29

»Du bist gekommen.«

»Ja.«

Eio schaut an mir vorbei. »Papi.«

»Hallo, Eio«, begrüßt Onkel Antonio ihn leise. Er hat kaum zwei Worte gesprochen, seit wir uns im Maschinenhaus getroffen haben. Er wirkt ausgelaugt, als hätte das Graben in der Vergangenheit ihm seine gesamte Energie und Willenskraft geraubt.

»Was hat Kapukiri mir zu sagen?«, frage ich beklommen.

»Er erwartet dich«, erwidert Eio. »Er sagte, du würdest kommen.« Sein Blick wandert zu meinem Hals. »Du trägst meinen Anhänger.«

Er streicht mit den Fingern über den steinernen Vogel, als ich nicke.

Eio führt uns in die Mitte des Dorfes. Der Platz ist von einem halben Dutzend niedrig brennender Feuer erleuchtet. Ami kommt aus dem Nichts herbeigerannt, wirft sich an mich und schlingt Arme und Beine um meine Taille. »Pia! Du bist da! Du bist da! Eio hat gesagt, du würdest nicht wiederkommen, aber ich hab ihm nicht geglaubt!«

Ich drücke sie an mich, als Eio fragt: »Warum bist du wiedergekommen?«

»Wegen Ami natürlich.«

Das gefällt ihr. Sie lacht und streckt Eio die Zunge heraus.

»Wo ist Kapukiri, Ami?«, frage ich.

»Da drüben. Komm mit, komm mit!« Ami zieht mich an den Hütten vorbei bis zur letzten in der Reihe, der größten, in der Kapukiri wohnt. Er sitzt mit untergeschlagenen Beinen in der Mitte der Hütte und hat eine Schüssel Maniok vor sich. Burako und Achiri sind bei ihm und die übrigen Ai’oaner versammeln sich vor der Hütte. Ich lächle Luri zu und sie lächelt zurück.

Eio gibt mir ein Zeichen, dass ich hineingehen soll, und folgt mir dann. Wir setzen uns dem Medizinmann gegenüber. Onkel Antonio bleibt hinter uns stehen. Aus Höflichkeit esse ich etwas von dem Maniokbrei. Dann folge ich Eios Beispiel und fasse mich in Geduld. Kapukiri macht alles zu seiner Zeit, es hat keinen Zweck, ihn zu drängen.

Eio nimmt meine Hand. Ich betrachte sie und verschränke dann langsam meine Finger mit seinen. Seine Haut ist warm und ein wenig trocken und wie immer löst seine Berührung ein Prickeln aus, das über meinen Arm bis ins Herz kriecht.

»Es tut mir leid«, flüstere ich.

Er drückt meine Hand. »Ich weiß. Mir auch.«

Ich blicke in seine blauen Augen und spüre, wie mein Innerstes sich zusammenzieht. Ich hatte gedacht, ich könnte ihn einfach vergessen. Dass meine Gefühle für ihn verschwinden würden, wenn ich mich nur genügend anstrengte. Aber Eio aus meinem Herzen zu verbannen, wäre wie der Versuch, einen Schatten verschwinden zu lassen, indem man das Licht ausknipst. Je stärker ich mich wehre, desto tiefer fällt er in mein Herz.

Zum Glück lässt Kapukiri uns nicht lange warten. Ich habe keine Ahnung, was auf mich zukommen wird, bin aber dennoch überrascht, als er mit tiefer Stimme in einem langsamen Singsang zu sprechen beginnt: »Die Legende der Kaluakoa, diejenigen, die waren und nicht mehr sind«, beginnt er feierlich auf Ai’oanisch.

»Die Kaluakoa waren freundliche Menschen wie die Ai’oaner. Ihr Zeichen war das von Jaguar, Mantis und Mond. Sie lebten im Einklang mit dem Dschungel und selbst die große Anakonda bot sich ihren Feuerstellen an.

Doch hinter dem Berg wohnten die kämpferischen Maturo, die Gesichtsfresser. Sie glaubten, je mehr Menschen sie töteten, desto stärker würden sie. Und aus den Gesichtern derer, die sie töteten, machten sie Umhänge, in die sie ihre Babys wickelten. Sie töteten viele Kaluakoa.«

Kapukiri hält inne, nimmt eine Handvoll Maniok und kaut. Da er kaum noch Zähne hat, dauert es einige Zeit. Ich starre ins Feuer und stelle mir eine Vergangenheit vor, als noch kein Karaíba einen Fuß in den Dschungel gesetzt hatte und nur die Vorfahren der Ai’oaner durch die Wälder streiften.

Kapukiri macht ein schmatzendes Geräusch mit den Lippen und spricht weiter.

»Die Kaluakoa flehten die Götter an, ihnen einen Beschützer zu schicken. Da sandten die Götter Miua, das Gott-Kind. Miua sah die Grausamkeit der Maturo und die toten, gesichtslosen Kaluakoa und sie weinte viele Tränen um sie. Aus ihren Tränen wuchs Yresa und Tränen sammelten sich in den Blüten.«

Ich schaue Eio an. »Der Ursprung von Yresa«, flüstere ich. Noch deutlich erinnere ich mich an seine Worte, als er mir zum ersten Mal den Fluss zeigte. »Du kennst ihn nicht, oder? Den Ursprung von Yresa?« Es ist das erste Mal, dass ich wieder an diesen Moment denke.

Kapukiri räuspert sich und ich merke, er ist verärgert, weil ich ihn unterbrochen habe.

»Entschuldige«, flüstere ich.

Er blickt mich mit zusammengekniffenen Augen an und fährt fort: »Nach Miuas Anweisung tranken die Ältesten von den Tränen der Yresa und starben. Die weisen Männer des Dorfes machten einen Schnitt in die Handflächen der Toten und gaben einen Tropfen von ihrem Blut auf die Zungen der Lebenden. Daraus entstand die Miu’mani, die Todeszeremonie. Nachdem die Menschen das Blut der Ältesten getrunken hatten, weinten und klagten sie im Tal und aus ihren Tränen wuchs immer mehr Yresa. Von da an starb kein Ältester mehr im Schlaf. Er ging ins Tal der Yresa und trank ihre Tränen und sein Blut wurde den Menschen gegeben. Das Blut floss von Mutter zu Tochter, von Vater zu Sohn und jeder Generation wurde ein Beschützer geboren. Diese Beschützer waren mächtige Krieger, schnell und stark. Sie wurden Tapumiri genannt und sie konnten nicht sterben. Wenn die Maturo über den Berg kamen, verteidigte der Tapumiri die Kaluakoa und schickte die Maturo ohne ein einziges erobertes Gesicht zurück.«

Ich starre wie gebannt ins Feuer. Die Flammen nehmen Gestalt an, werden zu Menschen. Rotgoldene Kaluakoa, die aufstehen und fallen, gebären und sterben. Kurze, vergängliche Leben, gelebt in scheinbarer Bedeutungslosigkeit, doch jetzt unsterblich geworden durch Kapukiris Worte.

»Die Tapumiri waren so mächtig, dass ihre Körper nicht alterten. Aber im Herzen wurden sie alt, und wenn sie die Fülle ihrer Jahre ausgeschöpft hatten, tranken auch sie die Tränen Miuas und starben. Denn man sagt, dass der große Fluss des Lebens nicht ewig fließt, sondern mit Blut erneuert werden muss, genau so wie der große Fluss im Dschungel mit Regen erneuert werden muss. Deshalb bestimmten die Götter, dass viele sterben müssen, bis ein Beschützer geboren werden kann. Es gibt keine Geburt ohne Tod. Es gibt kein Leben ohne Blutvergießen.

Doch dann wurde dem Häuptling der Kaluakoa ein Tapumiri geboren und er wurde Häuptling, als sein Vater starb. Das war Izotazza der Törichte, denn er wollte der einzige Tapumiri auf der ganzen Welt sein und der mächtigste. Deshalb verbot er den Ältesten, von den Tränen der Yresa zu trinken, und brannte das Tal nieder, in dem sie wuchsen. Die Ältesten weinten wegen seiner Dummheit, doch Izotazza ließ sich nicht umstimmen. Und so wurden keine Beschützer mehr geboren.«

Das Feuer ist heruntergebrannt. Die Holzkohle glüht wie die Augen eines Jaguars. Ich kann meinen Blick nicht davon lösen.

»Als die Maturo von der Dummheit dieses Häuptlings hörten, kamen sie in nie gekannter Stärke über den Berg, mit Frauen und Kindern und alle trugen Messer und Giftpfeile bei sich. Izotazza war nicht mächtig genug, um sie alle allein zu bekämpfen, und so wurden sämtliche Kaluakoa getötet.

Izotazza sah, wozu seine Dummheit und sein Hochmut geführt hatten. Er ging in das Tal, in dem früher Yresa wuchs, und beweinte den Tod der Kaluakoa. Drei Monde und drei Sonnen lang weinte er, und als er keine Tränen mehr hatte, schaute er auf und sah, dass das Tal wieder voller Yresa war. Seine Tränen hatten sie hervorgebracht. Izotazza trank davon und starb.«

Kapukiri hält inne. Fast scheint es, als sei er in Trance gefallen. Er starrt in die Glut und in seinen Augen spiegelt sich die glimmende Kohle. Reglos wie eine Statue sitzt er da, nicht einmal sein Brustkorb hebt und senkt sich. Eine ganze Weile verharrt er so, bevor er fortfährt.

»Seit dieser Zeit fürchten die Menschen der Welt das Tal der Yresa. Die Ai’oaner trinken nicht davon, denn wir sind ein starkes Volk. Wir können uns gegen Stämme wie die Maturo verteidigen und brauchen Miuas Tränen nicht.«

Er blickt auf und schaut mich aus seinen dunklen Augen, die so jung sind und gleichzeitig uralt, direkt an. Ich habe das Gefühl, als sähe er jeden Augenblick meines Lebens, sähe alles, was ich je getan habe, und hörte jeden Gedanken, den ich je gedacht habe. Seine Augen halten meinen Blick fest, sie brennen.

»Doch wir vergessen die Kaluakoa nicht, diejenigen, die waren und nicht mehr sind. Und wir vergessen nicht, dass es ein Gleichgewicht geben muss. Keine Geburt ohne Tod. Kein Leben ohne Tränen. Was von der Erde genommen wird, muss ihr zurückgegeben werden. Und wer nimmt und nicht zurückgibt, wer das Gleichgewicht des Flusses stört, von dem wird alles genommen werden. Niemand sollte ewig leben, sondern sein Blut dem Fluss schenken, wenn die Zeit gekommen ist, damit morgen ein anderer leben kann. Das ist der Lauf des Lebens.« Er schließt die Augen, der Zauber ist gebrochen und ich atme nach mehreren Minuten zum ersten Mal wieder aus. »Der Lauf des Lebens«, flüstert er.

»Der Lauf des Lebens«, wiederholen die Dorfbewohner. »Der Lauf des Lebens.«

»Der Lauf des Lebens«, flüstert auch Eio.

Dann herrscht Schweigen.

Ein ganz und gar seltsames Gefühl überkommt mich. Mir ist, als sei ich gar nicht mehr vorhanden, sondern ein körperloser Nebel, der über dem Dorf schwebt und herunterschaut auf die Ai’oaner, die im Kreis um einen alten Medizinmann herumstehen, und auf ein blasses Mädchen mit großen Augen. Was denkt sie wohl, so still und blass, wie sie ist. Ich spüre, dass gerade etwas Schreckliches mit ihr geschehen ist und dass sie es noch nicht begreift. Verzweifelt wünsche ich mir, aufsteigen und in den Blätterhimmel des Regenwaldes davonschweben zu können, diese düstere Szene hinter mir zu lassen und mich nach fröhlicherer Gesellschaft umzuschauen. Aber ich werde wieder auf die Erde hinuntergezogen und dann bin plötzlich ich das bleiche Mädchen, das auf einer Blättermatte sitzt. Ihr Schmerz ist so groß und stechend, dass ich mich krümme und nach Luft schnappe, aber meine Lunge kann keine aufnehmen. Als verachte selbst die Luft mich.

»Pia?« Aus weiter Ferne hallt eine Stimme in meinem Kopf wider. Onkel Antonio. Ich will mich vor ihm verstecken, aber ich kann nirgendwohin. Ich bin ohne Schutz allem ausgeliefert, wie eine Zelle auf dem Objektträger eines Mikroskops. Keine Fluchtmöglichkeit.

»Pia, schau mich an.« Eio hebt mein Kinn an und sucht meinen Blick. »Ist alles in Ordnung?«

»Nein«, flüstere ich. »Eio, bring mich irgendwohin, wo niemand mich sehen kann.«

Meine Bitte scheint ihn zu verwirren, doch er handelt schnell. Die Ai’oaner lassen mich wortlos gehen. Ich schaue sie nicht an. Onkel Antonio streckt die Hand nach mir aus, aber ich schüttle den Kopf. Ich kann ihm im Moment nicht gegenübertreten. Ich muss weg.

Wir gehen in den Wald hinein und ich sinke am Fuß eines mächtigen Kapokbaumes auf den Boden.

»Eio, ich bekomme keine Luft!«

Er zieht mich an sich und legt meinen Kopf an seine Schulter. »Doch, du bekommst Luft. Du atmest. Spürst du es nicht?«

Ich spüre gar nichts. »Hast du diese Geschichte schon einmal gehört?«

Schweigen. Dann: »Ja.«

»Bedeutet sie das, was ich glaube?«

»Ich weiß es nicht. Es ist nur eine Geschichte.«

Ich hebe den Kopf, damit ich ihn ansehen kann. »Ich will sie nicht glauben. Ich weiß nicht, ob ich sie glauben kann. Aber Onkel Antonio glaubt sie, nicht wahr?« Natürlich glaubt er sie. Er sagte, er hätte alles mit eigenen Augen gesehen. Ich weiß, was sich in Wirklichkeit hinter diesen Labortüren abspielt.

»Eio, ich muss zurückgehen.«

»Was? Warum? Er hat mir versichert, dass du dich von mir zur Stadt bringen lassen würdest, nachdem du die Geschichte gehört hast.«

Ich setze mich aufrecht hin und atme tief durch. »Ich muss wissen, ob es wahr ist, Eio. Ich muss zurückgehen und es mit eigenen Augen sehen. Du hast es selbst gesagt, vielleicht ist es nur eine Geschichte… Aber ich weiß, wie ich es herausfinden kann.«

»Ich komme mit.«

»Nein, bitte nicht. Wenn sie wahr ist – oh, Eio –, wenn sie wahr ist, hatte Onkel Antonio recht. In allem.« Es ist viel Böses in Little Cam. »Bitte bleib hier. Ich weiß, wo ich dich finde.«

Er wirkt angespannt, doch schließlich nickt er. »Wirst du es schaffen?«

»Ich weiß es nicht.« Ich stehe auf und warte, bis sich nicht mehr alles dreht. »Ich weiß es wirklich nicht.«

Der Marsch zurück nach Little Cam hat etwas Unwirkliches. Der Dschungel könnte genauso gut eine Pappkulisse sein und ich eine Marionette, die sich staksig und unnatürlich darin bewegt. Ich gehe schnell, weil ich nicht will, dass Onkel Antonio mich einholt. Hoffentlich bleibt er noch ein bisschen in Ai’oa.

Ich muss die Geschichte der Kaluakoa auf ihren Wahrheitsgehalt prüfen. Wenn diese Legende, die von alten Medizinmännern am Lagerfeuer erzählt wird, das bedeutet, was ich glaube, bewahrheiten sich Onkel Antonios schlimmste Befürchtungen: Die Wahrheit wird mich vernichten. Ich spüre schon, wie es anfängt, es wie eine Ratte an jedem Gedanken nagt, der mir durch den Kopf geht.

In Little Cam ist es fast so dunkel wie im Dschungel. Ich gleite über das Gelände wie ein Geist, der zurückkommt, um seine Hinterbliebenen heimzusuchen. Alles scheint zu schlafen. Kein Licht in den Fenstern, keine Stimmen in der Dunkelheit. Ich bin allein und es macht mir Angst. Lieber wäre ich in einer Zelle im Block B eingesperrt als allein mit mir und der Stimme in meinem Kopf.

Am liebsten würde ich direkt in mein Zimmer gehen, die Tür hinter mir schließen und ins Bett kriechen. Mich unter der Decke verstecken und nie mehr vorkommen. Mich einfach in einen Raum einschließen, in dem nichts und niemand – keine Onkels oder Tanten, nicht Eio und vor allem nicht die Wahrheit – mich finden kann. Aber ich tue es nicht. Ich gehe um das Glashaus herum zu dem Chinarindenbaum, wo Onkel Antonio mich weinend entdeckte und wo ich erkannte, dass er Eios Vater ist.

Es ist finsterste Nacht, aber meine Elysia-Augen erkennen dennoch die Blätter am Baum und die Grashalme, als ich mich hinknie. Langsam streiche ich mit den Händen durchs Gras, meine Haut aufmerksam und sensibel, falls meine Augen sie übersehen. Wenn sie überhaupt da ist. Ich wünsche mit jeder Faser meines Herzens, dass es nicht so ist.

Nachdem die Menschen das Blut der Ältesten getrunken hatten, weinten und klagten sie im Tal und aus ihren Tränen wuchs mehr Yresa.

Das Gras ist bereits voller Tauperlen und bald sind meine Hände und Kleider nass. Jeder Halm ist weich, nur wenn meine Finger am Rand entlangstreichen, sind sie messerscharf.

Drei Monde und drei Sonnen lang weinte er, und als er keine Tränen mehr hatte, schaute er auf und sah, dass das Tal wieder voller Yresa war. Seine Tränen hatten sie hervorgebracht.

Meine Augen sind es und nicht meine Hände, die sie finden, kurz bevor ich erleichtert aufgeben will. Aber Erleichterung ist mir nicht vergönnt, nicht heute Nacht, denn da ist sie, genau an der Stelle, an der meine Tränen auf den Boden tropften. Matt und grau in der Dunkelheit, aber es besteht kein Zweifel. Je länger ich sie anstarre, desto deutlicher kommen die Farben zum Vorschein. Lilarote Blütenblätter mit goldenem Rand, die Orchideenform, die atemberaubende Schönheit. Eine Blüte hatte ich nicht erwartet. Einen Sämling, höchstens eine Knospe, aber keine voll entwickelte Blüte. Zwei Tage. Sie ist in nur zwei Tagen gewachsen.

Welche wissenschaftliche Erklärung hätte Onkel Paolo wohl dafür?

Die Sporen, aus denen Elysia wächst, sind in den Tränen Unsterblicher enthalten, in der DNA von Menschen, die Elysia in ihren genetischen Code aufgenommen haben. Auf eine verrückte, in der Wissenschaft noch nie da gewesene Art ist es irgendwie logisch. Trotz ihrer jahrzehntelangen Forschung sind die Wissenschaftler nicht darauf gekommen – und die »unzivilisierten« Ai’oaner wussten es die ganze Zeit.

In meinem Zimmer lege ich mich aufs Bett und drehe die Blüte hin und her, wobei ich höllisch aufpasse, dass ich sie nicht umdrehe und der Nektar herausfließt. Welche Schönheit. Welches Grauen. Vereint in einer einzelnen Blüte.

Ich höre ein leises Klopfen an der Tür und Onkel Antonios Stimme. »Kann ich reinkommen?«

»Bitte geh«, antworte ich gerade so laut, dass er es hören kann. »Ich brauche etwas Zeit.«

»Pia…« Ich höre die Ungeduld in seiner Stimme. »Okay. Gut. Ich gebe dir Zeit. Aber du musst wissen, dass wir nicht mehr viel davon haben.«

»Ich weiß.«

Nachdem er weg ist, betrachte ich die Blüte erneut und streiche über die samtenen Blätter.

Der Katalysator ist keine Pflanze. Er ist ein Mensch oder sogar viele Menschen. Die Geschichte erzählt all das: Ein Mensch trinkt den tödlichen Nektar einer Elysia-Blüte, und wenn er stirbt, trinken die anderen sein Blut. Das Blut floss von Mutter zu Tochter, von Vater zu Sohn und jeder Generation wurde ein Beschützer geboren. Fünf Generationen. Fünf Generationen müssen sterben, um einen »Beschützer« hervorzubringen, einen Tapumiri. Wenn ein ganzes Dorf den genetischen Einfluss von Elysia weitergibt, ist es logisch, dass ungefähr ein Kind aus jeder Generation unsterblich geboren wird.

Jaguar, Mantis, Mond. Kapukiri hat es in meinen Augen gesehen, in den wirbelnden Farben, die nur im Feuerschein zu erkennen sind.

In dieser wunderschönen, tödlichen Blüte sind die Tränen der Miua, die das Leben vieler einfordert, um einem unendliches Leben zu schenken.

Eine Mischung aus Elysia und dem Blut eines geopferten Menschen.

Das ist der Katalysator. Das ist Immortis. Das ist das Geheimnis, hinter das ich unbedingt kommen wollte. Das Schicksal, in das ich mich so bereitwillig fügen wollte.

Das ist mein Vermächtnis.

Ich scheine mich aufzulösen. Die Welt dehnt sich aus und umfängt mich, wie ein Monster, das die ganze Zeit geschlafen hat, jetzt endlich erwacht ist und seinen Heißhunger stillen will. Ich lasse die Blüte auf den Boden fallen – es ist mir gleichgültig, ob der Nektar hinausfließt oder nicht – und rolle mich auf meinem Bett zusammen.

Die Wickham-Tests. Onkel Paolo sagte immer, eines Tages würde ich verstehen, wozu sie nötig sind. Jetzt verstehe ich. Ich musste Sneeze töten, damit sie einigermaßen sicher sein konnten, dass ich auch einen Menschen töten kann. Jeder, der hierherkam, musste das unter Beweis stellen. Wir sind keine Kolonie von Wissenschaftlern.

Wir sind eine Kolonie von Mördern.

Wie viele mussten sterben, damit ich geboren werden konnte?

Und wer musste sterben, damit ich geboren werden konnte?

Sie mussten Dutzende Testpersonen gehabt haben – nein, keine Testpersonen. Opfer. Immortis muss für jede Injektion frisch sein. Und sie mussten viele Injektionen geben: Angefangen hat es mit 32 Stammeltern. 32 zeugen 16, 16 zeugen 8, 8 (minus 2, die wegliefen und starben, sodass einer ihrer Nachkommen überzählig war) zeugen 2 und 2 zeugen mich; 3 Injektionen pro Lebensspanne pro Generation…

»Halt!« Ich setze mich im Bett auf und schiebe die Zahlen von mir, unfähig weiterzumachen. Ich keuche auf und ein dünner Schweißfilm bedeckt meinen Körper.

Die Injektion soll übermorgen erfolgen. Falls Kapukiris Geschichte stimmt – brauchen sie ein Opfer. Jemanden, der sein Leben auf dem Altar der Unsterblichkeit opfert.

Ich muss nachdenken. Muss die Panik und den Nebel und das Entsetzen, die mich am Denken hindern, abschütteln. Ich laufe ins Bad und gieße den Nektar aus der Blüte ins Waschbecken, lasse das Wasser laufen, bis jeder Tropfen der schimmernden Flüssigkeit verschwunden ist. Mein Magen hebt sich, ich klammere mich am Waschbeckenrand fest, aber es kommt nichts.

In Panik – ich habe mich noch nie übergeben – laufe ich im Kreis herum, mache Sit-ups und Liegestützen und jogge auf der Stelle. Mein Blut zirkuliert schneller und wäscht einen Großteil der Hysterie weg. Ich zwinge mich, den Rest hinunterzuschlucken. Ich muss mich unter Kontrolle haben, damit ich die Sache nicht noch schlimmer mache.

Ich brauche einen Plan. Und ich brauche einen Verbündeten.

Schließlich setze ich mich vor meinem Fenster auf den Boden, das Gesicht zum Dschungel, und bemühe mich nach Kräften, die Dunkelheit in mir im Zaum zu halten. Sie lauert am Rand meines Bewusstseins und droht, mich lebendig zu verschlingen, wenn ich nur einen Moment nicht aufpasse.

Während ich auf den Morgen warte, rupfe ich die Elysia-Blüte in winzige Stückchen.