schlecht. Was war, wenn die Situation eskalierte? Sie schwebten gerade alle in akuter Gefahr. Der Attentäter war seinem Ziel so nah wie nur überhaupt. Es reichte, mit einer schnellen Geste einen nach dem andren in die Tiefe zu stoßen. Ohne Tricks, ohne technische Manipulation. Sie durfte nicht die Nerven verlieren.
Lag ihre Nervosität an der Umstellung zur Höhenluft? Oder hatte Figaro Slinkssons eben erneut versucht, seinen Vorteil zu provozieren? Unheil heraufzubeschwören, um leichtes Spiel zu haben und zu Ende zu bringen, was gestern gescheitert war?
Sollte es zu einem Handgemenge kommen, war die Gefahr groß, dass auch Slinkssons selbst in den Abgrund gerissen wurde. Da fiel es ihr ein. Ein Schauer überkam sie. Wenn er wie im Flugzeug schon den einzigen Fallschirm an sich genommen hatte? Er würde einen Sturz in die Tiefe einfach in Kauf nehmen.
Sie musste versuchen, sich zu beruhigen. Ihre Gedanken fingen an, ungewollte Sprünge zu machen. Das war nicht ratsam, wenn sie die nötige Ruhe bewahren wollte. Sie versuchte, tief und gleichmäßig durchzuatmen. Ihr Puls und ihre Gedanken rasten.
Laima entdeckte einige große Vögel, die in der Ferne majestätisch auf der Strömung des Windes dahinglitten.
Nach einer Kurve gabelte sich der Pfad. Ein Teil folgte der Außenseite des Berges, während der andere in eine dunkle Kluft führte. Sie war jener ähnlich, in der die Dropa lebten, nur dass sie noch schmaler war. Alle Mitglieder der Gruppe hatten sich beruhigt und waren in einmütiges Schweigen versunken. Außer dem Gesang des Dropaolat herrschte Stille. Als sie die enge Schlucht betraten, hörte er mit seinem Gesang abrupt auf. Eine gespenstische Ruhe breitete sich im gedämpften Licht aus. Der Dropaolat wies stumm mit dem ausgestreckten Arm auf mehrere Statuen, die in einiger Entfernung über ihnen aus dem Fels geschlagen waren.
„Sehen seltsam aus, diese Gestalten“, sagte Schüssli.
„Jetzt schaffst du es wohl auch alleine weiter, oder?“, sagte Sam zu Schüssli. „Hier ist ja nichts mehr zum Runterfallen.“
„Ein bisschen wie die Steinköpfe auf der Osterinsel“, sagte Figaro Slinkssons.
Als sie näher kamen bemerkte Laima, wie groß die Skulpturen waren. Sie stiegen mehrere Treppen hinauf bis zum Eingang einer kleinen Höhle. Schüsslis Neugier war in diesem Fall größer als seine Höhenphobie.
Die großen Figuren mit den eckigen Köpfen bildeten mehrere Meter hohe Säulen, zwischen denen sie hindurchgingen, bis die Decke immer niedriger wurde und sie vor einer halbhohen Öffnung standen. Selbst der Dropaolat musste sich bücken.
Sie krochen hindurch. Im Inneren war es absolut dunkel. Der Dropaolat entzündete eine Fackel. Er hatte den Schal von seinem Gesicht entfernt und wies sie an, ihm zu folgen. Die Grotte war natürlichen Ursprungs. Sie konnten die Höhlendecke im Schein der Fackel erahnen.
„Ahhh!!!“, Schüssli sprang zur Seite.
„Das sind Tierschädel“, sagte Professor Carlsen.
„Sie sehen noch so ... frisch aus“, sagte Schüssli. „So lebendig!“
„Mumifiziert, mein Lieber“, sagte Professor Carlsen und trat an das Holzgestell, in dem eine Reihe verschiedener Schädel gestapelt waren. „Pferd, Schaf, Ziege. Auch einen Hund haben wir hier.“
„Es sieht nicht aus, als wären die extra präpariert worden“, sagte von Stein.
„Nein, das Klima reicht aus, sie in diesem Zustand zu konservieren. Der Verwesungsprozess setzt gar nicht erst ein. Die trockene und kühle Luft verhindert es. Und wenn sich das Klima nicht ändert, können sie so über mehrere Jahrhunderte in diesem lebensnahen Zustand verbleiben. Es ist recht kühl hier. Ich tippe auf vier Grad über Null. Die optimale Konservierungstemperatur.“
Der Dropaolat sagte etwas, das Thian übersetzte.
„Wir werden gleich die eigentliche Grabkammer betreten“, sagte Gerold von Stein.
„Wenn ich das sehe, reichts mir völlig“, sagte Schüssli.
„Du kannst auch gerne hier bei den Schädeln auf uns warten, wenn dir das lieber ist“, sagte von Stein.
„Nein. Überredet!“
„Es ist in vielen Kulturen üblich, Tiere mit Menschen zu bestatten“, sagte Laima. „Als Ausdruck des Reichtums oder einfach um die gesamte Habe mit auf den Weg zu geben.“
„Wie in Ägypten? Wo die Frauen gleich lebendig mit beerdigt wurden“, sagte Sam.
„So oder so ähnlich“, sagte Laima.
„Dann sind wir im tibetischen Tal der Könige gelandet?“, sagte Slinkssons verschwörerisch.
„Warum klingt das aus ihrem Mund immer nach blanker Ironie, mein lieber Figaro?“, sagte Professor Carlsen.
„Das war mein Ernst“, sagte er.
„Nun, das meine ich ja, dass man es bei ihnen nicht mehr unterscheiden kann.“
Sie kamen zu einer Holzleiter, die durch ein Loch in der Decke führte.
Der Dropaolat gab ihnen ein Zeichen hinaufzusteigen. Sie folgten, während er mit der Fackel wartete, bis alle durch das Loch waren. Laima stieg als Letzte hinauf und stellte fest, dass alle um das Loch saßen und sich nicht aus dem spärlichen Schein der Fackel trauten, der hinauf ins Dunkel der Grabkammer fiel.
„Meinen Bione-Scanner“, sagte von Stein und griff sich an den Gürtel, „den habe ich ganz vergessen.“
Laima sah, wie er im Halbdunkel Einstellungen am Gerät vornahm. Dann stieg der Dropaolat zu ihnen hinauf. Das Licht seiner Fackel breitete sich auf den Wänden aus.
„Ein Bettgestell. Seht euch die kunstvollen, bunten Schnitzereien an.“
„Es sieht aus, als ob die Kultur zur Zeit der Bestattung sehr entwickelt war. Wenn man die künstlerischen Fertigkeiten betrachtet“, sagte Laima.
„O mein Gott, da liegt ja einer drin“, sagte Schüssli und drehte sich weg.
„Irgendwie geht der Scanner nicht“, sagte von Stein.
„Wie auch, der da im Bett ist ja tot“, sagte Figaro Slinkssons.
„Warum ist er denn gefesselt?“, fragte Schüssli.
„Er ist nicht gefesselt, aber seine Arme und Beine sind zusammengebunden“, sagte Laima. „Ich schließe aus der gehockten Seitenlage, dass er erst im Laufe der Zeit umgekippt ist. Die Stricke könnten darauf hinweisen, dass der Sterbende in dieser Stellung auf den Eintritt des Todes gewartet hat.“
„Sie wollen mir weismachen, der Tote hat, verschnürt wie ein Paket, darauf gewartet zu sterben?“
„Oder es willentlich herbeigeführt!“
„Man kann sich doch nicht selbst durchs Denken töten“, sagte Slinkssons.
„Es gibt in manchen Kulturen Techniken der Meditation, die das Verlassen des Körpers ermöglichen. Das ist allerdings sehr riskant und kann im Zweifelsfall dazu führen, dass derjenige nicht mehr zurück in seinen Körper gelangt“, sagte Laima.
Von Stein wandte sich an den Dropaolat, der die Fragen, die Thian ihm stellte, mit einem sanften Nicken beantwortete.
„Er sagt, dass es tatsächlich diesen Brauch bei den Dropa gibt. Auch er beherrscht diese Technik, die nicht nur zum Sterben eingesetzt wird. Aber die Dropa glauben, wie die Tibeter überhaupt, an die Wiedergeburt. Er sagt, der Körper sei nur eine oberflächliche Erscheinung. Wenn er abgebraucht sei, könne man ihn einfach wechseln wie einen Mantel und der Geist würde in einem neuen, frischen Körper weiterleben.“
Dann unterbrach ihn der Dropaolat.
„Es sei möglich, sich in die Sphäre der Unendlichkeit zu begeben, in der weder Raum noch Zeit existieren, wie wir sie kennen. Dort könne man überall hin. An jeden Ort. Ob in der Zukunft oder der Vergangenheit. Alles sei dort eins.“
„Hört sich nach dem neusten Stand der Physik an“, sagte Slinkssons, wobei nicht klar war, ob er dies nun ironisch oder ernsthaft meinte.
„Vielleicht kann er mir die Karten legen“, sagte Sam.
Schüssli kicherte.
„Wirklich, genau das werde ich machen, Sam. Das ist eine vorzügliche Idee. Ich werde ihn bitten, uns zum kommenden Verlauf der Expedition ein paar Fragen zu beantworten“, sagte von Stein.
„Der Körper erscheint mir allerdings viel zu groß“, sagte Laima. „Hatte der Dropaolat nicht gesagt, es sei einer ihrer Vorfahren? Er wirkt auf mich, wenn er jetzt nicht hocken würde, fast so groß wie wir?“
„Sie haben recht, meine Liebe“, sagte Professor Carlsen.
Von Stein fragte nach.
„Der Dropaolat sagt, dies seien ihre Vorfahren. Dann vor, lassen sie mich kurz rechnen, er rechnet in Mondkalendern, vor ungefähr zwölftausend Jahren, seien ihre anderen Vorfahren gekommen. Götter aus dem Himmel. Von den Sternen.“
„Sie müssen ja wesentlich kleiner gewesen sein, als diese Mumie hier“, sagte Professor Carlsen.
„Und wie sollen die hierher gekommen sein?“, fragte Sam. „In einem Raumschiff?“
Von Stein richtete sich an den Dropaolat.
„Sie seien in riesigen leuchtenden Kugeln aus dem Himmel gekommen. Zuerst hätten sich die Menschen in den Höhlen versteckt. Als die Kugeln erneut kamen, haben sie sich gewehrt und sie bekämpft. Mit Speeren und Pfeilen. Es sei zwölf Mal so gegangen, bis sie die friedliche Absicht der Himmelsmenschen erkannten, die stets einfach wieder verschwanden, wie sie erschienen waren. Schließlich blieben sie hier bei den Dropa.“
Der Dropaolat redete und gestikulierte. Thian übersetzte.
„Er will uns nun etwas zeigen, das aus dieser Zeit übrig geblieben ist.“
Der Dropaolat wies auf die Decke der Höhle und führte sie erneut zu einer Leiter.
Mattes Licht fiel durch eine schmale Fensteröffnung in den kleinen Raum, in den sie hinaufstiegen.
„Hier liegen ja überall Knochen“, sagte Schüssli.
„Es sieht so aus, als habe ein Geier hier sein Nest gehabt“, sagte Professor Carlsen.
„Alles vollgeschissen hier“, sagte Sam.
Der Dropaolat ging zu einem Stein, der voller Vogelkot war.
„Die Steinscheibe“, sagte Laima verblüfft. „Wie die, die Professor Bersinsch gefunden hat.“
Sie dachte sofort an den Fund. Diese Scheibe war von verblüffender Ähnlichkeit. Ein Blick zu Professor Carlsen verriet ihr, dass er dasselbe dachte.
„Einen Moment“, sagte von Stein und trat neben den Dropaolat.
„Was wollen sie denn mit ihrem komischen Föhn da?“, sagte Figaro Slinkssons.
„Das ist der Bione-Scanner. Einen Moment.“
Von Stein fummelte an seiner Erfindung herum.
„Aha, jetzt lädt er sich auf. Offenbar geht von der Scheibe eine besondere Strahlung aus. Was ist denn jetzt?“
Von Stein schlug mit der flachen Hand gegen seinen Prototyp. Dann gab es einen lauten Knall.
„Aua!“, schrie Figaro Slinkssons. „Haben sie sie nicht mehr alle, oder was! Das Ding hat mich voll erwischt.“
„Das tut mir leid“, sagte von Stein.
„Zu viel kosmische Energie“, sagte Sam und lachte.
„Ha, ha. Sehr witzig. Hab mich schon besser amüsiert.“
„Wer den Schaden hat ...“, sagte Professor Carlsen und grinste.
„... braucht für den Spott nicht zu sorgen. Danke, ich weiß. Ich glaube mir reichts hier“, sagte Slinkssons und stieg die Leiter wieder herunter.
„Jetzt seien sie doch nicht so ein Spielverderber“, sagte Professor Carlsen.
„Es tut mir wirklich leid“, sagte von Stein. „Das Ding hat noch nicht ganz die Marktreife erreicht oder es hat irgendwie Schaden genommen“, rief er Slinkssons hinterher.
„Warten sie, ich möchte einen kurzen Blick auf die Scheibe werfen“, sagte Laima.
„Seien sie vorsichtig“, sagte von Stein, „vielleicht hat sie immer noch eine energetische Ladung.“
Sie fasste die Scheibe vorsichtig an. Nichts passierte, aber der Stein war warm. Es war, als ginge eine leichte Vibration davon aus. Sie strich den Kot von der Oberfläche. Es waren feine Vertiefungen in einer Rille angeordnet, die sich spiralförmig aus der Mitte heraus bis zum Rand erstreckte.
„Sieht aus wie eine steinzeitliche Schallplatte“, sagte Schüssli.
„Es sind winzige Zeichen in die Rille graviert. Ähnlich der sumerischen Keilschrift“, sagte Laima. „Aber ich kann es nicht entziffern. Könnten sie ihn fragen, ob er weiß, was es bedeutet?“
Von Stein wandte sich an den Dropaolat.
„Er hat keine Ahnung. Die Dropa kennen keine Schrift. Sie überliefern alles mündlich. Er weiß nur, dass sie aus der Zeit der Ankunft stammen soll. Wenn ihre Vorfahren geschrieben haben, so ist diese Fähigkeit wohl im Laufe der zwölftausend Jahre seit ihrer Ankunft verloren gegangen.“
Der Dropaolat fuhr mit seinen Ausführungen fort.
„Es gibt einen Ort, der uns mehr sagen könnte. Aber dort gehen die Dropa nicht hin. Er ist nur über den Fluss im Tal zu erreichen und der Rückweg hierher ist nicht möglich. Niemand ist von dort je zurückgekehrt. Er selbst kennt diesen Ort nur aus den Sagen seiner Vorfahren. Sie nannten ihn die Stadt der Götter.“
„Kein guter Ort, wie mir scheint“, sagte Schüssli.
„Riechts schon wieder aus deiner Hose“, sagte Sam.
„Ach leck mich doch.“
Die Anderen stiegen die Leiter hinunter.
Laima hielt immer noch mit beiden Händen die Scheibe und fühlte die Vibration. Es war, als wollte der Stein ihr etwas sagen, für das er nicht die passende Sprache fand. Jetzt wusste sie, dass etwas an dem sein musste, was Professor Bersinsch ihr gesagt hatte. Irgendetwas Unfassbares ging von dieser Scheibe aus. Sie spürte, dass es etwas Bedeutendes war, das sie selbst noch nicht greifen konnte. Diese Platte war der erste Stein eines unsichtbaren Weges, den sie eingeschlagen hatte. Leider war die runde Steintafel zu schwer, um sie zu bewegen, geschweige denn mitzunehmen. So folgte sie den andren. Einerseits schweren Herzens solch einen Fund zurücklassen zu müssen, wo Professor Bersinsch gerade eine ähnliche Scheibe gestohlen worden war, andrerseits voll Zuversicht noch größere Funde und Entdeckungen zu machen, die sie sich noch gar nicht vorstellen konnte.
Sie warf im darunterliegenden Stockwerk noch einen Blick auf die Mumie. Der Dropaolat stand neben der Öffnung nach unten und wartete mit der Fackel in der Hand auf sie. Der Unterschied zwischen seiner geringen Größe im Vergleich zur Mumie kam ihr im schummrigen Licht riesig vor. Dazu der große Hut, der nicht zum kindähnlichen Körper des Dropaolat passen wollte. Das alles wirkte seltsam.
Die Anderen warteten bereits im Licht der Schlucht unterhalb der Säulenstatuen. Diese merkwürdige Ähnlichkeit mit den Figuren der Osterinsel? Es gab so viele Ungereimtheiten, die Laima nicht ins Bild passen wollten, das sie im Studium erworben hatte. Unstimmigkeiten waren ihr nie aufgefallen. Sie hatte vieles bereits in der Schule gelernt, was an der Uni einfach wiederholt wurde. Darauf baute das Studium auf. Alles, was die Professoren ihr beigebracht hatten, fußte auf dem, was sie bereits kannte. Hatte es deswegen nie einen Zweifel gegeben? Hatte sie jetzt Zweifel? Sie wusste es nicht. Aber alles, was sie gesehen hatte, erschien ihr auf neue, ungewohnte Weise. Nur Professor Bersinsch hatte immer den Keim des Zweifels gesät.
Theorien über Aliens und Ufos waren ihr bis jetzt immer abwegig erschienen. Spinnerei von durchgeknallten Freaks. So kippten andere Professoren ihre Zweifel eimerweise über solche Theorien. Meist noch einen Kübel Spott obendrauf. Auch sie erinnerte sich, wie sie mitgelacht hatte, als das Thema Präastronautik aufkam.
Es ging um den Bau der Pyramiden. Tausende von Sklaven hatten sie angeblich gebaut. Ein Student aus einem höheren Semester hatte die Frage gestellt, wie die tonnenschweren Steine bis an die Spitze gelangt waren. Mit der Technik der damaligen Zeit?
Eine riesige, ja, gigantische Aufschüttung von Sand, noch größer als die Pyramiden selbst, hätte laut des Professors als Rampe gedient, die bis zur Spitze führte.
Der Student hakte nach. Sein Vater war Bauunternehmer. Er hätte ihn gefragt, wie man das mit heutigen Mitteln schaffen konnte. Wie man Granitbalken von fünfzig bis achtzig Tonnen Gewicht, die als Decke der Königskammer der Cheops-Pyramide dienten, um die enorme darüberliegende Last zu tragen, überhaupt bewegen konnte. Sein Vater, ein Mann der Praxis, der sich jeder Herausforderung stellte, war von der Tonnenzahl der Steinquader überrascht. Mit heutigen Kränen, sogar mit Hubschraubern sei das nicht zu machen. Mit einer derart unvorstellbaren Aufschüttung von Sand schon gar nicht. Wie schafften es dann die Ägypter?
Der Professor fühlte sich so in die Enge getrieben, dass er sagte, es werden dann wohl Ufos gewesen sein und die Einwände gingen im allgemeinen Gelächter unter.
Laima überlegte, was es eigentlich war, was sie an der Situation von damals so störte? Es war die Arroganz. Eine Überlegenheit, die Professor Bersinsch nie hatte. Und diese Überlegenheit führte zu einer Blindheit. Es machte die Menschen blind andren Fakten gegenüber als denen, die sie sowieso schon erwarteten. Vielleicht war es, wie Schüssli in seinem Vortrag bei Bione gesagt hatte. Das, was man erwartete, trat schließlich ein. So wie man die Welt sah, so war sie auch. Wenn man etwas nicht sehen wollte, existierte es einfach nicht. Was nicht vorstellbar war, war einfach nicht da. Hatte sie bis jetzt nicht auch so gedacht? War es ihr nicht bequem, einfach nur das zu sehen, was sie sehen wollte? Dann hatte sich alles in einem Wirbelsturm verwandelt. Polizei. Ihre Mutter. Killer. Hatte sie das gewollt? Hatte ihr Denken das in ihr Leben gezogen? Sie schwebte in ständiger Gefahr, war mehrfach nur knapp dem Tod entronnen.
Irgendetwas zwang sie, das Leben neu zu sehen seit ihrer Trennung von Tooms.
Alle folgten dem Dropaolat, der nicht mehr seinen Gesang anstimmte, sondern sich rege mit von Stein unterhielt, während Thian übersetzte.
Laima sah hinunter auf den Fluss, der sich tief unter ihnen wie eine silbrige Schlange wand. Eine Leere breitete sich in ihr aus. Die Vergangenheit stieß sie ab. Die Zukunft machte ihr Kopfschmerzen. Sie ließ ihre Gedanken los.
Sie folgte einfach der Gruppe, die bis auf den Dropaolat und von Stein sehr müde wirkte. War es die Begegnung mit dem Tod in Form der Mumie? War es die Luft? Laima war es egal.
Sie freute sich die Ziegen zu sehen, als sie wieder bei der Schlucht der Dropas angelangt waren. Lebendig und voll Freude sprangen sie von Felsen zu Felsen. Mütter säugten ihr Zicklein. Alles strahlte eine unbeschwerte Natürlichkeit aus, die fern aller erdachten Theorien um eine gedankliche Vorherrschaft war.
Die Frauen hatte bereits in der großen Versammlungshalle das Essen vorbereitet. Wieder wurden sie von neugierigen Jungen und Mädchen freudig umringt, die den Dropaolat ausfragten, der geduldig mit ihnen sprach, bis er sie fortschickte.
Sie setzten sich an den Tisch und aßen bereitwillig das Mahl, das ihnen aufgetragen wurde.
„Der Dropaolat hat sich bereit erklärt, einen Blick in die Zukunft unserer Expedition zu werfen, um uns zu sagen, was uns erwartet“, sagte von Stein.
„Glauben sie wirklich an Wahrsagerei?“, fragte Professor Carlsen.
„Keine Ahnung. Aber schaden kann es nicht. Mich interessiert eigentlich mehr die Art der Meditation, mit der er sich in diesen Zustand versetzt. Ich habe mich mit ihm lange unterhalten, aber er versicherte mir, dass er nichts dazu brauche. Er könne sich allein durch geistige Übung in diese Trance versetzen.“
„Haben sie ihn gefragt, ob er diese Fähigkeit geerbt hat?“, wollte Laima wissen.
„Er meinte, jeder habe Zugang zu diesem inneren Raum. Man brauche keine speziellen Fähigkeiten. Er unterrichtet sogar die Kinder darin, wenn sie auch etwas ungeduldig und nicht so konzentriert sind.“
„Ist das nicht gefährlich?“, fragte Slinkssons.
„Es sei nicht die tiefe Trance des selbst angeregten Todes, bei der der Silberfaden, wie er ihn nennt, der den Geist mit dem Körper verbindet, willentlich reißt. Er sagt aber, es gibt einige Höhlen, in denen die lebenden Toten wohnen. Es sind heilige Männer, die so tief meditieren, dass sie über Monate weder Wasser noch Nahrung brauchen. Sie nennen sie Samadhi. Wenn sie in diesem Zustand gestört werden, können sie sterben.“
Nach dem Essen überkam Laima eine ungewohnte Müdigkeit.
„Ist es bei der Anpassung an die Höhe normal, dass man sich so müde fühlt, geradezu schwach?“, fragte sie.
„Das ist die Druckveränderung“, sagte Professor Carlsen. „Es wird nicht mehr die gleiche Menge der eh schon dünneren Luft in die Lungen gepresst. Sauerstoff ist Mangelware. Körperliche Anstrengungen werden schwerer und zehren stärker an der Substanz. Ich würde vorschlagen, dass sie sich ausruhen und nicht gleich zu Beginn der Expedition verausgaben.“
„Das ist mal eine gute Idee“, sagte Sam ‚The Rock’ Jackson.
„Ich schließe mich an“, sagte Schüssli.
Müde vom Essen und ihrem Ausflug zur Bestattungshöhle, legten sich alle erschöpft aber zufrieden hin. Laima hörte bereits die Ersten schnarchen, als sie in unruhigen Halbschlaf fiel.