10
Ich lasse Alai schlafen, nehme die Schale mit der Passionsblume und gehe nach draußen, ohne auch nur einen Blick auf das Loch im Zaun zu werfen. Vor der Küche wachsen Helikonien und ich werfe die Blüte dahinter. Dort wird sie verrotten und zu Erde werden.
Dann mache ich mich auf die Suche nach Onkel Paolo. Er ist immer sehr beschäftigt und keiner weiß, wo er zu einer bestimmten Zeit ist, deshalb muss ich eine ganze Weile suchen. Schließlich finde ich ihn in meinem Labor. Er trägt einen langen weißen Kittel und Latexhandschuhe. Mutter ist bei ihm. In ihren Händen hält sie Roosevelt, die unsterbliche Ratte.
»Pia!« Onkel Paolo scheint überrascht – und nicht gerade froh, mich zu sehen. »Was willst du? Warum bist du hergekommen?«
Nach dieser Begrüßung zögere ich einen Augenblick und blicke verunsichert von ihm zu Mutter und dann zu Roosevelt.
»Kann es warten? Wir sind mitten in einem Experiment.«
»Mit Roosevelt?«
Seine linke Augenbraue zuckt nach oben. »Sieht so aus.«
»Kann ich helfen?« Schließlich wird so ziemlich jedes Experiment, das an Roosevelt durchgeführt wird, irgendwann auch an mir durchgeführt werden. Wir teilen ein Schicksal, Roosevelt die Ratte und ich.
»Ich halte das für keine gute…« Doch er hält inne und scheint es sich noch einmal zu überlegen. Dann meint er gedehnt: »Andererseits, vielleicht solltest du sogar. Schließlich wirst eines Tages du diese Tests durchführen. Es wird Zeit, dass du enger in den eigentlichen Prozess eingebunden wirst. Bücher und die Theorie bringen dich nur bis zu einem gewissen Punkt. Hol dir einen Laborkittel und Handschuhe.«
Mein Geständnis ist für den Augenblick vergessen. Ich stelle die Schale hin und laufe zu dem kleinen Metallschrank, in dem immer ein paar frisch gestärkte weiße Laborkittel liegen. Ich ziehe einen an, freue mich, dass die Ärmel nicht zu lang sind, und streife ein Paar quietschende Latexhandschuhe über.
»Wie verläuft das Experiment?«, erkundige ich mich, als ich zu Onkel Paolo und Mutter hinübergehe. Mutter hat mich, seit ich den Raum betreten habe, die ganze Zeit nur stirnrunzelnd angeschaut. Ich ignoriere ihre Miene.
»Möchtest du es erklären, Sylvia?« Er streckt eine Hand aus.
»Wir geben Roosevelt eine kleine Dosis Elysia.«
Mir läuft es eiskalt über den Rücken, obwohl in dem Raum mindestens 77° Fahrenheit sein müssen. Wie gewöhnlich rechnet mein Gehirn automatisch um: 77° Fahrenheit minus 32 mal 5/9 ergibt 25° Celsius. Ich schüttle den Kopf und schiebe die Zahlen beiseite. Ich will jetzt ganz bei der Sache sein.
»Wurde das… wurde das nicht schon einmal gemacht?« Bestimmt wurde dieses Experiment bereits durchgeführt. Doch als ich kurz nachdenke, kann ich mich nicht erinnern, in den Aufzeichnungen zu Roosevelt je davon gelesen zu haben. In meiner Akte übrigens auch nicht.
»Nein«, bestätigt Onkel Paolo. »Und der Test ist längst überfällig. Wir haben jede Art von Krankheitserreger an ihm getestet, Dutzende von Giften, einschließlich Curare und das Sekret des giftigen Pfeilfrosches, aber noch nie Elysia.«
Ich fühle mich seltsam benommen, als Onkel Paolo nach einer Spritze mit einer klaren Flüssigkeit greift. Das muss Elysia-Extrakt sein. Ich frage nicht, ob der Extrakt rein oder verdünnt ist. Ich will es gar nicht wissen. Ich wünsche, ich hätte nie gefragt, ob ich helfen kann. Ich wünsche, ich wäre in Onkel Wills Labor und könnte Babó mit Bleistiften füttern.
Onkel Paolo nickt Mutter zu und sie hält Roosevelt hoch. Der dicke Nager ist inzwischen so an die Berührung durch Menschen gewöhnt, dass er sich nicht einmal wehrt. Er sieht so glücklich aus, wie eine Ratte nur sein kann. Seine Augen glänzen aufmerksam und das Näschen zittert, mit der er die Gerüche im Raum aufnimmt.
Onkel Paolo zögert nur einen winzigen Moment, bevor er einen Tropfen in Roosevelts Schnauze drückt. Die Kiefer der Ratte mahlen schnell, als sie Elysia schmeckt. Ich beobachte sie fasziniert. Wie es wohl schmeckt? Falls Roosevelt etwas dazu zu sagen hat, lässt er es uns nicht wissen.
Mutter setzt die Ratte auf denselben Untersuchungstisch, auf dem ich normalerweise sitze. Roosevelt schnuppert an ihren Fingern, dann am Tisch. Danach tappt er herum, wie er das normalerweise in seinem Käfig tut. Das Elysia scheint keinerlei Wirkung zu zeigen.
Meine Anspannung beginnt sich zu lösen. Fast spüre ich, wie jeder einzelne Muskel erleichtert aufatmet. Wahrhaft unsterblich.
Auf Onkel Paolos Gesicht breitet sich ein ganz untypisches Grinsen aus. »Schaut euch das an! Dutzende sterblicher Ratten sind alle sofort eingegangen. Ohne einen Quieker! Sie fielen einfach um wie ein Kartenhaus. Aber schaut euch unseren Roosevelt an! Das pralle Leben! Wir haben es geschafft, Pia, mein Engel, mein Schatz, mein durch und durch perfektes Mädchen!« Er ergreift meine Hände und wir hüpfen im Kreis herum.
Ich kann nicht anders, ich muss mit ihm lachen. Noch nie habe ich ihn – oder sonst jemanden – so aufgeregt gesehen. Ich wusste nicht einmal, dass Onkel Paolo in der Lage ist zu hüpfen. Seine Freude steckt an. Wie im Rausch drehe ich mich immer schneller.
»Wir haben’s geschafft! Wir haben’s geschafft! Wir haben’s geschafft!«, singen wir im Chor, obwohl es natürlich Dr. Heinrich Falk war, der es geschafft hat, und nicht wir. Aber das kümmert uns jetzt nicht. »Wir haben’s geschafft!«
Irgendwann lässt Onkel Paolo meine Hände los und bleibt stehen, um Luft zu schnappen. Er hat immer noch ein Grinsen im Gesicht, so groß wie einer der Wassermelonenschnitze, die es auf meiner Party gab. »Wir haben’s geschafft«, wiederholt er leise. »Leben, Pia. Ein Leben ohne Tod. Unsterblichkeit. Abertausend Jahre menschlicher Entwicklung, Tausende Theorien, Versuche, Mythen, Träume… Aber wir, wir haben es geschafft. Wir haben dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Ich habe dich angelogen, Pia. Ich habe dir einmal gesagt, es gäbe keine Götter. Aber es gibt sie, oh ja, es gibt sie. Wir sind Götter, Pia, du und ich und Roosevelt. Jawohl! Roosevelt der Rattengott! Wir haben das Leben neu erschaffen! Das macht uns mit Fug und Recht zu Göttern.« Er schließt die Augen und atmet langsam ein und aus. Dann öffnet er sie und schaut mich lächelnd an. »Was wolltest du mich vorhin fragen?«
Ich hole tief Luft und denke: Du darfst dich nicht ablenken lassen. Der Erfolg dieses Experiments ist ein weiterer Beweis dafür, dass ich nach Little Cam gehöre und mich ganz auf das Immortis-Projekt konzentrieren muss. »Gestern Abend nach der Party bin ich in mein Zimmer gegangen… einfach nur, um eine Weile allein zu sein.« Kein Grund, Dr. Tollpatsch in Schwierigkeiten zu bringen. »Jedenfalls saß ich da und habe nach draußen geschaut und plötzlich sehe ich ein –«
»Paolo?« Mutters Stimme ist so leise, dass ich sie kaum höre.
»Ja, Sylvia, was gibt’s?«
»Roosevelt.«
Wir drehen uns gleichzeitig zu der Ratte um.
Roosevelt liegt auf der Seite. Sein kleiner Körper hebt und senkt sich, weil er nach Luft schnappt. Seine Zunge hängt heraus, erschreckend rosa gegen sein dunkelbraunes Fell. Seine Augen sind glasig.
Onkel Paolo wird weiß wie die Wand. Er läuft zum Untersuchungstisch und nimmt die Ratte hoch. »Nein. Nein, nein, nein, nein, nein, nein, nein… Roosevelt! Roosevelt!«
Es hat keinen Zweck. Roosevelt keucht, er atmet zu schnell, zu stoßweise. Onkel Paolo dreht ihn um, hält ihn senkrecht, legt ihn wieder hin, doch nichts hilft.
»Hör auf, Roosevelt! Hör auf damit, du blöde Ratte!«
»Onkel Paolo!« Ich laufe zu ihm und fasse ihn am Arm. »Hör auf ihn anzuschreien! Er kann nichts dafür!«
»Lass mich los, Mädchen!« Er schüttelte mich ab und wendet sich wieder Roosevelt zu. Ich schaue ihn an, schockiert und fassungslos wegen seines plötzlichen Wutausbruchs.
»Komm schon, Kumpel«, lockt Onkel Paolo, jetzt wieder leise. »Komm schon, alter Freund! Wir beide haben zu viel durchgestanden miteinander… Komm zurück, kleiner Rattengott. Komm zurück…«
Roosevelts Atmung wird wieder langsamer, pendelt sich jedoch nicht auf ihren normalen, gesunden Rhythmus ein. Sie wird noch langsamer, bis sie zu langsam ist. Bald bewegen sich seine Flanken kaum noch und die Augen werden starr.
Mit wildem Blick wendet Onkel Paolo sich an Mutter. »Tu etwas!«
Mutter starrt ihn an und weicht zurück. »Ich… ich…« Sie verstummt, die Hände hilflos ausgebreitet. Onkel Paolo haut mit der Faust auf den Tresen, dass die Spritzen und Ampullen klirren, und flucht leise vor sich hin. Unsere Blicke treffen sich, und was ich sehe, lässt mich erstarren. Noch nie habe ich ihn so wütend gesehen, so… gefährlich. Nicht einmal bei den Wickham-Tests. Ich senke den Blick und schlucke hart.
»Nun«, sagt er leise. »Jetzt wissen wir es.«
Er legt Roosevelt auf den Untersuchungstisch und wischt sich die Hände an seinem Laborkittel ab. Seine Miene ist kalt und abweisend. Meine Mutter steht hinter ihm, den besorgten Blick auf ihn gerichtet, nicht auf die Ratte. Alle drei stehen wir reglos da, während Roosevelt vor unseren Augen immer schwächer wird. Ich werfe noch einmal einen kurzen, ängstlichen Blick auf Onkel Paolo und frage mich, ob er noch einmal explodiert. Es geht schrecklich an die Nerven, ihn so aus der Fassung zu erleben. Der Paolo Alvez, den ich kenne, ist immer kühl, immer ruhig, hat sich immer unter Kontrolle.
»Genug«, bestimmt er schließlich. »Pia, putz die Schweinerei hier auf und friere den Leichnam ein. Wir untersuchen ihn später. Sylvia, ich brauche deine Hilfe bei den Schreibarbeiten.«
Vorsichtig nehme ich Roosevelt hoch. Er hat nicht einmal mehr die Kraft, mit den Schnurrhaaren zu zucken. Um seine Nase herum und auf den Pfoten sind die Haare weiß geworden. Das ist merkwürdig. Ich wusste nicht, dass Elysia dies bei den Opfern bewirkt.
Ich wickle ihn in ein kleines Handtuch, aber viel mehr kann ich nicht für ihn tun. Er zittert noch einmal in meinen Händen, dann rührt er sich nicht mehr.
Roosevelt, die unsterbliche Ratte, ist tot.
Aus irgendeinem Grund erwarte ich, dass ganz Little Cam in Aufruhr gerät. Doch nichts geschieht.
Kein Jammern und Klagen ist zu hören. Niemand reißt sich hysterisch an den Haaren oder Kleidern. Es war schließlich nur eine Ratte.
Ich sitze mit angezogenen Knien in einem der Schaukelstühle beim Goldfischteich und schwinge hin und her. Ich sitze ruhig da, aber insgeheim will ich meine Kleider zerreißen und schreiend übers Gelände rennen. Ich will, dass alle das Chaos in meinem Kopf mitbekommen.
Roosevelt ist tot. Elysia, genau die Substanz, die ihm Unsterblichkeit verlieh, hat ihn umgebracht.
Sie könnte auch mich umbringen.
Onkel Paolo hat sich in seinem Arbeitszimmer eingeschlossen. Er redet mit niemandem. Anfangs verstand keiner, was los war. Alle haben ständig gefragt, was geschehen sei, was Dr. Alvez so mitgenommen habe. Aber irgendwann muss Mutter geredet haben – ich war es jedenfalls nicht –, denn anstatt mir Fragen zu stellen, die ich nicht beantworte, gehen jetzt alle auf Zehenspitzen an mir vorbei und versuchen mich nicht zu stören. Ich kann ihnen keinen Vorwurf machen. Ob sie ahnen, was für ein Hurrikan in meinem Kopf tobt? Ist das der Grund, weshalb sie mich meiden – weil sie nicht wollen, dass er aus mir herausfährt? Sie glauben wahrscheinlich, ich hätte entsetzliche Angst, dass das, was mit Roosevelt passiert ist, auch mit mir passiert. Ich weiß ja selbst, ich müsste entsetzliche Angst haben. Schließlich bin ich mein ganzes Leben lang davon ausgegangen, dass ich unsterblich sei. Und jetzt stelle ich plötzlich fest, dass ich doch sterben kann.
Doch wenn ich meine Augen schließe, sehe ich nicht Roosevelt vor mir, der langsam auf dem Untersuchungstisch stirbt. Ich sehe nicht die Spritze mit dem tödlichen Gift, die mir mein Leben schneller nehmen könnte, als sie es mir gab. Nicht einmal mich sehe ich, wie ich mich krümme und nach Luft schnappe. Damit müsste ich wohl rechnen, nach dem, was ich bei Roosevelt erlebt habe.
Stattdessen sehe ich Onkel Paolo vor mir und seine Augen, als er begreift, dass Roosevelt sterben wird. Und ich höre seinen Triumphschrei, kurz bevor es passierte. »Wir sind Götter, Pia. Wir haben dem Tod ein Schnippchen geschlagen.«
Aber das haben wir nicht. Er hat es nicht. Ob er jetzt denkt, sein gesamtes Lebenswerk sei umsonst gewesen? Es gibt doch sicher vieles, worauf er stolz sein kann. Ich bin schließlich noch immer unsterblich. Solange ich nicht so bescheuert bin und Elysia trinke, lebe ich ewig. Ich erschaffe eine Rasse von Unsterblichen, meine eigene Art, und der Traum von Dr. Falk und Onkel Paolo und mir wird sich erfüllen. Sobald die unsterbliche Rasse sich etabliert hat, können wir sämtliche Elysia-Pflanzen ausrotten. Dann kann der Tod uns wirklich nichts mehr anhaben. Wir leben immer weiter, pflanzen uns fort und unsere Zahl wächst, bis die Welt voll ist. Dann hören wir auf. Und leben. Und leben. Und leben.
Ich versuche mich auf diesen Gedanken zu konzentrieren, auf das Bild meiner unsterblichen Rasse, an deren Spitze ich stehe. Ein unsterblicher Junge an meiner Seite. Unsterbliche Freunde in meinem Alter. Doch immer wieder kommt das Bild von Onkel Paolos Gesicht dazwischen und ich sehe die wilde Verzweiflung in seinem Blick, als er versucht, Roosevelt von der Schwelle des Todes zurückzuholen.
Eigentlich hätte Onkel Paolo Klarheit in die Sache bringen und nicht alles noch undurchsichtiger machen sollen. All meine bisherigen Gewissheiten zerbröckeln angesichts dieser neuen Angst, einer Angst, die ich nie zuvor gekannt habe. Die Angst vor dem Mann, der mich erschaffen hat, der mir meinen Namen gegeben, mich aufgezogen hat…
Ich beschließe, noch einmal in den Dschungel zu gehen.
Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal.
Ich werde so lange in den Regenwald gehen, bis die Erinnerung an Onkel Paolos Augen im Moment von Roosevelts Tod ausgelöscht ist, weggewaschen von dem reinigenden Regen des Dschungels.
Eine Stunde nach Einbruch der Nacht bin ich auf der anderen Seite des Zauns.