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Man erzählt mir, dass Onkel Paolo mich am Tag meiner Geburt an seinen weißen Laborkittel drückte und flüsterte: »Sie ist perfekt.« Sechzehn Jahre später sagen sie das noch immer. Jeden Tag höre ich das Wort, von den Wissenschaftlern oder Wachleuten, von meiner Mutter oder von Tante Brigid. Perfekt.

Sie sagen auch andere Dinge. Dass ich die Einzige meiner Art sei, zumindest bis jetzt. Dass ich die Krone der Schöpfung sei, eine Göttin aus Fleisch und Blut. Du bist unsterblich, Pia, und du bist perfekt, sagen sie.

Doch während ich hinter Onkel Paolo zum Labor trotte, die Schnürsenkel meiner Stiefel im Dreck schleifen und meine Hände einen flatternden Sperling umschließen, fühle ich mich alles andere als perfekt.

Der Dschungel außerhalb des Geländes ist unruhiger als sonst. Der Wind, der den Duft von Orchideen mitbringt, streicht durch die Kapokbäume und Palmen, als suchte er nach etwas Verlorenem. Die Luft ist so feucht, dass sich auf meiner Haut und auf Onkel Paolos grau meliertem Haar fast wie von Zauberhand Wassertröpfchen bilden. Als wir durch den Garten gehen, streifen schwer herabhängende Passionsblumen und stachlige Helikonien meine Beine und überziehen meine Stiefel mit Tau. Überall ist Wasser, aber das ist im Regenwald ja normal. Nur dass es sich heute kälter anfühlt, weniger erfrischend, aggressiver.

Heute ist ein Testtag. Die Tests heißen Wickham-Tests und sie finden nur alle paar Monate statt, oft ohne jede Vorwarnung. Als ich heute Morgen in meinem Schlafzimmer mit den gläsernen Wänden aufgewacht bin, dachte ich, mich erwarte das Übliche: für Onkel Antonio Gattungs- und Artenbezeichnungen aufsagen, mit Onkel Jakob unter dem Mikroskop Algenproben vergleichen und danach, vielleicht, ausgiebig im Pool schwimmen. Stattdessen begrüßte mich meine Mutter mit der Mitteilung, dass Onkel Paolo beschlossen habe, heute einen Test abzuhalten. Danach zog sie gut gelaunt wieder ab und ich musste mich in aller Eile fertig machen. Ich hatte nicht einmal Zeit, die Schnürsenkel zuzubinden.

Und da bin ich nun, keine zehn Minuten später.

Der Vogel in meinen Händen kämpft unermüdlich. Er kratzt mit seinen winzigen Krallen an meinen Handflächen und hackt mit dem Schnabel nach meinen Fingerspitzen. Er hat keine Chance. Seine Krallen sind scharf genug, um die Haut aufzuritzen – nur eben nicht meine Haut. Wahrscheinlich hat Onkel Paolo deshalb mich gebeten ihn zu tragen und tut es nicht selbst.

Mag ja sein, dass man meiner Haut keine Verletzungen zufügen kann, aber sie fühlt sich drei Nummern zu klein an und ich muss mich richtig anstrengen, um gleichmäßig zu atmen. Mein Herz flattert hektischer als der Vogel.

Testtag.

Beim letzten Test vor vier Monaten war kein lebendiges Tier im Spiel. Einfach war er trotzdem nicht. Ich musste fünf verschiedene Leute beobachten – Jacques, den Koch, Clarence, den Hausmeister, und drei weitere nicht wissenschaftliche Bewohner – und anschließend durchkalkulieren, ob sie mehr zum Wohlergehen von Little Cam beitrugen als für ihr Gehalt und ihre Verpflegung aufgewendet werden musste. Ich hatte entsetzliche Angst, dass das Ergebnis meiner Kosten-Nutzen-Analyse zur Entlassung eines von ihnen führen könnte. So weit kam es zwar nicht, doch Onkel Paolo redete ein ernstes Wort mit Tante Nénine, der Waschfrau, weil sie im Vergleich zu der Zeit, in der sie sich um die Wäsche kümmerte, zu viel schlief. Ich fragte Onkel Paolo nach dem Sinn des Tests und er erklärte mir, dass er zeigen würde, ob mein Urteilsvermögen für rationale, wissenschaftliche Beobachtungen klar genug sei. Rationale Beobachtungen hin oder her, ich bin mir immer noch nicht sicher, ob Tante Nénine mir meine Beurteilung verziehen hat.

Ich blicke hinunter auf den Sperling und frage mich, was wohl auf ihn zukommt. Einen Augenblick lang lassen meine Aufmerksamkeit – und meine Finger – nach, kaum merklich, aber es reicht, dass der Vogel sich befreien und auffliegen kann. Meine hervorragenden Reflexe reagieren schneller als mein Gehirn. Meine Hand greift in die Luft, schließt sich um den Vogel, und das alles in der Zeitspanne eines Augenzwinkerns.

»Alles in Ordnung?«, fragt Onkel Paolo, ohne sich umzudrehen.

»Bestens.« Ich weiß, dass er weiß, was gerade passiert ist. Das war schon immer so. Aber er weiß auch, dass ich nie so ungehorsam wäre und das von ihm gewählte Tier freilassen würde.

Tut mir leid, möchte ich am liebsten zu dem Vogel sagen.

Stattdessen umschließe ich ihn noch fester mit den Händen.

Es gibt zwei Laborgebäude in Little Cam. Wir kommen zum Block B, wo Mutter schon auf uns wartet. Sie trägt den gestärkten weißen Kittel und zieht sich Latexhandschuhe über. Mit einem klatschenden Geräusch legen sie sich um ihre Handgelenke.

»Ist alles bereit, Sylvia?«, fragt Onkel Paolo.

Sie nickt und geht voraus, durch eine Tür nach der anderen. Endlich bleiben wir vor einem kleinen, kaum genutzten Labor kurz vor dem alten Gebäudeteil stehen. Dieser alte Flügel wurde vor Jahren durch ein Feuer zerstört. Die Tür zu dem ausgebrannten Gang ist abgesperrt. Der Rost am Türknauf sagt mir, dass sie seit Jahren nicht mehr geöffnet wurde.

Regale, Schränke und Waschbecken aus Edelstahl säumen die Wände im Labor. Sie alle fangen mein Spiegelbild ein und geben es verzerrt wieder. Mitten im Raum steht ein Aluminiumtisch mit jeweils zwei Stühlen auf jeder Seite und einem Metallkäfig obendrauf.

»Setz das Versuchsobjekt Nr. 557 hinein«, sagt Onkel Paolo und ich lasse den Vogel in den Käfig hüpfen. Dieser ist gerade groß genug, dass er einen engen Kreis fliegen kann. Er wirft sich gegen das Metallgitter und landet dann auf dem Boden, die Flügel unnatürlich abgespreizt. Einen Augenblick später fliegt er wieder auf und wehrt sich mit heftigem Flügelschlag gegen seine Gefangenschaft.

Dann bemerke ich die Drähte, die sich vom Käfig zum Tisch schlängeln, dann nach unten und über den Boden bis zu einem kleinen Generator unter der Augendusche für eventuelle Notfälle.

Mir stockt der Atem und ich schaue kurz zu Onkel Paolo hinüber, ob er meine Reaktion bemerkt hat. Nein, er hat ein Klemmbrett vor sich und füllt ein paar Formulare aus.

»Dann wollen wir mal, Pia.« Er redet und schreibt gleichzeitig. Der Vogel landet erneut und fliegt wieder auf, klammert sich mit seinen kleinen Krallen seitlich am Käfig fest. Onkel Paolo reicht mir das Klemmbrett. »Setz dich. Gut. Hast du einen Stift dabei?«

Ich habe keinen, weshalb er mir seinen gibt und einen neuen aus der Kitteltasche zieht.

»Was soll ich tun?«, frage ich.

»Mach dir Notizen. Schreib alles auf. Diesem Versuchsobjekt wurden regelmäßige Dosen eines neuen Serums verabreicht, das ich aus Suma entwickelt habe.«

Suma. Pfaffia paniculata, ein allgemein bekanntes Stimulans, für das es aber wahrscheinlich weitere Dutzende Anwendungsgebiete gibt, die bisher noch nicht erforscht wurden. »Dann… soll der Test also zeigen, ob das Versuchstier mit dem… Stress dieses Tests besser umzugehen weiß als ein unbehandeltes Kontrollobjekt.«

»Richtig«, lobt er und lächelt. »Ausgezeichnet, Pia. Dieses Serum – ich nenne es E13 – sollte dem Vogel noch einmal einen Energieschub geben, wenn er eigentlich am Ende seiner Kräfte ist.«

Ich nicke. Ein solches Serum könnte sich in der Medizin auf tausend verschiedene Arten als nützlich erweisen.

»Keine Computer heute«, informiert Onkel Paolo mich. »Keine Instrumente. Verlasse dich allein auf deine geistigen Fähigkeiten. Beobachte. Dokumentiere. Die Auswertung kommt später. Du kennst die Vorgehensweise.«

»Ja.« Mein Blick geht kurz zu dem Vogel. »Ich kenne sie.«

»Sylvia!« Onkel Paolo schnippt mit den Fingern und meine Mutter knipst einen Schalter am Generator an. Ich spüre die Energie, bevor sie den Käfig erreicht, ein schwaches Vibrieren, das knisternd durch die Drähte zu meinen Füßen läuft. Die Härchen an meinen Armen stellen sich auf, als würde die Elektrizität in mich gepumpt.

Der Käfig beginnt zu summen, der Vogel zuckt und kreischt und flattert hektisch auf, nur um an das Metall zu stoßen und den nächsten Stromstoß zu bekommen. Ich beuge mich vor und beobachte ihn genau und erkenne den Augenblick, in dem der Vogel weiß, dass er nicht landen kann. Die Pupillen ziehen sich zusammen, er plustert sein Gefieder auf und beginnt im Kreis herumzuflattern, beschreibt enge Runden, bei denen einem schwindelig werden könnte.

Mir ist schlecht, doch ich will mir vor Onkel Paolo nichts anmerken lassen. Er lehnt sich zurück, die Hände auf dem Klemmbrett gefaltet. Er ist nicht hier, um den Sperling zu beobachten.

Er beobachtet mich.

Ich senke den Kopf und zwinge mich, etwas zu schreiben. Ammodramus aurifrons – Gelbwangenammer, Ordnung: Sperlingsvögel, kommt gewöhnlich in weniger dichten Bereichen des Regenwaldes vor. Ich schaue wieder hoch und beobachte den Vogel. Beobachte Onkel Paolo, wie er mich beobachtet. Ich achte darauf, dass sich in meinem Gesicht kein Muskel regt, atme ganz bewusst, langsam und gleichmäßig. Ich darf nicht zusammenzucken oder keuchen oder sonst etwas tun, das darauf hinweisen könnte, dass meine Gefühle meine Objektivität beeinträchtigen. Der Vogel versucht wieder zu landen und ich höre das Knistern und Zischen der Elektrizität. Die bereits erschöpfte Ammer nimmt ihr hektisches Fliegen wieder auf.

Flugdauer 3,85 Minuten, notiere ich. Mit 9,2 Flügelschlägen pro Sek. = 2.097 Schläge… Flugdauer 2,4 Minuten… Zahlen sind für mich wie Reflexe. Die Wissenschaftler ziehen mich gern damit auf. Ich würde zu viel Zeit mit ihnen verbringen, meinen sie. Einmal habe ich gefragt: »Was bleibt mir anderes übrig? Außer den Zahlen hab ich doch niemanden.« Eine Antwort darauf habe ich nie erhalten.

Die Ammer beginnt Fehler zu machen. Sie bewegt sich zunehmend ungeschickt und bekommt dadurch noch mehr Elektroschocks verpasst. Einmal krallt sie sich an den Metallstäben fest und presst sich an die Käfigwand. Der kleine Körper wird von Stromstößen geschüttelt.

Ich weiß, dass Onkel Paolo mich genau beobachtet und nach Zeichen von Schwäche forscht. Es kostet mich allergrößte Mühe nicht zusammenzuzucken.

Ich darf diesen Test nicht vermasseln. Das geht einfach nicht. Die Wickham-Tests sind das Kernstück meiner Ausbildung. Sie zeigen, ob ich das Zeug zur Wissenschaftlerin habe. Ob ich bereit bin für die Geheimnisse meiner eigenen Existenz. Sobald ich bewiesen haben, dass ich eine von ihnen bin, kann meine eigentliche Arbeit beginnen: andere wie mich zu erschaffen. Und das ist das A und O. Ich bin die Erste und Einzige meiner Art. Sechzehn Jahre lang war ich die Erste und Einzige. Jetzt habe ich nur einen Wunsch: Ich möchte jemanden haben, der weiß, wie es ist. Wie es ist, nie zu bluten. Wie es ist, in die Zukunft zu schauen und die Ewigkeit zu sehen.

Jemand, der weiß, wie es ist, von Menschen umgeben zu sein, die man liebt, die eines Tages jedoch aufhören zu atmen und verwesen, während dein Körper über alle Zeit hinaus funktioniert.

Von ihnen weiß es niemand. Weder meine Mutter noch Onkel Paolo noch irgendein anderer. Sie glauben, sie würden es verstehen. Sie glauben, sie könnten sich in mich hineinversetzen und es nachempfinden. Dabei wissen sie nur, was sie beobachten können: wie schnell ich laufen kann zum Beispiel oder wie rasch bei mir blaue Flecken verschwinden. Doch von meinem tiefsten Inneren, von der verborgenen Pia wissen sie im Grunde nur, dass sie anders ist.

Wie sehr können sie sich überhaupt nicht vorstellen.

Plötzlich zeigt das E13-Serum Wirkung, denn der Vogel fliegt wieder auf und dreht seine Kreise. Ich notiere jede Bewegung, doch meine Hand beginnt zu zittern. Ich sehe Onkel Paolos triumphierenden Blick, als der Vogel doppelt so kräftig mit den Flügeln schlägt wie zu Beginn des Tests. Eine, zwei, sechs Minuten, dann lässt die durch das Serum aktivierte Energie nach. Der Vogel kommt erneut ins Straucheln.

Ich möchte, dass es aufhört, aber ich wage nicht, zu meiner Mutter zu blicken. Sie würde sich auf Onkel Paolos Seite schlagen. Das tut sie immer. Onkel Paolo schreibt und schreibt. Ich wüsste gern, was er über mich notiert, aber es kostet all meine Kraft, mich zusammenzureißen.

Lange macht die Ammer es nicht mehr, dann wird ihr Herz aufhören zu schlagen. So weit wird es bestimmt nicht kommen. Ich schaue zu Onkel Paolo, doch sein Gesicht ist so ausdruckslos wie immer. Er ist der geborene Wissenschaftler.

»Ich glaube…« Ich halte inne, fahre mit der Zunge über die Lippen. Mein Mund ist trocken. »Ich glaube, ich habe ausreichend Daten.«

»Der Test ist noch nicht vorbei, Pia«, erwidert Onkel Paolo mit einem Stirnrunzeln.

»Aber… noch eine Minute und sein Herz bleibt –«

»Pia.« Sein Ton ist streng und das Stöhnen, das ich so lange zurückgehalten habe, entschlüpft mir schließlich. Onkel Paolo beugt sich vor. »Der Test ist noch nicht vorbei. Du musst deine Gefühle unter Kontrolle halten, Pia. Du musst den Blick aufs Ziel richten, nicht auf die Schritte, die nötig sind, um es zu erreichen. Das Ziel ist alles. Die Schritte sind nichts. Egal wie schwierig der Weg ist, das Ziel entschädigt für alles.«

Ich öffne den Mund, um weiter zu protestieren, lehne mich dann aber langsam zurück und gehorche. Er wird es nicht so weit kommen lassen. Bestimmt nicht.

Die Ammer landet schwerfällig, fliegt wieder auf. Sie versucht gar nicht mehr zu entkommen, nur noch sich auszuruhen.

Bestimmt nicht.

Der Vogel kann sich kaum drei Sekunden in der Luft halten, dann muss er wieder landen. Er kämpft, hat aber nicht mehr die Kraft aufzufliegen. Stattdessen hüpft er mit ruckhaften Bewegungen und glasigen Augen umher.

Der elektrische Strom zischt und knistert.

Oder doch?

Ich öffne den Mund und hole tief Luft –

Doch endlich spricht Onkel Paolo. »Genug. Du kannst ausschalten, Sylvia.«

Meine Mutter schaltet den Generator ab und der Vogel sackt erleichtert zusammen.

Ich auch.

Onkel Antonio kommt in mein Zimmer. Ich sitze mit untergeschlagenen Beinen auf meinem Bett und halte die Ammer in meinen Händen. Sie ist zu erschöpft und traumatisiert, um zu kämpfen. Ich streiche gedankenverloren über ihr Gefieder, während ich in den Dschungel hinausschaue. In meinem Zimmer sind drei Wände und sogar die Decke aus Glas. Da das kleine Haus direkt neben dem Zaun am westlichen Rand der Anlage steht, habe ich fast einen 360-Grad-Blick auf den Regenwald. Mein Zimmer war einmal ein Gewächshaus. Nach meiner Geburt beschlossen die Wissenschaftler, es in ein Zimmer für mich umzuwandeln. Der Rest des Hauses – botanische Labors – wurde zu einem zweiten Schlafzimmer mit Bad umgebaut, einem Wohnzimmer und einem Arbeitszimmer für meine Mutter.

Sie haben oft davon gesprochen, statt der gläsernen Wände Mauern hochzuziehen, aber ich habe mich jedes Mal dagegen gewehrt. Genauso habe ich dafür gekämpft, dass die Kameras entfernt wurden, die mich früher Tag und Nacht beobachtet haben. In beiden Fällen habe ich gewonnen, wenn auch nur knapp. Da das Gewächshaus nur wenige Meter vom Zaun entfernt ist und dazwischen kein anderes Gebäude steht, bin ich vor den Blicken der übrigen Little-Cam-Bewohner geschützt und habe einen Panoramablick auf den Dschungel. Es ist fast so, als gäbe es überhaupt keine Mauern. Ich liebe es, beim Aufwachen die Bäume über mir zu sehen. Manchmal sitze ich stundenlang auf meinem Bett, schaue hinaus und warte, dass irgendwelche Tiere an meinem Fenster vorbeikommen.

Und manchmal stelle ich mir sogar vor, wie es wohl auf der anderen Seite des Zauns wäre. Wie es wäre, einmal hereinzuschauen anstatt hinaus. So weit laufen zu können, wie ich möchte.

Aber das ist alles Quatsch. Meine Welt ist Little Cam, und wenn ich da draußen im Dschungel wäre, wüsste ich sowieso nicht, wohin ich laufen sollte.

Onkel Antonio geht hinüber zu der gläsernen Wand, stellt sich mit dem Rücken zum Dschungel und beobachtet mich, die Hände in den Taschen.

Von all meinen Tanten und Onkel in Little Cam ist mir Onkel Antonio der liebste. Im Gegensatz zu den anderen sagt er nie, ich sei perfekt. Er nennt mich »Chipmunk«, obwohl ich noch nie ein Streifenhörnchen gesehen habe, außer in Zoologiebüchern. Onkel Antonio übrigens auch nicht. Er wurde wie ich in Little Cam geboren.

»Ich habe bestanden«, antwortete ich auf seine unausgesprochene Frage. Sein Blick fällt auf den Vogel in meinen Händen.

»Und er?«

»Ich soll ihn in die Voliere zurückbringen.«

Onkel Antonio hat die Lippen fest zusammengepresst. In seinem dichten Bart sind sie kaum zu sehen. Er ist strikt gegen diese Tests, äußert seine Meinung aber nie laut. In Little Cam hat Onkel Paolo das Sagen und Onkel Antonio kann nichts dagegen tun.

»Ich gehe mit«, verkündet er. Ich nicke, froh über seine Begleitung.

Wir verlassen das Glashaus und gehen zu den Volieren. Zehn Reihen horizontaler Stäbe mit elektrisch geladenem Maschendraht dazwischen umgeben das Gewächshaus und den Rest des Forschungsgeländes, das wir Little Cam nennen und in dem wir unter dem Dach des Regenwaldes verborgen und sicher leben wie Ameisen in ihrem Bau. Von den dreizehn Gebäuden hier sind einige Labors, andere Wohnhäuser, in einem davon gibt es einen Pool. Dann gibt es noch die Gemeinschaftsanlage mit Fitnessraum, Lounge und Speisesaal. Vierundzwanzig Wissenschaftler, ein Dutzend Sicherheitsleute sowie diverse Dienstmädchen, Wartungsmonteure, Köche und Laborassistenten leben in Little Cam. Ich bin der Grund, weshalb sie alle hier sind, und ich bin der Grund, weshalb niemand von der Existenz dieses Ortes wissen darf.

»Wie viele Tests muss ich noch bestehen, bevor ich so weit bin, was glaubst du?«, frage ich.

Onkel Antonio zuckt mit den Schultern. »Darüber spricht Paolo nicht mit mir. Warum fragst du? Hast du es eilig? Ich dachte eigentlich, dass du von allen hier diejenige bist, die es am wenigsten eilig hat.«

Weil du ewig Zeit hast, denkt er bestimmt. Ich schaue ihn an und frage mich – nicht zum ersten Mal –, wie es wohl ist, mit dem Wissen leben zu müssen, dass man eines Tages einfach aufhört zu existieren.

Onkel Antonio kratzt sich den Bart. Er ist dicht und lockig und gibt ihm Ähnlichkeit mit einem Wollaffen. »Was hat er gesagt? Nachdem es vorbei war?«

»Was er immer sagt. Dass ich perfekt war und bestanden habe.«

»Perfekt«, schnaubt er.

»Wie? Glaubst du etwa nicht, dass ich perfekt bin?« Ich kann nicht widerstehen, denn es ärgert ihn jedes Mal, wenn ich auf dieses Thema komme. »Ich kann bis zu fünfzig Kilometer laufen, ohne eine Pause zu machen. Ich kann aus dem Stand zwei Meter hoch springen. Kein Material auf dieser Welt kann meine Haut verletzen. Ich kann nicht ertrinken und nicht ersticken. Ich bin gegen sämtliche bekannten Krankheiten immun. Mein Gedächtnis ist unfehlbar. Meine Sinne sind schärfer als die jedes anderen Menschen. Meine Reflexe reichen an die einer Katze heran. Ich werde nie alt« – meine Stimme versagt, meine ganze Selbstgefälligkeit ist plötzlich dahin – »und ich werde nie sterben.«

»Perfekt ist nur, wer sich perfekt verhält, Pia«, flüstert Onkel Antonio.

Ich muss fast lachen über dieses Klischee, doch er schaut so ernst, dass ich mich beherrsche.

»Wenn du doch so perfekt bist, Chipmunk«, fährt er fort, »warum lässt er dich dann immer weiter diese Tests machen?«

»Das ist nicht fair, das weißt du ganz genau.«

»Hast du je daran gedacht…« Er hält inne und schüttelt den Kopf.

»Was? Woran soll ich gedacht haben?«

Er blickt sich rasch um, bevor er antwortet. »Du weißt schon, einmal nicht zu bestehen.«

»Absichtlich durchzufallen? Warum? Nur damit ich keine weiteren Tests durchlaufen muss?«

Er antwortet mit einer Geste, die ganz genau bedeutet.

»Weil, Onkel Antonio, ich dann nie ins Immortis-Team aufgenommen werde. Ich würde nie erfahren, wie sie mich erschaffen haben, wie sie mich so gemacht haben, wie ich bin.« Und ich könnte nie mithelfen, andere von meiner Art zu erschaffen. »Du weißt so gut wie ich, dass ich das Geheimnis von Immortis erst erfahre, wenn ich zum Team gehöre. Es sei denn« – ich lächle ihn auffordernd an – »du willst es mir verraten.«

Onkel Antonio seufzt. »Hör auf, Pia.«

»Komm schon, sag es mir. Von der Elysia-Blüte weiß ich schon… aber was ist mit dem Katalysator? Wie wird Immortis hergestellt?«

»Du weißt genau, dass ich es dir nicht verraten darf, also hör auf zu fragen.«

Ich beobachte ihn genau, doch wenn er will, kann er ein genauso ausdrucksloses Gesicht machen wie Onkel Paolo. Einen Augenblick später erreichen wir das Tierhaus, doch anstatt hineinzugehen, bleibe ich vor der Tür stehen.

»Was ist?«, fragt Onkel Antonio.

Ich schaue auf die Ammer hinunter. Die Flügel liegen ausgebreitet auf meinen Handflächen und den Kopf hält sie unnatürlich ruhig. Ich spüre den Schlag ihres winziges Herzens, obwohl er so schwach und kaum wahrnehmbar ist.

In diesem Augenblick will ich nicht mehr die perfekte, gehorsame Wissenschaftlerin sein. Ich verhalte mich völlig irrational und werde es in der nächsten Minute wahrscheinlich bitter bereuen, aber ich öffne die Hände noch weiter, hebe die Ammer hoch und werfe sie vorsichtig in die Luft. Überrascht und desorientiert sackt sie mindestens dreißig Zentimeter nach unten, bevor sie die Flügel ausbreitet. Dann fliegt sie dem Himmel entgegen, hoch über das Dach des Tierhauses und verschwindet in der Dämmerung.