22

Es ist vierzehn Uhr. Um diese Zeit gehe ich normalerweise in den Fitnessraum, doch heute muss ich hinter Onkel Paolo herdackeln, der unsere Gäste durch Little Cam führt. Ich bin schon den ganzen Tag unruhig und merke, wie ich sehnsüchtig zum Dschungel blicke, wann immer wir unter freiem Himmel sind. Halb hoffe ich, dass Eio auf der anderen Seite des Zauns auftaucht, aber er tut es nicht, was auch ganz gut ist. Nicht auszudenken, was Strauss und Laszlo zu einem wilden Jungen mit nacktem Oberkörper zu sagen hätten, wenn er ans Tor klopfen und nach Pia verlangen würde.

Ich bin nicht das einzige Projekt, das auf der Checkliste von Corpus steht. Dutzende andere werden von Wissenschaftlern geleitet, die nicht im Immortis-Team sind. Die meisten untersuchen den medizinischen Nutzen einheimischer Pflanzen und aus einigen Forschungsprojekten sind tatsächlich schon neue Medikamente hervorgegangen. Falls Little Cam je von den falschen Leuten entdeckt würde, wären das die »Vorzeigeprojekte« – biomedizinische Forschung, deren Bedeutung Geheimhaltung rechtfertigt, die aber andererseits wieder so harmlos ist, dass kein wirklich schlimmer Verdacht aufkommen kann. Von mir würde natürlich niemand etwas erfahren.

Ich versuche Strauss und Laszlo so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Wenn ich sie sehe, muss ich an die Spritze in meiner Sockenschublade denken.

Schließlich landen wir in einem Raum voller Rattenkäfige. Die meisten Tiere sind Abkömmlinge von Roosevelt. Wenn ich an ihn denke, krampft sich mein Magen zusammen. Wir haben eine Menge unsterblicher Ratten in Little Cam, aber keine ist etwas so Besonderes, wie Roosevelt es war. Er war der Erste, genau wie ich die Erste bin.

Die Wissenschaftler mussten schon vor Jahren mit der Vermehrung unsterblicher Ratten aufhören, als klar wurde, dass Little Cam sonst bald von ihnen überrannt würde. Die überzähligen Ratten konnten nicht freigelassen werden, falls eine gefunden und ihr Anderssein entdeckt würde. Jetzt, da wir wissen, dass Elysia für Unsterbliche tödlich ist, könnten wir damit natürlich die Rattenpopulation in den Griff bekommen. Ob Onkel Paolo wohl schon daran gedacht hat?

Er zeigt Strauss und Laszlo gerade einen Käfig mit Albinos, als Laszlo ihm ein Zeichen gibt, er möge still sein. Laszlo zieht ein klingelndes Satellitentelefon aus seinem Rucksack, doch die Ratten machen einen solchen Krach, dass er nichts versteht. Er verlässt den Raum und schließt die Tür hinter sich.

Sekunden später fliegt die Tür wieder auf.

»Wir gehen!«, brüllt Laszlo.

»Was?« Strauss reißt die Augen auf. »Was ist los?«

»Das war Gerard aus Rio. Dort sind gerade etliche Schlipsträger von Genisect gelandet und schnüffeln herum. Sie versuchen unsere Spur zu verfolgen. Wir müssen verschwinden, und zwar sofort. Noch ist Zeit, sie von Little Cam abzulenken.«

Strauss läuft zur Tür. Onkel Paolo und ich hinterher.

»Dann reisen sie jetzt ab? Einfach so?«, frage ich ihn leise, als wir rasch den Flur hinuntergehen.

»Das ist keine Kleinigkeit, Pia.« Onkel Paolo ist ganz blass geworden. »Es ist möglicherweise schon zu spät. Corpus muss sich beeilen, wenn sie Genisect von Little Cam fernhalten wollen.«

»Was ist Genisect überhaupt?«

»Ein Konkurrenzunternehmen. Ich habe dir doch erzählt, dass es Leute gibt, die bereit wären, jeden in Little Cam umzubringen, nur um an dich heranzukommen. Erinnerst du dich? Das ist Genisect.«

Ich stelle mir vor, wie Männer mit Gewehren unser Gelände stürmen und alle abknallen, während ich hilflos zuschauen muss. Ein Schauer überläuft mich. »Dann ist das also das Ende des gefürchteten Corpus-Besuchs.« Irgendwie ist es fast enttäuschend. Da haben sich alle hier überschlagen wegen eines Besuchs, der am Ende keine vierundzwanzig Stunden gedauert hat.

»Du konzentrierst dich weiter auf deinen Test, Pia. Daran ändert sich nichts.«

Nachdem wir das Gebäude verlassen haben, läuft Onkel Paolo sofort zum Jeep und hilft beim Beladen. Ich suche mir einen Platz im Schatten eines Ameisenbaums neben dem Weg und beobachte alles. Es herrscht das reinste Chaos. Selbst Strauss rennt. Ihren getüpfelten Koffer hat sie sich über die Schulter geworfen. Ich erinnere mich, was sie über diese Genisect-Leute gesagt hat, die einen dritten Weltkrieg anzetteln würden, nur am an mich heranzukommen. Seltsamerweise kann ich nichts anderes denken als: Dann hat es also schon zwei Weltkriege gegeben?

Überrascht sehe ich, dass Onkel Smithy ebenfalls mit zwei Koffern in den Jeep einsteigt. Das bedeutet wohl, dass er in die Welt außerhalb des Dschungels zurückkehrt. Ich kann ihn nicht gehen lassen, ohne mich zu verabschieden.

Ich laufe zum Jeep, greife über die Seite hinein und lege meine Hand auf Onkel Smithys Arm.

»Onkel Smithy! Du verlässt uns schon?« Ich bin davon ausgegangen, dass er wenigstens noch ein paar Wochen bleibt.

Der alte Wissenschaftler lächelt und tätschelt meine Hand. Seine Haut ist so dünn wie ein Schmetterlingsflügel, und ihn ohne Pinsel in der Hand zu sehen, mutet fremd an. Dass diese zerbrechlich wirkenden Hände in der Zeit, in der er hier war, so viele wunderbare Bilder gemalt haben, erscheint wie ein Wunder.

»Jetzt heißt es Abschied nehmen, Pia.«

»Wohin gehst du?«

»Nach Hause. Mach dir um mich keine Sorgen. Corpus kümmert sich ausgezeichnet um seine Pensionäre. Ich habe vor, den Rest meiner Tage in einem Lehnstuhl vor mich hin zu dösen. Schau nicht so entsetzt, Liebes. Es ist genau das, was ich mir wünsche.«

Es ist lange her, seit ich mich das letzte Mal von jemandem verabschieden musste. Die Letzte war Tante Claire, die Ärztin und Vorgängerin von Tante Brigid. »Du wirst mir fehlen. Unsere Zeichenstunden werden mir fehlen.«

Onkel Smithy betrachtet mein Gesicht und schüttelt langsam den Kopf. »Dreiundvierzig Jahre habe ich diesem Ort geopfert. Dreiundvierzig Jahre in diesem gottverdammten Dschungel, aber ich bereue keinen Augenblick.«

»Warum nicht?«

»Weil…« Er nimmt meine Hand und sein Händedruck ist für einen so alten Mann erstaunlich kräftig. »... ich mit der Ewigkeit in Berührung kommen durfte. Du bist unsere Hoffnung, Pia. Enttäusche uns nicht.«

Ich habe einen Kloß im Hals und kann deshalb nur nicken. Auch wenn ich ungern so etwas denke, habe ich das Gefühl, als stammten diese Worte nicht von Onkel Smithy, sondern von jemand anders. Nach dem Test heute Morgen passen seine Worte einfach zu perfekt. Aber ich mache ihm keinen Vorwurf. Onkel Smithy war immer nett zu mir und ich werde ihn vermissen.

Die Jeeps sind abfahrbereit. Strauss brüllt den Fahrern zu, dass sie Gas geben sollen, und die Tore schwingen quietschend auf. Seit Laszlo den Anruf erhielt, ist weniger als eine Stunde vergangen.

Die Fahrzeuge donnern mit halsbrecherischer Geschwindigkeit in den Dschungel. Alle, die um das Tor herumstehen, sehen ein wenig benommen aus, als wir den Jeeps nachblicken. Das Dröhnen der Motoren verliert sich schnell. Bereits eine Minute später sind wieder nur noch Vogelgezwitscher und Affengezeter zu hören und Little Cam bleibt nach dem Blitzbesuch aufgewühlt zurück. Gestern Morgen sind sie aus dem Nichts aufgetaucht und jetzt sind sie weg, als seien sie nie hier gewesen.

Jedenfalls fast. Einen kleinen Beweis für ihren Besuch haben sie hinterlassen. Er liegt in meiner Sockenschublade.

Wenn ich an den Test denke, läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Eigentlich sollte ich froh sein, dass Strauss und Laszlo weg sind, doch ich empfinde eine abgrundtiefe Traurigkeit. Wie lange kann ich ihn hinauszögern? Oder sollte ich mir ein Herz fassen und die Sache hinter mich bringen?

Ich versuche den Test von einem rationalen, wissenschaftlichen Standpunkt aus zu sehen. Es ist alles für ein übergeordnetes Wohl. Wer weiß? Vielleicht findet Onkel Sergei beim Untersuchen von Sneezes Zellen einen Impfstoff gegen FIV.

Aber es nützt nichts. Mir wird immer noch schlecht, wenn ich an die Spritze denke, an den Test, an alles, was damit zusammenhängt. Vielleicht hatte Onkel Paolo recht. Vielleicht bin ich noch nicht bereit. Zumindest kann ich keinen Zusammenhang erkennen zwischen dem Töten von Sneeze und meiner Aufnahme ins Immortis-Team. Die Spritze erscheint mir vollkommen unnötig. Wenn ich Onkel Sergei helfen würde, einen Impfstoff zu finden, ergäbe der Test vielleicht einen Sinn. Aber meine zukünftige Arbeit hat absolut nichts mit Ozelots und FIV und Pentobarbital zu tun.

Doch wenn ich den Test nicht schaffe, feuert Strauss Onkel Paolo und womöglich auch noch den Rest des Immortis-Teams. Mich von Onkel Smithy verabschieden zu müssen, war schlimm genug. Ich könnte es nicht ertragen, die anderen auch noch zu verlieren. »Du bist unsere Hoffnung«, hat Onkel Smithy gesagt. Vielleicht haben Onkel Paolo oder Strauss ihn angewiesen, es zu sagen, aber das macht es nicht weniger wahr.

Ich bin so durcheinander, dass ich am liebsten laut schreien würde. Wären diese Corpus-Leute doch nie gekommen! Hätte Onkel Smithy uns doch nicht verlassen! Läge doch nur keine Spritze mit Gift in meiner Sockenschublade! Wäre… hätte… wäre ich doch nur bei Eio! Jetzt in diesem Augenblick.

Es drängt mich mit aller Macht. Ich muss hier weg. Wenigstens für ein paar Stunden. Ich muss den Kopf freibekommen, meine sachliche Denkweise wiedererlangen. Der Zaun um Little Cam scheint sich zuzuziehen, mich zu erdrücken und mir die Luft abzuschnüren, sodass ich nicht mehr atmen kann. Dahinter lockt die Weite des Dschungels.

Ich merke, dass ich als Einzige noch am Tor stehe. Alle anderen sind in ihre Labors oder Wohnbereiche gegangen, wahrscheinlich um über den Corpus-Besuch nachzugrübeln und darüber, was er für die Zukunft von Little Cam bedeutet. Ich mache mich auf die Suche nach Tante Harriet und finde sie in ihrem Labor. Sie sitzt über ein Foto gebeugt am Tisch.

»Tante Harriet?«

Sie strafft die Schultern, dreht sich um und lässt dabei das Foto in ihrer Tasche verschwinden. Ihre Augen sind rot, als habe sie geweint. »Oh, Pia.«

»Alles… okay?« Unsicher bleibe ich in der Tür stehen.

»Natürlich ist alles okay.« Sie fährt sich mit dem Handrücken über die Augen. »Was gibt’s?«

»Ich muss für ein paar Stunden raus. Hast du irgendwelche Ideen außer den Jeeps?«

»Pia…« Sie greift sich ins Haar und schließt die Augen. »Das ist jetzt wirklich kein guter Zeitpunkt. Alle sind völlig fertig wegen dieser ganzen Corpus-Geschichte. Das macht sie unberechenbar. Außerdem haben sie den Druck auf mich erhöht. Bis zum Ende des Jahres wollen sie lebensfähige Klone von unsterblichen Ratten haben. Im Moment habe ich wirklich keine Zeit, dich vom Gelände zu schmuggeln und wieder zurück.« Sie öffnet die Augen und schaut mich erschöpft an. »Es tut mir leid. Warte ein paar Tage, bis sich alles wieder eingependelt hat.«

Einen Augenblick lang zögere ich, dann nicke ich langsam und gehe, ohne zu antworten, den Flur hinunter. Offensichtlich steht Tante Harriet unter genauso viel Stress wie Onkel Paolo.

Gut.

Mir fällt schon selbst etwas ein, wie ich rauskomme.

Ich gehe einmal um das Gelände herum und suche nach Löchern im Zaun. Es gibt keine. Ich sehe sogar Stellen, an denen Onkel Timothy ihn hat verstärken lassen, wahrscheinlich an dem Tag, an dem mein ursprüngliches Fluchtloch entdeckt wurde. Ich werde einen Weg finden. Er muss nur höher liegen.

Der elektrisch geladene Maschendraht endet ungefähr fünf Meter über dem Boden. Die waagerechten Eisenstäbe liegen noch höher. Rein hypothetisch könnte ich am Zaun hinaufklettern, da der Strom mir nichts anhaben kann. Aber wehtun würde es schon und wahrscheinlich käme ich nicht einmal bis zur Hälfte, bevor meine Hände instinktiv loslassen würden. Außerdem wäre zu dem Zeitpunkt bereits der Alarm im Wachraum losgegangen und Onkel Timothys Männer wären innerhalb von Sekunden hier.

Innerhalb von Sekunden.

Der Strom pulsiert alle 1,2 Sekunden durch den Zaun. Das bedeutet, dass ich es – theoretisch – schaffen könnte, wenn ich sehr, sehr schnell wäre. Aber ich bezweifle, dass ich fünf Meter überklettern könnte, selbst wenn ich all meine Kräfte zusammennehme. Wenn ich allerdings nicht die ganzen fünf Meter zu klettern bräuchte…

Ich laufe am Zaun entlang bis zum Werkstattgebäude. Es ist der am weitesten abgelegene Teil von Little Cam… und der am wenigsten gepflegte. Mitten im Gestrüpp steht ein Korallenbaum. Die unteren Äste hängen dicht über dem Boden und sind weit ausladend. Seine vielen leuchtend roten Blüten gleichen Tukanschnäbeln.

Perfekt.

Ich klettere wie ein Affe, indem ich die Füße genauso einsetze wie die Hände. Als ich auf derselben Höhe bin wie das obere Ende des Maschendrahts, halte ich inne. Ich könnte noch höher klettern und die Stangen über dem Maschendraht anvisieren, aber sie sind zu glatt. Wahrscheinlich würde ich abrutschen und sieben Meter tief fallen. Ich werde springen müssen, mich am Maschendraht festkrallen, hinüberklettern und auf der anderen Seite hinunterspringen, und das alles in weniger als 1,2 Sekunden.

Der Ast, auf dem ich kauere, ist ziemlich dick. Ich halte mich mit beiden Händen fest, schließe die Augen und atme möglichst langsam. Und lausche.

Onkel Paolo hat mein Gehör unzählige Male getestet, aber noch nie habe ich mich so darauf konzentriert. Alle irrelevanten Geräusche blende ich aus – kreischende Kapuzineräffchen, der Wind in den Blättern, das Schlagen meines eigenen Herzens – und konzentriere mich auf das leiseste aller Geräusche: das kaum wahrnehmbare Sirren der Elektrizität, die durch den Zaun pulsiert. Anfangs ist es lediglich ein monotones Rauschen, und wenn ich den Kopf auch nur einen Zentimeter drehe, höre ich es gar nicht mehr. Doch je länger ich lausche, desto deutlicher höre ich das Pulsieren. Sirr… sirr… sirr… Mein Gehirn prägt sich den Rhythmus ein. 1,2 Sekunden, wie ein Uhrwerk.

Ich öffne die Augen, lausche aber weiter auf das Sirren. Ich spanne sämtliche Muskeln an, warte auf den richtigen Augenblick – und springe.