11
Ich erschrecke, als Eio hinter einem Kapokbaum hervortritt. Ich kenne niemanden, der sich so heranschleichen kann, und es macht mich nervös.
»Du bist wiedergekommen«, stellt er fest und betrachtet mich von oben bis unten. Er bedenkt auch Alai mit einem langen Blick, den der Jaguar kühl erwidert. »Und dieses Mal nicht im Kleid.«
Ich trage ein schwarzes Top und eine Camouflage-Cargohose. Einen dunklen Regenmantel habe ich für alle Fälle auch mitgenommen. Es sind nur wenige Wolken am Himmel, aber das kann sich innerhalb von Minuten ändern.
»Natürlich. Ich habe es schließlich versprochen.« Ich erwähne nicht, dass ich noch vor wenigen Stunden fest entschlossen war, dieses Versprechen zu brechen.
»Ich dachte, du hättest Angst.«
»Hab ich nicht.«
Er taxiert mich skeptisch und ich mache es genauso. Er trägt dasselbe wie letzte Nacht. Vielleicht hat er keine andere Hose. Allerdings ist er heute mit Gesichtsbemalung erschienen: drei rote Streifen auf der Stirn, zwei weiße Punkte auf jeder Wange und einen blauen Strich senkrecht am Kinn.
»Was bedeutet deine Gesichtsbemalung?«
Er legt einen Finger auf die drei roten Streifen. »Die Spuren der Jaguartatze.« Sein Finger wandert zu den weißen Flecken. »Die Flecken im Fell des Jaguars.« Zum Schluss zeigt er auf sein Kinn. »Das Sehen.«
»Das Sehen?«
Er fährt die Striche in seinem Gesicht nach und macht dabei eine Kopfbewegung hinüber zu Alai. »Einen Jaguar zu sehen, bringt Glück.«
Ich schaue Alai an und frage mich, was sie in Little Cam sagen würden, wenn ich mir ebenfalls das Gesicht bemalte. Machst du einen auf Eingeborene, Pia?
»Ich zeige dir Ai’oa«, verkündet Eio, »falls du nicht zu viel Angst hast, kleine Wissenschaftlerin.«
»Ich bin noch keine Wissenschaftlerin«, wehre ich freundlich ab, »und ich habe keine Angst. Schlafen die anderen?«
»Nein. Sie erwarten dich.«
Sie erwarten mich? Ich spüre ein nervöses Flattern im Magen. »Du hast ihnen von mir erzählt?«
»Es gibt keine Geheimnisse in Ai’oa.«
Ich lasse ihn vorausgehen. Letzte Nacht bin ich im Zickzack durch den Dschungel gelaufen. Heute bringt Eio mich auf direktem Weg zum Dorf oder zumindest so direkt, wie man im Regenwald gehen kann. Wir müssen riesige Bäume umgehen und schlittern steile, laubbedeckte Hänge hinunter. Trotzdem dauert es nur ungefähr eine halbe Stunde, bis wir Ai’oa erreichen.
Heute Abend sieht das Dorf ganz anders aus. Die Feuer brennen heller und ich sehe, dass Ai’oa größer ist, als es gestern schien. Mit Palmblättern gedeckte Hütten ohne Wände stehen in zwei langen Reihen nebeneinander. Sie sind kaum höher als ich groß bin. In jeder Hütte hängen zwischen fünf und zwanzig Hängematten, die jetzt alle leer sind. Bunte Stoffbänder flattern von den Stangen, auf denen das Dach aufliegt. Zwischen den Hängematten wurden Lianen gespannt, an denen bunt bemalte Töpferware baumelt.
Die Feuerstellen sind gleichmäßig zwischen den Hütten verteilt und mir fällt auf, wie harmonisch alles geordnet ist. Je genauer ich hinschaue, desto deutlicher wird es. Aufbau und Lage der Hütten, Ausrichtung der Hängematten, selbst die an die Stangen geknüpften Bänder – alles wurde mit größter Sorgfalt platziert. Das Ergebnis ist eine wunderbare Ausgewogenheit.
Ich muss das alles in wenigen Sekunden erfassen, denn die Ai’oaner ziehen den größten Teil meiner Aufmerksamkeit auf sich. Sie kommen aus den Hütten und hinter Bäumen hervor, stellen sich um die Feuerstellen herum auf und warten. Auf Eio und mich, nehme ich an.
Ich bin überrascht, wie zierlich die Ai’oaner sind. Keiner ist so groß wie ich. Sie tragen eine seltsame Mischung aus traditioneller und moderner Kleidung. Einige tragen Shorts und T-Shirts wie wir in Little Cam, andere so gut wie nichts. Eine Frau trägt ein T-Shirt mit dem Aufdruck I LOVE NYC (wer ist NYC?, frage ich mich) und darunter einen Rock aus langem Gras.
Eio führt mich zwischen den Hütten durch und bald bin ich umringt von Ai’oanern. Ich blicke mit großen Augen um mich und sie beäugen mich genauso. Ringsherum wird gemurmelt und geflüstert, doch jedes Mal, wenn ich mich umdrehe, um zu sehen, wer etwas gesagt hat, blicke ich in unbewegte Gesichter und die Stimmen sind wieder nur hinter meinem Rücken zu hören. Alai scheint sie mehr zu faszinieren als ich.
Es dauert eine Weile, bis ich die Männer von den Frauen unterscheiden kann. Schließlich erkenne ich das Geschlecht daran, dass die Frauen die Haare hüftlang tragen und mit Papageienfedern schmücken, während sie den Männern nur bis zum Nacken reichen. Der flache Pony reicht bei allen bis zu den Augenbrauen. Nur nicht bei Eio.
Mein Führer stellt eine Anomalie dar. Beim flüchtigen Betrachten scheint er mit seiner Gesichtsbemalung und der nackten Brust einer von ihnen zu sein. Doch auf den zweiten Blick wirkt er genauso fehl am Platz wie ich. Sein Haar ist zu lockig, um sich dem ordentlichen Topfschnitt anzupassen, den der Stamm favorisiert. Die Ai’oaner haben platte Nasen und ihre Augen stehen leicht schräg. Eio dagegen könnte, was das Aussehen betrifft, genauso gut in Little Cam leben – was sicherlich etwas mit seiner gemischten Herkunft zu tun hat. Außerdem überragt er seine Leute um Kopf und Schultern, sodass ich ihn, auch als die Ai’oaner sich zwischen uns schieben, jederzeit leicht ausmachen kann. Ich brauche nur über ihre Köpfe hinwegzuschauen. Er beobachtet mich mit einem amüsierten Lächeln und ich frage ihn, was so komisch ist.
»Sie halten dich für hässlich«, erklärt er, »wie alle anderen Karaíba.«
»Ich bin nicht hässlich. Was ist ein Karaíba?«
»Es bedeutet Fremder, aber sie meinen es nicht böse. Mich finden sie auch hässlich wegen der Ähnlichkeit mit meinem Papi.«
Ich muss lachen. »Du bist aber auch hässlich!«, behaupte ich, nur um ihn zu ärgern.
Plötzlich beginnen die Ai’oaner ebenfalls zu lachen. Ich weiß nicht, warum, bis Eio sich zu mir durchdrängelt und mir erklärt: »Die meisten sprechen Englisch. Papi hat es auch ihnen beigebracht.«
»Oh.« Ich blicke in die Gesichter um mich herum. »Na, dann… hallo.«
Ich höre ein paar gemurmelte Hallos und wieder Gelächter. Meine Nerven zittern nicht mehr ganz so heftig und ich bin nicht mehr so angespannt. Ein kleines Mädchen in blauen Shorts und mit einer Kette aus frischen Blüten um den Hals steht plötzlich neben mir und schaut zu mir auf. Einen Augenblick später sagt sie etwas in ihrer Eingeborenensprache und verschwindet wieder. Gelächter brandet auf, dieses Mal rau und ungezügelt. Als ich Eio anschaue, damit er mir übersetzt, was sie gesagt hat, schüttelt er nur den Kopf und wird rot.
»Ich kann übersetzen«, bietet sich eine schwangere Frau mit glänzenden Augen an. Sie trägt traditionelle ai’oanische Kleidung. Fasziniert blicke ich auf ihren dicken Bauch. Ich habe trächtige Tiere gesehen, aber noch nie eine schwangere Frau. Ich merke, wie ich sacht über meinen eigenen Bauch streichle. Wird mir das auch passieren? Ich bin so hypnotisiert, dass ich die Übersetzung der Frau fast nicht mitbekomme. »Sie hat gesagt, ›eine hässliche Braut für einen hässlichen Jäger‹.«
»Was?« Ich wirble herum, bis ich Eio finde, und nagle ihn mit einem wütenden Blick fest.
Er hebt abwehrend die Hände. »Nein, nein! Es ist nicht so, wie… Ich hab nicht…«
»In Ai’oa ist es Sitte, kleine Karaíba«, fährt die Frau fort, »dass sich ein Jäger eine Frau aus einem anderen Dorf mitbringt, allerdings nur, wenn sie ihn akzeptiert. Aber Eio ist so hässlich, dass ihn wahrscheinlich keines der Mädchen vom Stamm der Awari oder der Hatpato will. Deshalb muss er ein hässliches Wissenschaftler-Mädchen zur Frau nehmen.«
»Ich habe überhaupt nicht vor, irgendjemandes Frau zu werden«, erwidere ich hitzig. Und Eio ist alles andere als hässlich, aber das sage ich nicht laut. Trotzdem spüre ich, dass ich rot geworden bin.
»Nein«, bestätigt Eio, »ich habe Pia nicht als meine Frau hergebracht, Luri.«
»Warum dann?«, fragt Luri. »Schau sie doch an. Sie will nicht wissen, wie wir Annatto und Suma verwenden. Kein Papier und kein Stift. Nichts, um mit uns zu handeln wie die anderen Wissenschaftler.«
Eio strafft die Schultern und richtet sich zu seiner vollen Größe auf. »Ich habe sie hergebracht, weil ich gestern Nacht den Jaguar gehört habe. Und als ich mich auf die Suche nach ihm gemacht habe, fand ich sie, das Mädchen, das dem Jaguar gebietet. Seht ihr es nicht? Es ist ein Zeichen. Die Geister haben den Jaguar dazu gebracht, dass er ruft, damit ich nach ihm Ausschau halte und sie finden und hierher bringen würde.«
Daraufhin schweigen sie erst einmal. Ich frage mich, ob sie ihn wohl wieder auslachen, doch ihre Mienen sind ernst. Dann meint Luri: »Das ist eine Sache für die Drei.«
Die anderen murmeln ihre Zustimmung in Englisch und Ai’oanisch. Die Drei? Ich habe nicht lange Zeit, mir zu überlegen, wer sie wohl sein mögen, denn die Menge vor mir weicht zurück, bis nur noch drei Menschen nebeneinanderstehen.
Der erste ist prachtvoll gekleidet und trägt einen schweren Kragen aus Papageienfedern, Tierzähnen und Perlen. In der Hand hält er einen Speer, der größer als er selbst und mit Federn umwickelt ist. Neben ihm steht eine untersetzte Frau mit kunstvollen Tattoos im Gesicht und Piercings in Lippen und Nase. Auch ihre Arme sind tätowiert. Sie wirkt so elegant und selbstbewusst, dass mir kaum auffällt, dass sie von der Taille aufwärts nackt ist. Der Mann neben ihr ist älter als die beiden anderen und gebeugt und seine Gesichtshaut hängt in Falten herunter. Sein schütteres Haar ist weiß. Um Schultern und Taille hat er fasrige Ranken geschlungen, an denen Kräutersträußchen, geschnitzte Holzfiguren sowie bunte Perlen und Kalebassen hängen.
Ich weiß instinktiv, dass dies die Stammesführer sind.
Der Älteste beobachtet mich mit Augen, die zu einem viel jüngeren Gesicht gehören müssten. Sie sind wach und durchdringend und es fällt mir schwer, seinem Blick längere Zeit standzuhalten. Ich habe das Gefühl, als könne er meine Gedanken lesen. Deshalb schaue ich lieber die Frau an. Sie wirkt sanfter und lächelt verhalten. Ihr Blick ist neugierig und fragend und wandert zwischen Alai und mir hin und her. Der Mann auf ihrer anderen Seite starrt nur unentwegt Eio an.
Alle scheinen darauf zu warten, dass jemand etwas sagt, und ich hoffe, sie warten nicht auf mich. Ich wüsste nicht, was ich sagen sollte. Ich weiß nicht, was Eio gemeint hat. Sollen sie doch ihn fragen.
Endlich öffnet der Älteste den Mund. Seine Stimme ist kaum lauter als ein Seufzen, doch jedes Wort ist klar und deutlich. Leider spricht er ai’oanisch, sodass ich ihn nicht verstehe. Luri tritt neben mich und übersetzt leise. »Das Zeichen des Jaguars ist ein mächtiges Zeichen. Wenn der Weitwanderer den Ruf gehört hat, darf man dies nicht verkennen. Das fremde Mädchen muss über einen mächtigen Zauber verfügen, dass die Geister sie ankündigen und der mächtige Jaguar sie respektiert.«
»Ich habe den Ruf gehört«, bestätigt Eio.
»Ich verfüge über keinen Zauber! Sag ihm, dass ich über keinen Zauber verfüge.« Ich bin unsterblich, klar, aber das hat nichts mit Zauberei zu tun, das ist Wissenschaft.
»Es ist nicht gut, einem Mann wie Kapukiri, der mit den Geistern redet, zu widersprechen«, meint Luri. »Ich werde das nicht übersetzen. Was er sagt, muss die Wahrheit sein. Wenn Eio Weitwanderer den Jaguar gehört, nach ihm Ausschau gehalten und dich gefunden hat, müssen die Geister wollen, dass du zu uns kommst.«
»Ich kann nicht bei euch bleiben. Ich muss zurück nach Little Cam.«
»Geh zurück oder bleib«, erwidert sie achselzuckend.
Kapukiri kommt näher. Er richtet den gebeugten Oberkörper auf und bringt sein Gesicht ganz nah an meines. Nur wenige Zentimeter sind dazwischen. Eigentlich erwarte ich, dass Alai zumindest mit einem Knurren reagiert, doch er beobachtet uns gelassen. Das überrascht mich. Ich versuche, instinktiv zurückzuweichen, doch die Ai’oaner bilden eine Mauer hinter mir. Ich kann nirgendwohin. Ich bin gezwungen, auf den verhutzelten Mann hinunterzuschauen und seinem durchdringenden Blick standzuhalten. Wonach sucht er? Nach meinem Zauber? Ich glaube nicht an die Geister und Zeichen der Eingeborenen – das wäre nicht wissenschaftlich –, aber es gibt keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinen. Ich nehme an, sie warten alle darauf, dass Kapukiri irgendeine Art von Ansage macht.
Plötzlich tritt der Medizinmann zurück. Sein Blick ist wild und er beginnt am ganzen Körper zu zittern, krampfartig, ruckhaft. Ich frage mich, ob er einen epileptischen Anfall hat. Dann zieht er eine kleine Kalebasse aus einer der Ranken um seinen Körper und schüttelt sie. Ein lautes Klappern ertönt. Er schüttelt sie über seinem Kopf, wobei er die Arme von rechts nach links bewegt und auf Höhe seiner Knie. Dabei stöhnt er und singt und rollt mit den Augen. Alai gibt neben mir ein seltsames Geräusch von sich, halb Grollen und halb Winseln, leise und tief.
»Was ist los mit ihm?«, frage ich. »Braucht er Hilfe?«
Luri schüttelt den Kopf, legt eine Hand auf meinen Arm und bedeutet mir, still zu sein. Die anderen Ai’oaner beobachten ihren Medizinmann gebannt. Als er endlich aufhört zu stöhnen und zu zittern, legt er beide Hände um mein Gesicht. Ich versuche nicht zurückzuweichen, warte aber nervös, was jetzt kommt.
»Der Weitwanderer hat den Ruf gehört«, verkündet er und Luri übersetzt hastig, »und ich, Kapukiri, sehe das Mal in den Augen des fremden Mädchens.«
»Welches Mal?«, frage ich, doch Luri schüttelt nur den Kopf. Sei still!
Kapukiri fährt fort: »Ich sehe das Zeichen von Jaguar, Mantis und Mond. Dieses fremde Mädchen ist…« Luri kommt beim Übersetzen ins Stocken. Mit großen Augen blickt sie mich gebannt an. »Tapumiri.«
Ein Raunen geht durch die Menge.
»Jaguar, Mantis, Mond«, flüstert Eio. »Die waren, aber nicht mehr sind. Tapumiri.«
Kapukiri nimmt die Hände von meinem Gesicht und ergreift meine Handgelenke. Er dreht sie so, dass die blassblauen, durch die Haut schimmernden Venen oben liegen, und fährt mit seinen knotigen Fingern darüber. Seine Berührung ist so zart wie die eines Schmetterlings.
»In diesen Adern fließen die Tränen von Miuas«, wispert er.
Schweigen legt sich über Ai’oa. Ein Frösteln überkommt mich. Ich schiebe es auf die kühle Nachtluft. Kapukiris Worte bedeuten für diese Menschen etwas, etwas, das sie vor Ehrfurcht oder Angst erstarren lässt. Ich habe keine Ahnung, was es ist. Sie schauen mich ernst und mit großen Augen an und ich weiß nicht, ob Ablehnung oder Verehrung in ihnen liegt. Unbehaglich versuche ich den Blicken auszuweichen. Auch Luri ist in der Menge untergetaucht.
»Jaguar, Mantis, Mond«, flüstern sie auf Ai’oanisch. Die Worte haben sich bereits in mein Gedächtnis eingebrannt. »Die Tapumiri, die nicht mehr sind. Miuas Tränen fließen wieder. Jaguar, Mantis, Mond.«
Anfangs geht das Gemurmel noch durcheinander, doch nach und nach verschmilzt es zu einer Stimme, zu einem einheitlichen Singsang, bei dem mir das Blut in den Adern gefriert. Ich weiß nicht, was es bedeutet und was es mit mir zu tun hat, aber ich habe das Gefühl, ich verpasse etwas Großes und Bedeutsames.
»Eio«, frage ich flüsternd, »was sagen sie?«
Er ist der Einzige, der nicht in den Singsang eingestimmt hat. Ruhig und prüfend blickt er mich an. »Dass du gekommen bist, um uns zu retten.«