13
Als ich die Augen öffne, dämmert schon der Morgen.
Mein vom Schlaf noch schwerfälliger Verstand weigert sich zu begreifen, was ich sehe, und mein Körper verkrampft sich. Eigentlich müsste ich durch das Glas meiner Zimmerdecke Bäume sehen. Das Blätterdach ist da, aber kein Glas. Die wenigen Fleckchen Himmel, die ich sehe, sind blassblau.
Langsam schleicht sich die Erkenntnis in mein Gehirn. Ich liege, mit Blumengirlanden geschmückt, auf dem Rücken. Um mich herum das leise Trappeln bloßer Füße auf nackter Erde und gedämpfte Stimmen. Unter meinem Nacken spüre ich etwas Schmales, Hartes.
Ich setze mich auf und sehe, dass ich auf Eios ausgestrecktem Arm gelegen habe. Er schläft tief und fest, den anderen Arm über den Augen. Wir liegen neben der noch warmen Asche eines Feuers und um uns herum sehe ich weitere lang ausgestreckte Körper. Die meisten Ai’oaner schlafen noch, erschöpft von der langen Nacht, in der gefeiert und getanzt wurde. Nur ein paar Frauen sind bereits auf. Von Alai keine Spur. Das kleine Mädchen, das mir in der Nacht die Banane gebracht hat, sitzt nur ein paar Schritte entfernt. Sie flicht Palmwedel und beobachtet mich.
Oh nein, nein, nein… Ich rapple mich auf und reiße mir die Girlanden herunter. Das blanke Entsetzen beschert mir einen eisigen Adrenalinschub, augenblicklich ist die morgendliche Lethargie verflogen.
Es ist früher Morgen. Nein, es ist längst Tag. Das dichte Blätterdach des Regenwaldes lässt erst Licht bis zum Dschungelboden durch, wenn die Sonne bereits hoch am Himmel steht. In Little Cam werden alle gefrühstückt und sofort gemerkt haben, dass jemand fehlt.
Ich.
Eio erwacht und gähnt geräuschvoll, dann lacht er. »Pia-Vogel, in deinem Haar sitzt eine Heuschrecke.«
»Eio, weshalb hast du es zugelassen, dass ich hier einschlafe?«, rufe ich und fahre mir wütend durch das Haar. Die Heuschrecke fällt auf meine Hand und wackelt entrüstet mit den langen Fühlern. Ich schüttle sie ab. Ich zittere vor Wut und Angst.
Eio runzelt die Stirn. »Es zugelassen? Ich habe dich gefragt, ob du wirklich hier in Ai’oa übernachten möchtest, und du hast gesagt, ich soll dich in Ruhe lassen. Dann bist du wieder eingeschlafen. ›Weshalb hast du es zugelassen.‹« Er blickt so entrüstet wie eben die Heuschrecke.
»Ich muss los. Sofort!« Ich werfe die Orchideen auf den Boden und marschiere los. Mehrere Ai’oaner schauen auf, als ich vorbeigehe. »Alai!«, rufe ich, doch der Jaguar lässt sich nicht blicken.
Eio trottet hinter mir her. Er hängt sich seinen Bogen über die Schulter und bittet einen Jungen, ihm seine Pfeile zu bringen. »Ich komme mit.«
»Ich brauche dich nicht.« Ich weiß, dass ihn keine Schuld trifft, bin aber trotzdem wütend auf ihn. Wäre er nicht gewesen, wäre ich vielleicht nie mehr in den Dschungel zurückgeschlichen.
Er folgt mir dennoch, und sobald wir zwischen den Bäumen sind, überholt er mich und geht voran, obwohl ich mich gut an den Weg erinnere. Ich beginne keinen Streit deshalb, tue aber so, als wäre er nicht da. So stürmen wir durch den Dschungel und machen mehr Lärm als ein Paar Brüllaffen. Ich sehe es Eio an, dass er immer noch beleidigt ist wegen meines Vorwurfs, er hätte mich einschlafen lassen. Aber ich entschuldige mich nicht. In meinem Magen sind zu viele Knoten und Dornen, als dass ich mich um das verletzte Ego eines Jungen kümmern könnte.
»Alai, komm!«, rufe ich noch einmal voller Angst. »Wo bist du? Alai!«
Ich stelle mir vor, was gerade in Little Cam los ist, und meine Fantasie produziert dazu ein Bild nach dem anderen. Sie durchsuchen mein Zimmer. Sie finden die Karte. Sie folgen ihrer Spur bis zu Dr. Tollpatsch. Sie sperren sie ein und verhören sie…
Ich wundere mich, dass ich solche Dinge überhaupt denken kann. Schließlich habe ich es noch nie erlebt, dass Onkel Paolo jemanden außer mit Verweisen oder gekürzten Gehältern bestraft hätte. Gekürzte Gehälter haben ausgesprochen grantige Arbeiter zur Folge. Niemand verzichtet gern auf die Möglichkeit, Bier oder neue Kleider zu kaufen, wenn sie Onkel Timothy auf einer Versorgungstour begleiten. Und das tut fast jeder hin und wieder. Wir sind schließlich kein Gefängnis, wo Regelverstöße auch anders bestraft werden können.
Natürlich hat noch niemand etwas Schlimmeres verbrochen als, sagen wir, Süßigkeiten aus dem Lager gestohlen oder ein Gerät im Fitnessraum kaputt gemacht und es nicht zugegeben zu haben. Der Zwischenfall war natürlich eine Ausnahme. Aber Alex und Marian wurden nie gefunden. Hätte man sie gefunden… Ich werde nicht – kann nicht – darüber nachdenken. Zum ersten Mal glaube ich, sie ein Stück weit verstehen zu können. Weshalb sie weggelaufen sind. Ich kann es noch nicht in Worte fassen, aber tief drinnen spüre ich einen Funken Mitgefühl, wo vorher nur Ablehnung und sogar Entrüstung waren.
Endlich reagiert Alai auf mein Rufen und taucht aus einem Helikoniengestrüpp auf. Im ersten Moment erkenne ich ihn kaum wieder. Sein Blick ist wild und er zeigt seine Fangzähne. Doch als er mich sieht, verändert sich sein Aussehen und er wird wieder zu meinem sanften Begleiter. Ich schlinge meine Arme um seinen Hals, so erleichtert bin ich, dass er nicht für immer weggelaufen ist und sich seinen Artgenossen angeschlossen hat.
»Ich könnte es nicht ertragen dich zu verlieren, Alai. Mach das nie wieder.«
Als wir schon ziemlich dicht bei Little Cam sind, bleibt Eio plötzlich stehen und dreht sich zu mir um.
»Kommst du wieder?«
»Ich weiß es nicht«, antworte ich ehrlich. »Es hängt davon ab, was passiert, wenn ich jetzt zurückgehe. Sie wissen, dass ich weg bin. Anders kann es gar nicht sein. Sie werden das Loch im Zaun entdecken und ihn reparieren. Dann kann ich nicht mehr unbemerkt hinaus.«
»Ich klettere über den Zaun und hole dich heraus«, erklärt er.
»Nein, Eio! Es ist ein Elektrozaun. Das heißt, wenn du ihn berührst –«
»Ich weiß, was ein Elektrozaun ist. Mein Vater ist Wissenschaftler, vergiss das nicht. Aber es ist mir egal.« Er nimmt meine Hand. »Wenn du mich darum bittest, klettere ich über den Zaun und hole dich raus.«
Mit einem leisen Schaudern begreife ich, dass mir noch nie jemand so etwas gesagt hat. Mein ganzes Leben lang hat man mich perfekt genannt, doch dies hier bedeutet viel mehr. »Eio, ich… danke dir. Aber ich werde dich nicht darum bitten. Mir gefallen mein Zuhause und die Leute dort. Little Cam ist kein böser Ort, egal was Kapukiri sagt. Eines Tages lade ich dich zu uns ein, dann kannst du es mit eigenen Augen sehen. Vielleicht hilft mir dein Vater dabei. Ich wünschte, du würdest mir mehr über ihn erzählen. Wenn du ihn mir beschreibst, wüsste ich sicher sofort, wer es ist.«
Eio senkt den Blick. Seine langen dunklen Wimpern sind wie ein Vorhang, hinter den ich nicht schauen kann. »Ich hab’s dir doch schon gesagt. Er ist hässlich wie alle Fremden.«
»Mit Ausnahme von mir?«
Er zuckt mit den Schultern. »Geh, Pia-Vogel, bevor dich ein Pfeil trifft.«
»Du bist so was von dramatisch!« Doch seine Worte haben mich mitten ins Herz getroffen. »Leb wohl, Eio.«
»Leb wohl für immer?«
Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. »Du solltest besser gehen. Ich will nicht, dass sie dich sehen, wenn sie nach mir suchen.«
»Warum? Ich dachte, in Little Cam gäbe es nichts Böses«, meint er herausfordernd.
»Gibt es auch nicht! Trotzdem solltest du dich hier nicht blicken lassen! Little Cam ist geheim und ich bin Little Cams allergeheimstes Geheimnis. Wenn sie herausfinden würden, dass du so viel über mich weißt, könnten sie…«
»Ja?«
»Ich weiß nicht, Eio, und ich will es auch gar nicht wissen.« Langsam macht er mich wütend. Warum geht er nicht endlich? Warum versucht er so hartnäckig, Zweifel in mir zu wecken an den Menschen, die mich erzogen – und erschaffen – haben? Und warum gelingt es ihm? »Geh, Eio. Geh jetzt.«
Ohne ein weiteres Wort dreht er sich um und verschwindet im Dschungel. Als ich ihn nicht mehr sehe, spüre ich einen Stich in meinem Herzen, als wollte es, dass ich ihm folge.
Ich bahne mir meinen Weg durch das dichte Gebüsch, bis ich den metallenen Zaun und die Gebäude dahinter sehe. Ich bin nicht weit vom Loch entfernt, und da ich keine Schreie höre und auch niemanden auf- und abpatrouillieren sehe, keimt Hoffnung auf, dass ich mich vielleicht doch ungesehen zurückschleichen kann.
Doch als ich auf der Höhe des Loches bin, bleibe ich wie angewurzelt stehen. Ich packe Alai, bevor er weiterlaufen kann.
Es wimmelt von Männern und Frauen, Wissenschaftlern und Arbeitern und uniformierten Wachen. Sie haben das Loch entdeckt, so viel steht fest. Glauben sie, dass ich es vor ihnen entdeckt habe?
Ich schlüpfe zwischen die Bäume und hoffe, dass etwas von Eios Fähigkeit, sich unsichtbar zu machen, auf mich abgefärbt hat. Ich wage kaum zu atmen, als ich mich näher heranschleiche, das Halsband des Jaguars fest im Griff.
Onkel Paolo und Onkel Antonio sind beide da. Sie sehen nicht gerade glücklich aus. Sie sind ganz rot im Gesicht und gereizt wie der Griesgram und Alai, wenn sie sich im Tierhaus begegnen. Sind sie auf den jeweils anderen sauer oder auf mich? Ich vermute Letzteres.
Der umgestürzte Kapokbaum wurde zersägt und weggeschafft und mehrere Männer sind dabei, von außerhalb des Geländes den Zaun aufzurichten. Sie müssen den Strom in diesem Bereich abgeschaltet haben, denn sie arbeiten mit bloßen Händen.
Als ich meine Position ein wenig verändere, kann ich mehr von dem Geschehen erkennen. Meine Eltern stehen blass und still auf der anderen Seite des Zauns. Hinter ihnen sehe ich mein gläsernes Zimmer, leer und vollkommen offen und von allen Seiten einsehbar. Ich kann jede Einzelheit darin erkennen. Die Ecke mit dem Sessel und der Karte unter dem Teppich scheint unberührt. Ich bin erleichtert. Der Schlamassel ist schon groß genug, auch ohne dass ich das erklären muss.
Ich muss näher ran, damit ich hören kann, was sie über mich reden. Wahrscheinlich denken alle an den Zwischenfall und fragen sich, ob dasselbe wieder passiert ist. Ich fange an, mir zu wünschen, ich hätte das Gelände gestern Abend nie verlassen, hätte meiner Vernunft gehorcht und wäre schön brav in Little Cam geblieben. Doch dann denke ich an Eio und die Kinder von Ai’oa, straffe innerlich trotzig die Schultern und verschränke die Arme vor der Brust. Ich würde es wieder tun.
Wie es aussieht, werde ich wohl nie mehr die Chance dazu bekommen. Ich gehe die kurze Liste meiner möglichen nächsten Schritte durch.
Mich jetzt aus meinem Versteck wagen und ihnen gegenübertreten. Alles beichten, auch das mit der Karte, und schwören, es nie, nie mehr wieder zu tun.
Mich jetzt aus meinem Versteck wagen und ihnen gegenübertreten. Alles beichten und schwören, dass ich es wieder tue, ob es ihnen gefällt oder nicht.
Weglaufen. Leben unter den Eingeborenen vielleicht, und das für immer.
Keine der Möglichkeiten sagt mir wirklich zu. Doch Alternativen scheint es nicht zu geben. Also entscheide ich mich fürs Abwarten. Warten und Beobachten. Irgendetwas wird sich ergeben.
Ich halte mich dicht am Boden und bewege mich wie ein besonders langsames Dreizehenfaultier vorwärts. So gelingt es mir, in Hörweite der Gruppe zu kommen, ohne dass die Männer etwas merken.
»Wir können nicht mit Sicherheit sagen, ob sie durchgekrochen ist«, gibt Onkel Antonio zu bedenken.
»Wir müssen auf jede Möglichkeit vorbereitet sein. Sie könnte inzwischen schon meilenweit weg sein, Antonio. Meilenweit!« Onkel Paolo fährt sich mit den Fingern durchs Haar. So erregt habe ich ihn noch nie gesehen. »Ich muss sie wiederfinden. Sie bedeutet alles für diesen Ort hier! Ohne sie ist Little Cam, die Forschung und alles, was damit zusammenhängt, wertlos. Überleg doch mal, was Strauss sagen wird! Mein Gott, was wird Strauss sagen?«
Strauss? Von einem Strauss habe ich noch nie gehört, zumindest nicht in Little Cam.
»Beruhige dich, Paolo«, beschwichtigt ihn Onkel Antonio. »Wahrscheinlich ist sie irgendwo auf dem Gelände. Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.«
»Voreilige Schlüsse! Stundenlang haben wir das Gelände abgesucht! Sie ist abgehauen. Eine andere Erklärung gibt es nicht, Antonio. Ich hab’s immer gewusst: Wir hätten uns nie darauf einlassen dürfen, die Kameras in ihrem Zimmer zu entfernen. Clarence! Warum dauert das so lang? Hol dir einen verdammten Bulldozer, wenn es sein muss, aber füll endlich das Loch auf!« Onkel Paolo tigert ruhelos auf und ab, nicht eine Sekunde bleibt er stehen. »Ich hätte wissen müssen, dass das passiert. Ich habe zu viele Zugeständnisse gemacht. Diese Party war die idiotischste Idee überhaupt! Sie braucht einen strafferen Tagesablauf, mehr Überwachung… Vielleicht sollten wir die Kameras wieder installieren. Sie wird einen Aufstand machen, aber was soll’s. Sie ist verwöhnt genug…«
Onkel Antonio antwortet mit versteinerter Miene: »Sie ist keine Ratte, Paolo.«
Jetzt endlich bleibt Onkel Paolo stehen. Er und Onkel Antonio schauen sich an und in ihrem Blick liegt so viel Hass, wie ich es nie für möglich gehalten hätte. Die beiden waren zwar nie dicke Freunde, doch jetzt sehe ich, dass mehr Feindschaft zwischen ihnen ist, als sie normalerweise zeigen. Es muss so sein. Ihre hasserfüllten Blicke können nicht nur eine Folge meines Verschwindens sein.
Plötzlich kommt mir eine Idee. Diese ganzen Wissenschaftler und Monteure außerhalb des Zauns… sie sind sicherlich nicht durch das Loch gekrabbelt. Also müssen sie das Tor geöffnet haben. Also ist es möglicherweise noch offen.
Ich wage kaum zu atmen, als ich leise am Waldsaum entlanggehe. Falls ich ungesehen zum Tor komme und es noch offen ist, kann ich mich hineinschleichen und ihnen irgendeine Geschichte auftischen… Vielleicht dass ich neben dem Pool eingeschlafen bin oder in einer dunklen Ecke in ein Biologiebuch vertieft war. Meine Gedanken laufen in drei verschiedene Richtungen gleichzeitig und mein Gehirn überschlägt sich fast.
Vielleicht bemerke ich deshalb Harriet Fields erst, als ich direkt in sie hineinlaufe.