30

Sobald die Sonne aufgeht, mache ich mich auf die Suche nach Onkel Antonio. Jetzt bin ich bereit, mit ihm über das, was ich gehört habe, zu reden. Wir müssen alles offen ausbreiten und aus jedem möglichen Blickwinkel betrachten. Müssen die Risse und Brüche im Muster finden. Es erhitzen wie Wasser und beobachten, welche verborgenen Wahrheiten an die Oberfläche steigen.

Doch nicht Onkel Antonio sehe ich als Ersten, sondern Tante Harriet. Sie steht mit Alai an der Leine vor dem Tierhaus.

»Pia, um Himmels willen! Was ist passiert? Du siehst aus wie der Tod!«

Ihre ohne jeden Hintergedanken gewählten Worte jagen mir einen Schauer über den Rücken.

Mir fällt ein, dass Tante Harriet noch im Dunkeln tappt. Sie verdient es, die Wahrheit zu erfahren. Das bin ich ihr schuldig. Ich hole tief und zitternd Luft. »Ich… ich habe in den letzten Stunden eine Menge erfahren – Dinge, die du auch wissen solltest, Tante Harriet.« Ich blicke mich um, und obwohl wir allein sind, nehme ich sie am Ellbogen und führe sie hinter das Gebäude, damit niemand, der zufällig vorbeikommt, uns sieht. »Du weißt doch noch, dass wir über den Katalysator gesprochen haben und worum es sich dabei wohl handeln könnte«, flüstere ich.

Sie nickt und ihre Hand hält Alais Leine noch ein klein wenig fester.

»Also…« Ich schließe die Augen und zwinge mich, es auszusprechen. »Ich weiß jetzt, was es ist.« Dann sprudelt es aus mir heraus wie der Wasserfall, unter dem Eio und Ami schwimmen. Ich verschweige nichts. Ich erzähle ihr von unserem Streit im Dschungel, von Eios Gefühlen für mich, von meiner Absicht – und meinem Scheitern –, Sneeze zu töten, von dem Marsch zur Falkschlucht und der Legende von den Kaluakoa, die gar keine Legende ist. Ganz zum Schluss erzähle ich ihr noch von der Elysia-Pflanze, die aus meinen Tränen gewachsen ist.

Sie schlägt die Hand vor den Mund und blickt zu Boden. So steht sie auch zwei, drei, vier Minuten noch da, nachdem ich fertig bin. Ich zähle im Kopf die Sekunden. Endlich blickt sie wieder auf. Ihre Pupillen sind nur noch winzige Pünktchen. »Bist du… bist du sicher? Dass sie Menschen umbringen, Pia?«

»Ich weiß es nicht!« Ich fahre mir mit der Hand durchs Haar und gehe vor ihr auf und ab. »Alles, was ich über Elysia weiß – außer der Tatsache, dass ich sie mit meinen Tränen wachsen lassen kann –, stammt von der Erfahrung, die die Kaluakoa damit gemacht haben. Vielleicht ist es ja nicht nötig, Menschen umzubringen, um Immortis herzustellen. Vielleicht kann man ihnen nur ein wenig Blut abnehmen, es mit Elysia mischen… Wir sind Wissenschaftler. Wir haben Technologie und Arzneimittel und Ratten als Versuchstiere. Falk hat bestimmt einen Weg gefunden, wie es auch ohne zu töten geht.« Nur nicht für meine Großeltern. Ich bleibe stehen und schaue sie verzweifelt an. »Oder?«

Sie beißt sich auf die Lippen und blickt einen Moment lang mit zusammengekniffenen Augen auf den Boden, bevor sie antwortet. »Wo hätten die Wissenschaftler denn überhaupt Leute herkriegen sollen, denen sie Elysia injizieren konnten? Sie konnten ja nicht ständig Testpersonen von außerhalb holen. Das wäre doch irgendwann aufgefallen. So etwas ist nicht durchführbar. Du hast recht. Es muss einen anderen Weg geben.« Sie senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Ganz sicher muss es einen geben. Falls es stimmt… ist es schlimmer, als ich dachte. Ich wusste, dass sie Geheimnisse hüten, aber auf so etwas wäre ich nie gekommen.«

»Onkel Antonio hat mich gewarnt. Er wollte, dass ich abhaue, aber ich habe ihm nicht geglaubt. Das heißt, eigentlich schon, ich wollte es nur nicht glauben.«

»Ganz ruhig, Pia. Wie du gesagt hast: Noch wissen wir nichts Konkretes.« Sie hält mich auf Armeslänge von sich und schaut mich streng an. »Du siehst jetzt zu, dass du Antonio findest und den Rest der Geschichte erfährst. Keine voreiligen Schlüsse.«

»Glaubst du, es stimmt?«, frage ich. »Glaubst du, sie haben mit Elysia Menschen getötet?«

Sie zuckt zögernd mit den Schultern, aber ich sehe die Angst in ihren Augen und weiß, dass ihre Antwort Ja ist. »Such Antonio«, sagt sie nur.

Ich nicke und knie mich neben Alai, um ihn hinter den Ohren zu kraulen. Doch er faucht und stellt die Nackenhaare auf. Sein Blick ist wild. Fassungslos ziehe ich meine Hand zurück und starre ihn an. »Alai?«

Er schüttelt den Kopf und dreht mir mit hoch erhobenem Schwanz den Rücken zu.

»Er ist nur launisch«, tröstet mich Tante Harriet rasch. Sie blickt zum Himmel. »Es ist das Wetter. Ein Unwetter zieht auf, da braut sich ganz schön was zusammen. Ich kümmere mich um ihn. Komm später zu mir und erzähl mir, was Antonio gesagt hat. Sollten unsere schlimmsten Befürchtungen sich bewahrheiten« – sie holt tief Luft – »bist du nicht die Einzige, die abhaut.«

»Okay.« Traurig blicke ich zu Alai, doch weil Tante Harriet darauf besteht, mache ich mich auf die Suche. Trotz aller Bemühungen, den Anblick loszuwerden, sehe ich ständig Alais Augen vor mir, die mich feindselig anschauen.

Ich durchkämme gerade den Garten, als Onkel Jakob mich anhält. Bei seinem Anblick setzt mein Verstand aus. Ich zwinge mich zu atmen und sage mir, dass alles nicht so sein kann, wie es scheint. Ich habe keine Beweise, dass Onkel Jakob ein Mörder ist. Noch nicht. Noch gibt es Hoffnung.

»Pia! Da bist du ja!« Er lächelt und steckt sich den Stift, den er in der Hand hält, hinters Ohr. »Wir haben beschlossen, die Sache einen Tag vorzuziehen. Die anderen warten im Labor. Es wird Zeit, dass du alles über Immortis erfährst.« Sein Lächeln entgleitet ihm etwas und sein Blick wird düster. »Komm mit.«

Panik erfasst mich und fast hätte ich auf der Stelle die Flucht ergriffen – ich bin noch nicht bereit. Noch nicht! –, doch dann bringe ich meine Gefühle notdürftig wieder unter Kontrolle. Ich muss mit Onkel Antonio reden, muss die Wahrheit herausfinden. Es darf keine Geheimnisse mehr geben.

Aber mir fehlt die Zeit. Sie warten auf mich.

Überrumpelt und planlos folge ich Onkel Jakob über den Hof und die Veranda zum Laborblock A. Aus heiterem Himmel beginnt es heftig zu regnen, und kaum hat sich die Tür hinter uns geschlossen, erschüttert ein Donner das Gelände.

Onkel Jakob schüttelt Regenwasser von seinem Laborkittel. »So, wie sich das anhört, steht uns ganz schön was bevor.« Er schaut mich fragend an. »Ist alles in Ordnung?«

»Mit mir?«, erwidere ich ein wenig zu schrill.

»Ich dachte, du würdest dich mehr freuen.«

Freuen. Klar, noch vor einer Woche hätte ich mich gefreut, und wie! »Ich bin nur…« Meine Stimme lässt mich im Stich.

»Ich weiß.« Er nickt. »Man findet keine Worte dafür.«

»Ja, genau.« Ich bin erleichtert, als er den Flur hinuntergeht. Offenbar gibt er sich damit, dass ich fast platze vor Aufregung, zufrieden. Dabei bin ich voller Angst. Sie wächst in meinem Bauch wie Bakterien in einer Petrischale.

Ich halte den Atem an, als Onkel Jakob die Tür zu meinem Labor öffnet.

Drinnen warten die übrigen Mitglieder des Immortis-Teams. Sie sind ernst und angespannt und mir rutscht das Herz in die Magengegend. Sie sehen nicht aus wie Menschen, die sich auf die bevorstehende Aufgabe freuen. Sie wirken kalt und gefühllos wie Stein.

Die glänzende Spritze auf dem Tisch neben Onkel Paolo ist nicht zu übersehen. Er dreht sich um und begrüßt mich mit einem verhaltenen Nicken. Mutter hilft mir in meinen Laborkittel. Auf der Brusttasche steht mein Name, frisch aufgestickt. Sie drückt meinen Arm und klopft mir dann aufmunternd auf die Schulter.

Onkel Paolo ist etwas weniger in Aufwallung als am Tag, an dem wir zur Schlucht aufgebrochen sind, doch ein Gesichtsmuskel zuckt immer noch. »Pia, bald ist es so weit.«

Ich nicke langsam. Dann fällt mir auf, dass der hintere Teil des Raums durch einen Vorhang abgetrennt ist.

»Ich werde dich jetzt Immortis zubereiten lassen«, verkündet Onkel Paolo.

Mein Herz, das seit Betreten des Raums immer weiter nach unten gerutscht ist, klettert plötzlich in meinen Hals wie ein verschreckter Affe, der nach einem Fluchtweg sucht. »Was soll ich tun?«, flüstere ich.

Er reicht mir die Spritze. »Setz dich.«

Benommen setze ich mich auf den nächsten Hocker. Im Kreis um mich herum stehen die besten Wissenschaftler der Welt – mit versteinerten Mienen. Draußen zucken Blitze über den Himmel und erleuchten kurzfristig ihre Gesichter.

»Pia«, beginnt Onkel Paolo geschäftsmäßig, »du wurdest in den vergangenen Jahren mehrfach getestet, und das auf eine Art und Weise, die dich vielleicht irritiert und manchmal sogar wütend gemacht hat. Diese Tests waren nicht willkürlich. Sie verfolgten ein bestimmtes Ziel: festzustellen, ob du überhaupt in der Lage bist, diese Art der Forschung durchzuführen, die zur Erreichung unseres Zieles und der Erfüllung der ursprünglichen Mission der Forschungseinrichtung von Little Cambridge notwendig ist.«

Die Worte kommen mir automatisch von den Lippen: »Um die menschliche Rasse durch positive Eugenik sowie den Einsatz biomedizinischer Technik so weit voranzubringen, dass die Erschaffung eines unsterblichen Homo sapiens möglich wird.«

»Ganz genau. All das, die ganzen Tests erreichen heute ihren Höhepunkt. Aufgrund deiner ausgezeichneten Leistungen und deines tadellosen Verhaltens wissen wir, dass du ohne Einschränkung in der Lage und geeignet bist, die anstehende Aufgabe zu bewältigen.«

Nein. Bitte nicht… es gibt doch sicher einen anderen Weg…

Onkel Paolo holt tief Luft. »Das heißt, das Zusammenführen von Katalysator und Elysia. Eine Aufgabe, die dir als unserer größten Hoffnung und krönender Errungenschaft zufällt.«

Die Art, wie er Katalysator sagt, jagt mir einen Schauer über den Rücken.

»Komm, Pia.«

Ich folge ihm zu dem Vorhang in der Ecke. Die anderen Wissenschaftler halten sich dicht hinter uns. Onkel Paolo greift nach dem Vorhangsaum. Der blau-weiß karierte Stoff ist derselbe wie von den Decken, die wir benutzen, wenn wir bei besonderen Gelegenheiten im Hof picknicken.

»Der Katalysator«, verkündet er und zieht den Vorhang beiseite.

Festgeschnallt auf dem metallenen Untersuchungstisch liegt bewusstlos und mit einem weißen Hemdchen bekleidet - Ami.