36
»Seid ihr sicher, dass er zurückkommt?«, fragt Burako. »Woher wollen wir wissen, was diese Fremden tun? Wenn ihr mich fragt, gehen sie einmal in diese Richtung und im nächsten Augenblick in die andere. Ohne Sinn und Verstand. Woher wollt ihr es also wissen?« Er schüttelt den Kopf.
»Kennt nicht der Jäger die Eigenarten des Tapirs?«, erwidert Achiri ruhig. »Genauso kennt unsere Pia die Eigenarten der Fremden. Hört auf sie.«
»Er wird kommen«, versichere ich. Es kostet mich immer noch Mühe, mich auf diese Sache zu konzentrieren und nicht ständig an Eio zu denken. Bitte sei in Sicherheit. Bitte sei in Sicherheit… »Sein Lebenswerk bricht um ihn herum zusammen und diese Schlucht ist das Zentrum von allem. Er wird kommen.«
Wir haben uns rund um die Falkschlucht – oder um das, was einmal die Falkschlucht war – auf die Lauer gelegt. Jetzt ist es einfach nur eine kahle Senke im Dschungel, eine bemooste Wunde, die innerhalb weniger Tage wieder grün und verheilt sein wird. Die üblichen Orchideen, Farne und Helikonien werden die Wunde bedecken und der Dschungel wird vergessen, was hier einmal wuchs. Elysia ist ausgerottet. Unwiederbringlich. Nur die Ai’oaner und die Wissenschaftler, denen die Flucht aus dem Dschungel gelingt, werden sich daran erinnern.
Es wird dunkler; nur noch eine Stunde bis Sonnenuntergang. Ich bin ganz sicher, dass Paolo früher oder später kommt, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist in der Schlucht. Aber vielleicht müssen wir bis morgen früh auf ihn warten.
Ich schließe die Finger um den steinernen Vogel in meiner Tasche. Oh, Eio, wo bist du?
»Pssst, er kommt.« Kapukiri steht aufrecht da, die Augen geschlossen. Mit beiden Händen hält er einen langen Stab vor sich. Mein Herz schlägt schneller, da ich annehme, er meint Eio, aber dann sehe ich, dass dem nicht so ist.
Ich trete auf die Lichtung, als Paolo am anderen Ende auftaucht. Ohne mich umzudrehen, weiß ich, dass die Ai’oaner hinter mir jetzt nicht zu erkennen sind.
Paolo kommt langsam zum Stehen und starrt auf die verwüstete Schlucht. Sein maskenhafter Gesichtsausdruck droht zu zerbröckeln. Wut überkommt ihn, heiß und brodelnd wie Lava. Bald tauchen auch die anderen auf: Timothy, der Rest des Immortis-Teams, meine Mutter, diverse andere Wissenschaftler und Arbeiter. Keine Tante Harriet, kein Vater. Ich hoffe, den beiden ist die Flucht gelungen.
Alle sind bewaffnet und wirken erschöpft. Konnten sie irgendetwas retten? Vielleicht sind die Ameisen in ein paar Tagen weg, weitergezogen, und sie können zurück und ihr Hab und Gut und ihre Ausrüstung in Sicherheit bringen. Warum denke ich überhaupt an so etwas? Little Cam ist nicht mehr mein Zuhause. Das sind nicht mehr meine Probleme.
»Du hast heute etwas Schreckliches getan, Pia.« Onkel Paolos Stimme klingt gepresst. »Etwas ganz, ganz Schreckliches.«
»Du hast viele schreckliche Dinge getan. Ich denke, wenigstens eines steht mir auch zu.«
Mit einer zornigen Geste weist er auf die verwüstete Schlucht. »Das ist dann also dein Vermächtnis? Der einzige unsterbliche Mensch auf dieser Erde – und das gibst du zurück? Du willst deine eigene Rasse wegen einer Laune auslöschen. Wegen einer hormongesteuerten Bindung an einen jungen Wilden?«
»Mit Wilden kenne ich mich aus«, erwidere ich. »Ich wurde von ihnen erzogen.«
»Versuch nicht, mir die Worte im Mund herumzudrehen, Mädchen. Ich habe dich zu dem gemacht, was du bist. Und ich kann dich auch vernichten.«
»Du wirst sie nicht anrühren, Karaíba.« Luri kommt aus der Deckung und stellt sich neben mich. Darauf wirbeln die Ai’oaner wie Blätter aus dem Dschungel und umringen uns. Die Wissenschaftler weichen zurück und legen ihre Gewehre an. Doch auf jedes Gewehr richten sich fünf Giftpfeile.
Burako tritt vor. »Karaíba, wir aus Ai’oa haben die Geschichte vom Pia-Vogel gehört. Wir wissen jetzt, was ihr mit den Brüdern und Schwestern, mit den Müttern und Vätern getan habt, die das Dorf verlassen haben, um auf eure Art zu leben. Wir wissen, dass sie tot sind. Wir haben alle diese Dinge gehört –«
»Wir müssen uns das nicht anhören!«, brüllt Sergei. Er macht einen Schritt nach vorn und bringt sein Gewehr in Anschlag. »Es ist reiner Unsinn, bloßes Geschwätz, das Pia von sich gegeben hat. Es ist lächerlich –«
Als hätte Kapukiri ihn herbeigezaubert, bohrt sich ein grün gefiederter Pfeil in Sergeis Hals. Lautlos bricht er zusammen. Die Wissenschaftler weichen erschrocken noch ein Stück zurück. Mit einem Aufschrei will ich zu Sergei laufen. Für einen Moment vergesse ich, dass er ein Mörder ist. Ich sehe nur einen Mann, den ich mein ganzes Leben lang gekannt habe, jemanden, den ich für einen Freund gehalten habe. Doch Luri zieht mich am Arm zurück. Ihre Augen blicken ernst.
Niemanden kümmert es, wer den Pfeil abgeschossen hat, und Burako lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und fährt fort: »Und wir wissen, dass sie wahr sind. Wir vom Stamm der Ai’oa haben in unserem Herzen keinen Platz für Mörder und Lügner und Diebe. Und wir haben euch als all das entlarvt. Jetzt werdet ihr diesen Ort verlassen. Ihr alle werdet diesen Ort verlassen, noch heute, und nie mehr zurückkommen. Wenn noch einmal ein Fremder sein Gesicht hier zeigt, erschießen wir ihn. Wir fallen nicht mehr auf Tricks und Lügen herein. Nie mehr. Geht. Geht jetzt.«
Die Reaktionen der Wissenschaftler sind gemischt. Einige scheinen mehr als bereit, dem Befehl zu folgen, andere straffen die Schultern, machen wieder einen Schritt nach vorn und heben erneut die Gewehre.
Paolo hält die Hand hoch, bis alle, einschließlich der Ai’oaner, still werden. Alle wollen hören, was er zu sagen hat.
»Wir werden gehen.« Die Ai’oaner beginnen zu jubeln, doch er wartet, bis sie merken, dass er noch nicht fertig ist. »Wir werden gehen«, beginnt er noch einmal, »und nicht zurückkommen. Es gibt keinen Grund mehr für uns, hier zu sein.« Er schaut mich an. »Und jetzt spreche ich zu dir, Pia. Hör mir gut zu. Du wirst mit uns kommen. Und zwar sofort.«
»Niemals. Ich –«
»Wir haben den Jungen.«
Meine Kopfhaut prickelt. Das kann nicht sein. Eio sagte, er würde sich verstecken. Der Dschungel würde ihn beschützen.
»Wir haben den Jungen, Pia. Und wenn du nicht mitkommst, bringen wir ihn um. So einfach ist es.«
Er breitet die Arme aus und klatscht dann in die Hände, um anzuzeigen, dass er fertig ist. Die Ai’oaner murmeln etwas von Tricks und Lügen, aber wirklich deutlich höre ich nur das wilde Pochen meines eigenen Herzens. Sie haben Eio. Sie müssen ihn haben. Und selbst wenn es nicht stimmt, wie könnte ich das Risiko eingehen? Nicht Eio. Niemals Eio. Ich liebe ihn – und ich konnte es ihm noch nicht einmal sagen.
»Ich komme mit.«
»Nein, Pia-Vogel«, flüstert Luri, doch Achiri bedeutet ihr, still zu sein.
Als ich über die Lichtung gehe, wird mein Körper langsam gefühllos. Kurz bevor ich Onkel Paolo erreiche, bleibe ich stehen und drehe mich noch einmal zu meinen Ai’oanern um.
Ich bin so stolz auf sie. Im Grunde war es ihre Idee, den Fremden die Stirn zu bieten, ihren Stolz zurückzuerlangen. Ich blicke Burako an. Achiri. Luri. Kapukiri. Ami. Und alle anderen, deren Namen eine Spiegelung des Dschungels sind. Dschungelmenschen. Jaguarmenschen. Jaguar. Mantis. Mond. Es ist alles eins – die Ai’oaner und der Dschungel, die Kaluakoa und das Yresa, die Jaguare und die Affen und die Papageien und der Fluss. Eine Welt voller Schönheit und Geheimnisse, eine Welt, die wir nie hätten verletzen dürfen. Aber wir haben es getan. Und jetzt sind es die Unschuldigen, die den Preis bezahlen, während die wahrhaft Schuldigen ungeschoren davonkommen und ihre schmutzige Arbeit anderswo wieder aufnehmen. Wenigstens meinen Ai’oanern wird nichts mehr passieren. Aber es waren nie meine, oder? Sie gehören dem Dschungel, genauso wie der Dschungel ihnen gehört.
Ich wende mich von ihnen ab und Paolo zu. Er legt einen Arm um meine Schultern und ich versuche nicht ihn abzuschütteln. Ich will nicht mehr kämpfen.
Die Worte, die er mir beim Gehen ins Ohr flüstert, machen alles noch schlimmer.
»Glaub ja nicht, dass es damit vorbei ist, du dumme Göre. Mag sein, dass du hier alles vernichtet hast, aber vergiss nicht, ich kenne dein Geheimnis.« Er umfasst mein Kinn und drückt fest zu, bis mir die Tränen kommen. »Da sind sie ja! Hunderte, Tausende, wenn ich es will. Ich brauche nichts weiter als dich und deine Tränen. Du hättest alles haben können, Pia – Gesundheit, Reichtum, Glück, Macht bis in alle Ewigkeit. Was immer du dir erträumt hättest, du hättest es haben können. Stattdessen hast du dir Kummer bis in alle Ewigkeit eingehandelt. Du wirst weinen, Pia, oh ja. Du wirst weinen. Das ist von jetzt an deine Aufgabe. Dein Sinn und Zweck. Wie gefällt dir das? Ich habe dir Sinn und Zweck gegeben und du hast mir alles vor die Füße geworfen. Wortwörtlich. Und was tue ich? Der freundliche, großzügige Onkel Paolo, der ich bin? Ich gebe dir erneut Sinn und Zweck. Ein Leben, das dem Weinen gewidmet ist, dem Weinen von Blumen, Pia. Klingt das nicht poetisch? Es müsste dir eigentlich gefallen, der Pia mit ihrer neuen, emotionalen Moral. Eine Schande, wenn du mich fragst. Bei der nächsten passen wir besser auf. Vielleicht nennen wir sie auch Pia. Vielleicht auch Antonia. Wer weiß? Die Welt ist voller Möglichkeiten. Ich kann es gar nicht erwarten!«
Wir kommen zum Fluss, wo die restlichen Einwohner von Little Cam – einschließlich mein Vater – warten. Er schaut mich traurig an, aber ich bin nur froh, dass sie ihm nichts getan haben, weil er uns zur Flucht verholfen hat.
»Wir gehen nicht zurück nach Little Cam?«, frage ich.
»Was? Um uns von diesen Monstern auffressen zu lassen, die Will erschaffen hat? Wohl eher nicht, meine Liebe. Nein, wir brechen auf zu neuen Ufern. Vielleicht Afrika. Ich habe gehört, dass man dort an manchen Orten mehr Himmel als Land sieht. Wäre das nicht eine nette Abwechslung?«
Alle steigen in die Boote und tuckern flussabwärts. Eio hatte recht. Überall sind Boote so versteckt, dass sie von Flugzeugen und Helikoptern aus nicht zu sehen sind. Little Cam. Ein einziges, großes Geheimnis.
Onkel Timothy müht sich mit dem Motor eines Bootes ab und überschüttet jeden mit Flüchen, der in seine Nähe kommt, weil das Ding nicht startet.
»Ihr habt Eio nicht, oder?«, frage ich.
Paolo lacht. »Natürlich nicht.«
Eio ist in Sicherheit. Ich kann aufatmen. Daran kann ich mich festhalten. Das gibt mir Hoffnung.
Aber nicht viel.
Alles, was Paolo sagt, stimmt. Little Cam ist am Ende, das schon, aber die Forschungsziele leben in ihren Köpfen weiter und meine Tränen geben ihnen eine Zukunft. Das Immortis-Projekt ist nicht am Ende. Im Gegenteil, es beginnt erst so richtig. Was bedeutet, dass viele weitere Menschen sterben werden. Wahrscheinlich keine Ai’oaner. Aber andere.
Ich wurde geschaffen, um Leben in die Welt zu bringen. Leben im Überfluss, überschäumendes Leben, Leben, das die wildesten Träume der Menschheit übersteigt.
Doch alles, was ich bis jetzt vollbracht habe, ist der Tod.
»Eins fehlt«, höre ich zufällig jemanden sagen. Ein Boot fehlt. Tante Harriet. Sie muss es genommen haben. Sonst fehlt niemand. Auch sie ist in Sicherheit und ich bin froh darüber. Ich hoffe, dass wer immer ihr von Evie erzählt, es behutsam macht, und sie eines Tages lernt, sich selbst zu vergeben. Sie hat alles Menschenmögliche für ihre Schwester getan, aber ich weiß vielleicht besser als jeder andere, dass die Schuld immer einen Weg in dein Herz finden wird.
Das vorletzte Boot legt ab. An Bord sind meine Eltern. Meine Mutter würdigt mich keines Blickes. Mein Vater winkt und ruft mir zu, dass wir uns weiter flussabwärts sehen – was ihm einen bösen Blick von meiner Mutter einbringt.
Nur Timothy, Haruto, Jakob, Paolo und ich sind noch übrig. Timothy startet den Motor und einer nach dem anderen geht an Bord. Mir kommen die Tränen. Das passiert ziemlich oft in letzter Zeit. Aber sie fließen nicht über meine Wangen. Vielleicht trockne ich aus. Ich habe noch immer nicht richtig um Onkel Antonio geweint. Vielleicht ist mir noch nicht ganz bewusst, dass er tot ist. Aber wenn ich weine, will ich es nicht vor Onkel Paolo tun. Diese Genugtuung will ich ihm nicht geben. Noch nicht.
Die letzten Sonnenstrahlen fallen auf den Fluss und setzen seine kupferfarbene Oberfläche in Brand. Ich betrachte das sich kräuselnde Wasser. Es schlägt ans Ufer und wartet darauf, dass es mich wegbringen kann.
Ein Prickeln auf meiner Kopfhaut. Mein Herz stolpert ganz kurz und ich atme langsam und leise aus.
Dort im Wasser neben dem Boot dümpelt eine einzelne Elysia-Blüte.