26
Ich weiß nicht, ob ich lachen oder wegrennen soll. Ich schaue Eio an und sehe, dass er mich genauso eindringlich anblickt wie Onkel Antonio. Es besteht kein Zweifel, was er von der Idee hält. So ziemlich dasselbe hat er ja am Morgen schon zu mir gesagt.
»Ist das – ist das dein Ernst?«, frage ich.
»Mein voller Ernst«, erwidert Onkel Antonio.
»Ich soll Little Cam verlassen? Einfach so?« Ich schnippe mit den Fingern. »Es ist dein Ernst. Was um alles in der Welt –«
»Pia, du musst etwas verstehen«, unterbricht mich Onkel Antonio. »Das ist keine Laune von mir. Ich… ich wollte es schon eine ganze Zeit lang sagen.«
»Dass ich gehen soll?«, flüstere ich. Mir wird übel vor lauter Nervosität oder Angst oder Zorn, vielleicht auch vor allen dreien.
Er nickt. »Ich dachte nicht, dass es schon so bald sein muss. Ich hätte gern gewartet, bis du etwas älter bist, erfahrener. Aber jetzt stehen wir nun mal hier: du, ich, Eio – hier im Dschungel. Die Zeit ist gekommen. Eio, erinnerst du dich noch an die Reise, auf die ich dich geschickt habe? Die du für völlig unnütz gehalten hast?«
»Die Stadt.« Eio bekommt große Augen. »Du meinst –«
»Ja, das meine ich.« Onkel Antonio wendet sich wieder mir zu. »Eio bringt dich hin, Pia. Er kennt den Weg. Das hat er bereits bewiesen. Er wird dich nach Manaus bringen und danach…« Er schließt die Augen und reibt sich die Stirn. »Es gibt so vieles, das ich noch nicht richtig geplant habe. Aber du bist clever –«
»Onkel Antonio«, beginne ich, doch er lässt mich nicht ausreden.
»Und dir wird schon was einfallen. Geh jetzt erst einmal nach Manaus. Lange bleiben kannst du dort allerdings nicht. Irgendwann werden sie auch dort nach dir suchen. Du musst laufen, Pia, ganz weit weg. Einen sicheren Ort finden –«
»Onkel Antonio –«
»Ich frage mich, ob ich Harriet hätte informieren sollen. Vielleicht hätte sie dir helfen können… Ich muss zugeben, ich dachte, ich sei derjenige, der dich nach draußen schmuggelt und dir Eio vorstellt. Und dabei habt ihr beide die ganze Zeit –«
»Onkel Antonio, ich werde Little Cam nicht verlassen.« Ich habe die Schultern gestrafft und die Fäuste geballt. Endlich hört er auf zu reden und starrt mich an, während ich fortfahre. »Warum willst du das? Erwartest du im Ernst, dass ich alles hinter mir lasse? Mein Zuhause? Meine Familie?«
»Pia.« Meine Antwort scheint ihn total zu überraschen. »Ich dachte, du verstehst. Du hast die Zellen im Laborblock B gesehen. Du weißt von den schrecklichen Tests, die jeder mitmachen muss. Und die Geheimnisse, die Lügen – was dachtest du denn –«
»Ja, ich weiß über all das Bescheid. Und, okay, ich geb’s zu: Sie haben mich nachdenklich gemacht. Aber willst du mir damit sagen, sie waren der Grund, weshalb Alex und Marian sich umgebracht haben? Sie wollten lieber tot sein als… was? Als dass man sie anlügt?«
»Nein.« Er steht jetzt kerzengerade vor mir. Eio beobachtet uns stumm, seine Augen wandern zwischen Antonio und mir hin und her, die Arme über der nackten Brust gekreuzt. Onkel Antonio drückt die Faust in die Handfläche der anderen Hand und dreht sie hin und her, als wollte er jemanden schlagen und wisse nur nicht, wen. »Das hat mit den Ausschlag gegeben, ja, war aber nicht der eigentliche Grund.«
»Was war dann der Grund? Du willst, dass ich alles, was mir vertraut ist, hinter mir lasse, willst mir aber nicht sagen, warum?« Ich nehme den Shakespeare-Band in eine Hand und schlage mit der anderen darauf. »›Unwissenheit ist der Fluch Gottes und Wissenschaft der Fittich, womit wir in den Himmel uns erheben.‹ Heißt es nicht so? Ich kann nicht fliegen, solange ich unwissend bin, Onkel Antonio!«
Seine Augen treten ein wenig aus den Höhlen. »Ich – ich kann nicht – du verstehst das nicht, Pia. Wenn du es wüsstest, du… ich kann dir das nicht antun… Du musst wissen, dass nichts Gutes aus Little Cam kommen kann. Spürst du das nicht?«
Meine eigene Stimme macht mir eine Gänsehaut, als ich antworte: »Ich komme aus Little Cam. Was bedeutet das dann für mich?«
Er seufzt tief. »Das meine ich nicht. Natürlich bist du das einzig Gute, das dieser Ort hervorgebracht hat. Aber, Pia…« Er stöhnt auf. »Vielleicht sollte ich es dir doch sagen. Vielleicht verstehst du dann.«
»Dann sag es doch! Warum kannst du es mir nicht sagen?«, flehe ich. In meinen Augen brennen Tränen. »Weshalb sind sie weggelaufen, Onkel Antonio? Was verheimlicht Onkel Paolo? Was ist so schrecklich an Little Cam, dass du es mir nicht sagen kannst?«
»Pia –«, beginnt Eio, doch Onkel Antonio schneidet ihm das Wort ab.
»Jedes Mal, wenn du hierherkommst, spielst du mit dem Gedanken, für immer zu bleiben. Habe ich recht? Mir jedenfalls ging es so.«
»Und warum bist du dann nicht geblieben?«, frage ich herausfordernd.
»Deshalb.« Er schiebt den Ärmel seines Hemdes nach oben und dreht den Arm um. Am Unterarm ist eine kleine Narbe, die mir bisher nicht aufgefallen ist. »Sie haben mich nicht nur eingesperrt, nachdem ich versucht habe wegzulaufen, Pia. Sie haben mir einen Peilsender unter die Haut gesetzt, und zwar so tief, unter Arterien und Venen, dass ich bei dem Versuch, ihn zu entfernen, sterben würde. Falls ich je wieder verschwinde, aktivieren sie ihn und haben mich innerhalb von Stunden gefunden. Deshalb kann ich Eio nur nachts besuchen, wenn sie glauben, ich schlafe. Deshalb kann ich nicht fliehen. Deshalb muss ich dir meinen einzigen Sohn als Führer mitgeben und das einzig Gute – außer dir –, das ich in meinem Leben geschafft habe, für immer aufgeben. Pia, es gibt viel Böses in Little Cam. Die Wahrheit würde dich zugrunde richten. Ich kann sie dir nicht zumuten und werde es auch nicht tun. Du musst mir vertrauen. Würde ich das alles tun – dir Eio an deine Seite geben –, wenn ich mir das alles nur einbilden würde? Ich weiß, was sich wirklich hinter den Labortüren abspielt. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen. Nachdem du geboren warst, hat es für eine Weile aufgehört. Doch jetzt beginnen sie wieder, holen neue Testpersonen her und fangen wieder von vorne an. Du kannst nicht hierbleiben für so etwas, Pia. Du bist nicht der Mensch, für den sie dich halten. Du bist nicht wie sie. Du kannst das nicht tun, was sie von dir verlangen.«
Ich zittere und muss die Tränen wegblinzeln, bevor ich ihn anschauen kann. Es ist, als hätte er meine Gedanken der letzten Tage gelesen und brächte jetzt jede Unsicherheit ans Tageslicht.
»Papi, hör auf! Siehst du nicht, wie fertig sie ist?« Eio kommt herüber und will meine Hand nehmen, doch ich schüttle den Kopf.
»Was willst du damit sagen, Onkel Antonio?«
»Du bist nicht ihre perfekte kleine Wissenschaftlerin, Pia. Sie haben alles getan, um dich nach ihren Vorstellungen zu formen, aber du bist dabei, dich zu befreien. Weshalb kommst du denn nach Ai’oa? Weshalb hast du das Ozelotjunge noch nicht getötet? Du kannst nicht beides haben, Ai’oa und Little Cam. Du spürst es selbst, nicht wahr? Ich weiß es, denn mir ging es fast mein ganzes Leben lang so. Du versuchst zwischen den beiden Welten zu balancieren, aber früher oder später stürzt du unweigerlich ab. Oder du endest wie ich und gehörst nirgendwo dazu.«
Ich lache. Ich kann nichts dafür. Es ist, als hätten er und Eio alles geplant – den Nachmittag unter dem Kapokbaum, Onkel Paolos wütende Rede und jetzt das.
»Was ist so lustig, Pia?«, fragte Eio.
»Nichts. Rein gar nichts.« Merkt er nicht,
dass Onkel Antonio fast wortwörtlich dasselbe sagt wie er am
Morgen? »Aber wenn sie dir einen Peilsender eingesetzt haben, muss
ich doch auch einen haben, Onkel Antonio. Ich kann
nirgendwohin.«
»Nein, Pia, du hast keinen. Sie wollten dir direkt nach der Geburt
einen einsetzen, aber… bei deiner unverletzbaren Haut war nichts zu
machen. Sie wollten dir einen an den Knöchel binden, aber ich
konnte sie davon überzeugen, dass es nicht nötig ist. Solange du
nichts von der Außenwelt erfährst, habe ich ihnen gesagt, hättest
du auch kein Verlangen, sie zu sehen, und würdest sicher und
behütet in deinem Glashaus bleiben. Weil ich wusste, der Tag würde
kommen, an dem du fliehen musst. Ich weiß es seit vielen Jahren.
Aber wenn sie dich erwischen, werden sie keine Skrupel mehr haben,
dir eine elektronische Fußfessel zu verpassen, und dann sitzt du
hier für alle Ewigkeiten fest.«
Nein! Das kann nicht sein! Ich kenne diese Menschen. Sie sind meine Familie. Sie haben mich erschaffen. Victoria Strauss könnte ich das vielleicht zutrauen, aber nicht Onkel Paolo. Nicht meinem Immortis-Team.
Doch wenn er recht hat… Ich schließe die Augen und stelle mir vor, wie ich hinuntergehe zum Fluss, mit Eio in ein Boot steige und mich auf den Weg mache zu den entferntesten Ecken auf Tante Harriets Karte. Bei diesem Gedanken schlägt mein Herz ein wenig schneller. Es ist machbar. Wir könnten es tun. Einfach gehen und alles für immer zurücklassen.
Was zurücklassen? Onkel Paolo hat gelogen, was das Feuer im Laborblock B betrifft. Hätte er das ohne triftigen Grund getan? Onkel Paolo ist der vernünftigste Mensch, den ich kenne. Und wenn ich gehe, setze ich sie der Strafe durch Corpus aus. Ich erinnere mich ganz genau an Strauss’ Worte; es ist, als flüsterte sie sie mir in diesem Augenblick ins Ohr: »Mir fallen mindestens zwanzig Wissenschaftler ein, die töten würden für die Chance, Ihren Job zu machen. Ihren Job und die Jobs all Ihrer Mitarbeiter.« Wer weiß, was mit ihnen geschieht, wenn ich davonlaufe? Könnte ich eine ganze Ewigkeit mit dieser Schuld leben? Nein. Das kann ich ihnen nicht antun.
Ich komme mir vor wie die Waage in Onkel Sergeis Labor. Jeder neue Gedanke, der mir durch den Kopf schießt, legt auf der einen oder auf der anderen Seite ein Gewicht auf. Einmal neigt sich diese Seite nach unten, einmal die andere, doch nie hält die Waage in meinem Kopf still. Nie bleibt eine Seite eindeutig oben.
»Wie soll ich dir denn glauben, Onkel Antonio?«, frage ich kläglich. »Wenn es ein schreckliches Geheimnis in Little Cam gäbe, von dem ich nichts weiß, würdest du es mir doch sagen.«
»Ich erfinde das alles nicht, Pia.« Er spricht leise. »Und das weißt du. Du leugnest etwas gegen dein besseres Wissen.«
»Ich leugne gar nichts, weil ich nicht weiß, was ich leugnen könnte! Du sagst es mir ja nicht!«
Er versinkt in Schweigen. In seinem Blick spiegeln sich Enttäuschung und Sorge. Ich beneide ihn. In seinem Inneren kämpfen offenbar nur zwei Gefühle miteinander. Bei mir sind es Dutzende, wie mir scheint, aber der Zorn gewinnt die Oberhand.
»Ich gehe nicht weg aus Little Cam. Mein ganzes Leben habe ich davon geträumt, jemanden, der so ist wie ich, an meiner Seite zu haben. Jemand, der weiß, wie es ist, ewig zu leben und sich nie verletzen zu können. Jemand, der…« Ich muss mich zwingen, nicht zu Eio hinüberzuschauen. »... der immer bei mir bleibt, der nicht alt wird und stirbt und mich allein lässt, während ich ewig jung bleibe.« Flehentlich strecke ich die Hände aus. Ich möchte so gern, dass er mich versteht. »Du hast recht, ich gehöre nicht dazu. Nicht in Little Cam und nicht in Ai’oa. Ich bin ganz allein, Onkel Antonio. Ich war es immer. Und wenn ich Little Cam verlasse, gebe ich meine einzige Chance auf, jemals zu irgendjemandem zu gehören. Dann bin ich für immer allein«, flüstere ich.
»Du musst nicht allein sein, Pia!«, widerspricht Eio. »Warum begreifst du das nicht? Ich bin doch da!«
»Ach ja? Für wie lange? Wie lange, Eio? Ich kann dich nicht… ich kann nicht mit dir zusammen sein in dem Wissen, dich irgendwann wieder zu verlieren. Ich kann das nicht.« Ich wende mich wieder Onkel Antonio zu. »Wenn ich irgendwo einen Platz habe, dann bei meiner eigenen Art. Und die gibt es noch nicht einmal. Das ist mein Traum, Onkel Antonio. Es ist meine Bestimmung.«
»Das sind Paolos Worte«, entgegnet er kalt, »nicht deine.«
»Onkel Paolo hat mich zu dem gemacht, was ich bin.«
»Er macht ein Monster aus dir.«
Jetzt reicht es mir. Es ist fast, als würde in meinem Kopf ein Schalter umgelegt. »Ich höre mir das nicht länger an. Das ist – das ist verrückt! Du bist verrückt. Ich gehe.« Ich drehe mich zum Fenster um, dann fällt mir ein, dass es ja auch eine Tür gibt.
»Pia!« Seine Stimme erreicht mich in dem Moment, als ich das dünne Holz berühre. »Würdest du deine Meinung ändern, wenn du die Wahrheit wüsstest?«
Ich reiße die Tür auf und antworte, ohne mich umzudrehen. »Woher soll ich das wissen, wenn ich die Wahrheit nicht kenne?«
Der Dschungel erscheint dunkler als zuvor. Ich laufe blindlings los, stolpere über Steine und renne fast in Bäume hinein, so durcheinander bin ich. Ich höre Eio hinter mir, doch ich ignoriere ihn. Erst als er sich mir in den Weg stellt und mich nicht vorbeilässt, muss ich stehen bleiben.
Er nimmt zärtlich meine Hand. »Komm, Pia.«
»Nein, ich –«
»Komm, Pia.«
»Wohin gehen wir?«
»Weiter.«
Ich gebe nach, jeder Widerstand ist ohnehin zwecklos. Nicht einmal Onkel Antonio kommt gegen seinen Dickkopf an. Onkel Antonio. Eios Vater. Diese Offenbarung ist immer noch neu und unglaublich. Wie hat er dich die ganze Zeit vor mir geheim halten können?
Aber vielleicht sollte ich auch eine andere Frage stellen: Hat Onkel Antonio recht? Seine Worte machen mir Angst. Es gibt so viel Böses in Little Cam. Aber niemand zeigt es mir. Ich sehe Schatten, höre geflüsterte Andeutungen, aber nichts von alldem ist sicher. Du sagst mir, ich soll wegrennen, aber du sagst mir nicht, warum! Er denkt wohl, er bräuchte mir nur zu erzählen, dass es viel Böses gibt – ohne mir zu sagen, was es genau ist –, und ich würde sofort alles Vertraute hinter mir lassen.
Wie er das glauben kann, verstehe ich nicht. Wenn er mir die Wahrheit nicht sagt, gibt es sie vielleicht gar nicht.
Sei ehrlich mit dir, Pia. Du weißt doch, dass es sie gibt. Trotz Eios Hand auf meiner fröstle ich. Du weißt, dass es stimmt. Du hast die Zellen gesehen. Du hast Paolos Augen gesehen. Es gibt da etwas, etwas, worüber niemand reden will…
Ich schüttle den Kopf, um wieder klar denken zu können. Bevor das alles angefangen hat, war mein Blick auf die Dinge vollkommen ungetrübt. Bevor Tante Harriet kam mit ihrer roten Mähne und ihren Überzeugungen. Vor dem Loch im Zaun und dem Jungen auf der anderen Seite – und vor seinem nervtötenden Vater. Ich hatte den Blick eines Wissenschaftlers. Es gab nur Schwarz und Weiß. Vernunft und Chaos. Fortschritt und Rückschritt.
Und jetzt? Schreite ich voran oder zurück? Ist es vernünftig, mitten in der Nacht hier draußen im Dschungel zu sein und die Hand eines Jungen mit bemaltem Gesicht zu halten? Ganz sicher nicht. Mein Leben wird mit jedem neuen Tag unausweichlich chaotischer.
»Hier.« Eio zieht einen dicken Lianenvorhang beiseite. Dahinter liegt das Schwimmbecken im Fluss. Das unbewegte Wasser glitzert im Mondlicht. Es muss Vollmond sein. Ich kann ihn zwar nicht sehen, aber nur bei Vollmond erreicht das Licht den Waldboden. Der Wasserfall sieht aus wie flüssiges Silber, sein Dröhnen ist leise und beruhigend.
»Warte hier«, sagt er.
»Was –«
»Warte einfach.«
Ich klappe den Mund zu und setze mich auf einen bemoosten Baumstamm am Ufer.
Er geht zum Rand, springt in einem flachen Bogen ins Wasser und schwimmt knapp unter der Oberfläche wie ein Otter. Das Wasser um ihn herum beginnt blau zu leuchten. Im Flussbett muss es irgendwelche biolumineszenten Algen geben, vielleicht Pyrocystis fusiformis, die leuchten, wenn etwas sie stört. Ich halte den Atem an, überwältigt von der gespenstischen Schönheit der Szene. Ich habe dieses Phänomen bisher immer nur unter dem Mikroskop im Labor gesehen. Hier draußen unter dem Dschungelmond ist das blassblaue Licht hundert Mal faszinierender. Eio schwimmt in Licht, sein Körper ein dunkler Schatten, der pfeilschnell zum Wasserfall gleitet.
Er findet Halt auf einem der Felsen unter den Kaskaden und richtet sich auf. Sein Körper teilt den Vorhang aus Wasser. Es spritzt von seinen Schultern und silberne Perlen glitzern, wenn er den Kopf schüttelt. Mein Mund ist wieder leicht geöffnet und ich merke, dass ich seit über einer Minute den Atem angehalten habe. Warum sind wir hier? Sollte ich wütend sein? Aber ich weiß nicht mehr, weshalb. Es spielt auch keine Rolle. Nichts spielt eine Rolle. Mein Kopf schiebt alle Gedanken beiseite und macht Platz für das wunderschöne Bild: Eio, der in dem leuchtenden Fluss steht, während das Wasser über seine Schultern rauscht.
Eio klettert die schlüpfrigen Felsen hinauf und krallt sich schließlich an der Fallkante des Wasserfalls fest. Das Wasser stürzt in zwei silbernen Bändern rechts und links von ihm herunter und kommt direkt unterhalb seiner Hüften wieder zusammen. Es zerrt an seinen Shorts und fast droht das Wasser sie ihm auszuziehen.
Ich schlucke. Mühsam. Und blinzle nicht ein einziges Mal.
Er wird von dem sanften blauen Licht des Teichs unter ihm beschienen. Mein Blick ist so auf Eios Rücken und auf das Spiel seiner Muskeln fixiert, dass ich kaum mitbekomme, was seine Hände tun. Dann dreht er sich um und ich sehe, dass er von einer dicken Liane, die über die Kante des Wasserfalls hängt, eine Passionsblume gepflückt hat. Eio klettert vorsichtig wieder hinunter und gleitet zurück ins Wasser, das wieder heller zu leuchten beginnt. Er hält die Blüte über der Wasseroberfläche, als er durch den lumineszierenden Strom zu mir schwimmt. Dann ist er da, taucht aus dem Wasser auf wie ein Mythos, ein sagenhafter Gott der Ai’oaner. Er streicht sich das nasse Haar aus dem Gesicht, Brust und Schultern glänzen im Mondlicht. Hinter ihm markiert eine helle, schimmernde Spur aus blauem Licht seinen Weg durchs Wasser. Seine nassen Shorts hängen ein gutes Stück tiefer auf seinen Hüften als normalerweise und beflügeln meine Fantasie. Er streckt mir die Blüte hin und ich nehme sie mit zitternden Fingern.
Ich höre ein leises, ersticktes Danke. Es muss aus meinem Mund gekommen sein.
Er schenkt mir ein kleines, schiefes Lächeln. Er weiß ganz genau, was sein Anblick bei mir auslöst. Vermutlich ist er nicht nur wegen der Passionsblume durch das schimmernde Wasser geschwommen.
»Gern geschehen«, sagt er, als er sich neben mich setzt. Und zwar so nah, dass Wasser von seinem Haar auf meine Schulter tropft. Ich wische es nicht weg. Er schaut zu, wie ich die Blüte langsam zwischen meinen Fingern drehe, als wollte er sehen, ob sie mich aufmuntern konnte.
»Sie ist wunderschön«, flüstere ich.
»Schöner als deine Elysia?«
Mir wird klar, dass es hier nicht nur um Blumen geht. Er benutzt sie lediglich, um unser eigentliches Thema auszuloten: der Balanceakt, vor dem Onkel Antonio mich gewarnt hat. Der Dschungel oder Little Cam? Eio oder Mister Perfect? Liebe… oder Ewigkeit? »Eio, ich – ich weiß es nicht«, gebe ich zu.
Er presst die Lippen aufeinander und blickt zu seinen Händen hinunter. Ich weiß, dass ich ihn auf Armeslänge von mir weghalte, ihn aber auch nicht gehen lasse, und fühle mich entsetzlich dabei. Ich will ihm keine falschen Hoffnungen machen – doch verlieren will ich ihn auch nicht. Ich spiele, ohne es zu merken, mit den Blütenblättern der Passionsblume, während meine Gefühle miteinander kämpfen.
Um uns herum herrscht nächtliches Vogelgezwitscher und hier und da ertönt das Heulen eines Affen. Schon als ich das erste Mal unter dem Zaun durchkroch, habe ich mich in diesen Dschungel bei Nacht verliebt. Daran hat sich nichts geändert. Die Dunkelheit gleicht einer Decke, das silberne Mondlicht schenkt mir Stille und lässt mir meine Geheimnisse.
»Er liebt dich«, bemerkt Eio nach einer kurzen Weile leise wie ein Windhauch. »Sonst würde er sich nicht so um dich sorgen.«
Ich betrachte sein Gesicht. »Glaubst du, wir sollten weglaufen?«
Eio runzelt die Stirn und fährt sich noch einmal durchs Haar. »Ich weiß es nicht, Pia. Ich weiß nicht, was sich innerhalb eures Zauns abspielt. Ich gehöre nicht zu dieser Welt.«
Es ist etwas Ausweichendes in seinem Blick, das mich fragen lässt: »Glaubst du, es stimmt, dass es viel Böses in Little Cam gibt? Böses, das mich vernichten würde, wenn ich darüber Bescheid wüsste?«
Eio lässt sich mit seiner Antwort Zeit. »Ich denke, wenn er will, dass du gehst, sollte er dir sagen, weshalb. Da gebe ich dir recht. Andererseits solltest du ihm auch ein bisschen mehr Vertrauen schenken. Es könnte sein, das seine Einschätzung weit mehr der Wahrheit entspricht, als du glaubst.«
Genau das fürchte ich ja.
Sein Blick weicht mir immer noch aus. »Eio, was weißt du? Hat er dir gesagt, was er mir nicht sagen will?«
Er starrt immer noch auf seine Hände, als er antwortet: »Er hat mir nichts gesagt.«
»Er war immer mein Lieblingsonkel. Er hat mich nie perfekt genannt.«
»Dann liegt darin sein Irrtum.«
Ich betrachte Eios Gesicht. Die Bemalung ist trotz des nächtlichen Schwimmens vollkommen unversehrt. »Je mehr ich dich reden höre, desto mehr klingst du wie einer von uns.«
»Uns?«
»Du weißt schon. Wissenschaftler. Little Camianer oder wie immer du uns nennen willst.«
Selbst in der Dunkelheit sehe ich, wie er die Stirn runzelt. »Ich… ich fühle mich weniger als Ai’oaner als vorher. Seit ich dich kenne jedenfalls.« Er nimmt meine Hand und reibt mit dem Daumen über meine Handfläche. »Du hast mich verändert, Pia-Vogel.«
Du mich auch. »Wie denn?«
»Na ja, mir geht es fast die ganze Zeit schlecht.«
»Was?« Ich ziehe meine Hand weg.
»Fast die ganze Zeit. Wenn du nicht bei mir bist eben. Ich kann nachts nicht mehr schlafen, weil ich immer an dich denken muss. Was ich heute gesagt hab, war ernst gemeint: Du bist mein py’a. Mein Herz.« Er nimmt wieder meine Hand.
»Du… du empfindest das alles für mich?« Mein Mund ist trocken und mein Herz hämmert.
Sein Blick ist ernst, als er mich ansieht. »Seit dem Moment, als du mich über den Haufen gerannt, mir dann mit dieser blöden Taschenlampe in die Augen geleuchtet und deinen Jaguar auf mich gehetzt hast. Ich war wütend, aber in erster Linie, weil ich Angst hatte.«
»Bin ich wirklich so erschreckend?«
»Deine Schönheit ist es«, flüstert er.
Ich weiß, was er meint, weil ich dasselbe empfinde, wenn ich ihn anschaue. Ich spüre ein Ziehen im Herzen, wann immer er mich ansieht, wann immer er meine Hand nimmt und mich an sich zieht. Mein Gedächtnis ist perfekt und dennoch kann ich mich nicht erinnern, Eio nicht in meiner Nähe gehabt zu haben. Ich kenne ihn gerade mal eine Woche und trotzdem habe ich das Gefühl, als hätte es immer nur uns gegeben. Das ist ein ganz, ganz seltsames Gefühl. In meinem Kopf ist sonst immer alles klar und eindeutig, definiert durch Zahlen und Formeln. Doch wenn es um Eio geht, gleicht mein Verstand einem von Onkel Smithys Aquarellen. Konturen verschwimmen und alles purzelt durcheinander und verblasst, bis nur noch Staunen übrig bleibt. Staunen darüber, wie schnell und wie bedingungslos ich diesem Jungen aus dem Dschungel verfallen bin. Staunen darüber, wie er meine ganze Welt in tausend Scherben zerschlagen und die Einzelteile dann zu ganz neuen Mustern zusammengesetzt hat, wie er eine vollkommen neue Welt erschuf – und eine vollkommen neue Pia –, die es vorher nicht gab. Das, was einmal wichtig war, ist für neue Gefühle und neue Träume in den Hintergrund getreten – und das erschreckt mich zutiefst.
»Wir könnten gehen, Pia. Wir könnten von hier weggehen. Von Little Cam und auch von Ai’oa. Ich wäre bereit. Die Boote liegen nicht weit von hier. Ich bringe dich weg.« Sacht legt er einen Finger auf den Steinvogel um meinen Hals und mir bleibt fast die Luft weg. »Wenn es nur noch dich und mich gäbe… ich wäre glücklich. Und du?«
Und ich? Vor meinem geistigen Auge springt die wilde Pia auf, reckt die Faust in die Luft und ruft ja, ja, ja! Geh, Pia! Sie ist stark und überzeugend und ich schwanke. Könnte ich glücklich sein?
Sein Gesicht ist dicht vor meinem. Ich sehe jede Einzelheit – die Brauen über diesen tiefblauen Augen. Das Grübchen unterhalb des Mundwinkels. Das gerade Kinn, so fest und entschlossen, genau wie das von Onkel Antonio.
»Eio…«
»Empfindest du genauso, Pia? Für mich?«
»Ich…« Kann ich? Tu ich es? Wage ich es? Wenn ich Eio anschaue, sehe ich mehr als nur einen Jungen, so schön und tapfer er auch sein mag. Ich sehe Ai’oa und die Dorfbewohner und auch Tante Harriet. Und den Dschungel. Immer den Dschungel. Unergründlich, geheimnisvoll, wunderschön und unwiderstehlich. Ein Ort, an dem ich mich für immer verlieren könnte.
Plötzlich zieht Eio scharf die Luft ein und reißt die Hand hoch. Dort, wo das Wasser fast bis zu dem umgestürzten Baumstamm reicht, wächst eine dieser gewaltigen Seerosen, die die Botaniker von Little Cam so faszinieren. Victoria amazonica, denke ich automatisch. Die Blattunterseite ist mit winzigen, spitzen Dornen bedeckt und an einer davon hat Eio sich geschnitten.
Er hält einen Finger hoch, aus dem das Blut quillt. Wie gebannt starre ich darauf. »Du blutest.«
Achselzuckend schaut er genauer hin, um zu sehen, wie tief der Schnitt ist. Ich sehe nur das Blut, das dunkelrot über seine Haut läuft.
Nein. Nein, nein, nein, nein, nein. »Nein!« Ich springe auf und die Passionsblume fällt auf den Boden. »Nein, Eio, ich – ich kann nicht. Ich kann nicht, verstehst du das nicht?«
Er sieht mich aus großen Augen an. »Was willst du damit sagen?«
»Eio, ich bin unsterblich. Weißt du, was das bedeutet? Ich lebe ewig. Ich werde nie sterben! Ich lebe immer weiter und du wirst – du wirst –« Ich verschlucke mich an dem Wort. »Ich habe einen Traum, Eio, den Traum von der Erschaffung meiner eigenen Rasse, einer Rasse Unsterblicher, zu der ich dann gehöre. Das wird nicht in Little Cam sein und nicht in Ai’oa, sondern an einem eigenen Ort mit meiner eigenen Art. Ich bin… Es tut mir leid. Aber du – ich kann es einfach nicht. Onkel Antonio hat recht. Ich kann nicht zwischen hier und dort hin und her spazieren. Es geht nicht.« Die Liebe macht einen schwach. Sie lenkt von den wichtigen Dingen ab. Sie kann dazu führen, dass man das Ziel aus den Augen verliert.
Er blickt mich verletzt und verwirrt an und streckt eine Hand nach mir aus. Es ist die verletzte Hand und es ist immer noch Blut daran…
Ich renne los.