19. Die Zukunft

 

Einige Tage später war die Beerdigung. Der Sergeant hatte seit den Ereignissen im Haus von Sebastian und Peter noch kein Wort gesprochen. Er aß nicht, er schlief nicht, und er nahm nicht am Leben teil. Nigel kümmerte sich um den Freund und hatte bisher nicht das Wort an ihn gerichtet.

Dann, eines Abends, brach Nigel das Schweigen: »Thomas, eines Tages, da wirst auch du vielleicht sterben, aber nicht jetzt. Angus hat die Waffe untersucht. Es gibt nur einen Grund, warum sich der Schuss erst später gelöst hat, und der ist, dass du weiterleben musst.«

Damit zog er eine Flasche aus seiner Tasche und schenkte mit der Bemerkung »Von Angus« zwei Gläser ein. Sergeant Milton nahm einen Schluck, dann endlich kam die Trauer, die Tränen und die Wut. In Nigel hatte er einen guten Zuhörer gefunden. Als er am nächsten Morgen erwachte, fühlte er immer noch diesen tiefen Schmerz, aber er hatte nicht mehr den Wunsch, ihn zu unterdrücken. Nein, er war jetzt bereit, damit zu leben. Es würde leichter werden mit der Zeit, das wusste er. Als er nach unten kam, fand er Nigel schnarchend auf dem Sofa.

Vorsichtig weckte er ihn: »Du wirst Ärger kriegen, wenn du nach Hause kommst.«

Nigel, sichtlich verkatert, aber überglücklich, den Freund frisch gewaschen und ausgehfertig zu sehen, strahlte: »Mach dir darüber keine Gedanken, wenn es um dein Wohlergehen geht, dann habe ich Narrenfreiheit. Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Sorgen sich alle um dich machen. Deshalb sollten wir kurz mal zur Wache Süd gehen. Es wird nämlich langsam anstrengend, immer Berichte über deinen Gesundheitszustand abzugeben.«

Der Sergeant war verblüfft.

Nigel sprach weiter. »Der Doktor und Frank, die gehen ja noch...«

Der Sergeant stutzte: »Frank?«

Nigel war ein bisschen verlegen: »Na ja, nach der ganzen Sache und so – er ist schon in Ordnung ... Auf jeden Fall stellen die nicht so viele Fragen, aber die Damen!« Nigel stöhnte. »Es wird höchste Zeit, dass du dich wieder mal zeigst.«

Der Sergeant dachte an die Wache Süd. Er wollte eigentlich mit niemandem über Katie sprechen. Andererseits fühlte er sich dort wohl, vielleicht wäre es keine schlechte Idee, sich zurückzumelden. Die Arbeit könnte ihn ablenken.

Von seinen Befürchtungen sagte er nichts, stattdessen fragte er Nigel: »Welche Damen?«

Nigel grinste und zählte an den Fingern ab: »Also Anne natürlich, dann Misses Wong, dann Sheriff Rose, dann die weiblichen Sergeants ...«

Nigel wollte noch weitere aufzählen, aber der Sergeant unterbrach ihn: »Schon gut, ich habe verstanden. Aber ich weiß nicht recht.«

Nigel hatte noch einen Trumpf im Ärmel. Er würde den Sergeant an seiner beruflichen Neugier fassen, deshalb formulierte er seine Worte sorgfältig: »Na ja, außerdem könnten die vielleicht Hilfe gebrauchen, nachdem der Leichnam verschwunden ist.«

Dann tat Nigel so, als würde er seine Schuhe suchen. Sein Plan ging auf, der Sergeant schenkte Nigel seine ungeteilte Aufmerksamkeit: »Welcher Leichnam?«

»Ach, das habe ich dir gar nicht erzählt?!«

Der Sergeant verschränkte jetzt die Arme vor der Brust: »Übertreib es nicht, Mister O’Brian!«

Nigel fuhr fort: »Schon gut, der Leichnam von Rabea ist verschwunden. Es war an dem Tag ...« Erst zögerte er, dann überlegte er es sich anders – Dinge nicht auszusprechen, machte keinen Sinn. »Es war an dem Tag an dem Katie starb. Keiner weiß, was da passiert ist. Doktor Masters ist fast kollabiert. Keiner hat etwas bemerkt. Zeugenaussagen – Fehlanzeige. Außer einem Sergeant, der meinte, er hätte zwar nicht den Leichnam gesehen, aber Rabea, wie sie das Gebäude kurz vor Mitternacht durch einen Seitenausgang verlassen hätte.«

»Was? Er hat sie gesehen?«

Nigel zuckte mit den Schultern: »Er war sich nicht sicher, könnte den Tag verwechselt haben. Außerdem hat er sie nicht von vorne gesehen. Er nahm nur an, dass sie es war.«

»Das klingt allerdings wahrscheinlicher. Aber warum sollte jemand ihren Körper stehlen?«

»Tja, was weiß ich, wäre wohl besser, du fragst deine Ermittlerkollegen.«

 

Seit den schrecklichen Ereignissen waren fast sechs Monate vergangen. Anne blickte vom Hügel herunter auf die Gemeinschaft Süd. Nigel folgte ihrem Blick.

»Denkst du, du bist wirklich so weit?«

Anne nickte und strahlte ihn an. Eine Träne kullerte über ihre Wange: »Unbedingt, aber ein Abschied bleibt eben ein Abschied.«

Nigel steuerte sein Pferd näher an ihres und streichelte ihr über das Gesicht: »Es wird dir im Norden gefallen.«

Anne warf lachend den Kopf zurück und sagte: »Gefallen? Ich werde fürchterlich frieren.«

Dann machten sie sich auf den Weg. Anne hatte beschlossen, mit Nigel in den Norden zu gehen. Es war an der Zeit weiterzuziehen. Die Dinge in der Gemeinschaft Süd waren soweit geklärt, und sie wollte jetzt Nigels Welt kennenlernen. Sie dachte noch einmal an die letzten Monate.

Der Große Rat hatte Frank Wall gebeten, das Amt des Präsidenten zu übernehmen. Er hatte angenommen – unter der Bedingung, dass man künftig den Titel »Präsident« streichen und durch den Begriff »Sprecher« ersetzen würde. Sheriff Rose hatte dafür das Amt des Obersten Sheriffs übernommen. Sehr zur Freude des neuen Chief-Sergeants Thomas Milton.

Anne dachte an den gestrigen Abend. Sebastian und Peter hatten das Jubiläum ihrer Beziehung gefeiert. Die Party war sehr schön gewesen. Natürlich war es auch die Abschiedsfeier für Anne gewesen, aber das hatte keiner ausgesprochen. Anne hatte es so gewollt. Eine offizielle Abschiedsfeier wäre ihr wie eine Beerdigung vorgekommen.

Sie hatten lange beisammen gesessen. Der Doktor, Frank, Misses Wong, Angus der Archivar, Nigel und auch Sergeant Milton hatte sich ihnen angeschlossen. Der Sergeant hatte neben Sheriff Rose gesessen.

Als sich Anne von Madeleine Rose verabschiedet hatte, hatte sie ihr die Hand gedrückt und gesagt: »Sie werden doch gut auf Thomas aufpassen?«

Madeleine war leicht errötet und hatte gestottert: »Also, natürlich, aber da ist nichts ...«

Anne hatte gelächelt, die Frau umarmt und ihr ins Ohr geflüstert: »Oh doch, da ist etwas, und das ist sehr schön!«

Anne hielt ihr Pferd an – sie hatte Emil mitnehmen dürfen – und drehte sich doch noch einmal um. Vor sich sah sie ihre alte Heimat.

Anne musste lächeln. Der Fremde mit dem gespiegelten Gesicht war nicht mehr aufgetaucht, obwohl Anne manchmal den Eindruck hatte, sie würde ihn in einer Menschenmenge sehen. Außerdem dachte Anne gerne an das Gewissenswesen. Es war ihr leider nicht mehr erschienen. Nur einmal, da war sie morgens aufgewacht und hatte geglaubt, sie würde den Duft von Vanille wahrnehmen und ein leises »Danke« hören. Falls es existieren würde, dann wäre es jetzt bei ihr und würde sie in die Gemeinschaft im Norden begleiten. Und falls das Gewissenswesen ein Fantasiegebilde wäre, dann würde Anne die Erinnerung daran mitnehmen.

Dann legte sie die Stirn in Falten. War wirklich alles ausgestanden? Sie dachte an die fehlenden fünf Kapseln und den verschwundenen Leichnam von Rabea. Sie hatten keine weiteren Spuren gefunden. Auch im Haus und den Unterlagen von Doktor Calliditas gab es keine Hinweise auf eine Verbindung zu Paul Grey. Die restliche Munition, die Rabea damals auf der Waldlichtung bei der Leiche von Joseph eingesteckt hatte, fanden sie nicht in Rabeas Haus. Wahrscheinlich hatte sie die übriggebliebenen Patronen, nachdem sie die Waffe erneut für Karl Hobnitz geladen hatte, entsorgt.

In Mildreds Wohnung dagegen konnten sie den größten Teil der gestohlenen Munition sicherstellen. Vermutlich hatte Mildred die »Antiburnout-Kapsel« damals vor dem Diebstahl der Munition eingenommen, um so schon einmal deren Wirksamkeit zu testen. Wenn das Ganze nur nicht so tragisch gewesen wäre. Anne war sich heute sicher, dass es ihnen, wenn Mildred ihr alles erzählt hätte, zusammen gelungen wäre, Rabea zu überführen. All die Umwege von Mildred waren so sinnlos gewesen. Sie dachte an Heribert Bux, der einer der Gründe dafür gewesen war, dass Mildreds Pläne gescheitert waren. Natürlich hatte es zwischen ihm und den Lordens oder Karl Hobnitz keine Verbindungen gegeben. Bux hatte den Alarm nur deshalb nicht ausgelöst, um seinen eigenen Interessen zu folgen.

Anne konnte sich noch gut an den Tag erinnern, den Tag, an dem drei Frauen gestorben waren, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Zumindest auf den ersten Blick. Rabea, Mildred und Katie. Alle drei hatten Verbrechen begangen, alle drei waren vorerst der Einäscherung entkommen, und alle drei hatten dann doch den Tod gefunden. Keiner hatte etwas Auffälliges an ihnen bemerkt. Ihre Ängste und Sorgen waren sogar ihren nächsten Angehörigen und Freunden verborgen geblieben. Wie einsam mussten sie gewesen sein ...

Und obwohl oder gerade weil jede von ihnen in ihrem Schmerz gefangen war, hatten sie diesen Schmerz an andere weitergeben können. Alle drei waren bereit gewesen, das Leben eines Menschen auszulöschen. Rabea und Mildred hatten Morde begangen. In Katies Fall war es etwas anderes. Sie war sehr krank gewesen. Wie wohl ihr Gewissenswesen ausgesehen hatte? Anne erinnerte sich an die Gespräche mit Doktor Masters. So kam sie zu dem Schluss, dass Katies Gewissenswesen nicht vollständig entwickelt gewesen war. Es hatte vermutlich eher dem eines kleinen Kindes geähnelt, das die Tragweite seiner Handlungen noch nicht überblicken konnte.

Schließlich hatte Katie wie ein trotziges Kind versucht, diejenigen zu bestrafen oder aus dem Weg zu schaffen, die ihrer Meinung nach für ihren Schmerz und ihr Unglück verantwortlich waren. Da war ihr Ehemann gewesen, der sich nicht von den Ermittlungen hatte zurückziehen wollen. Dafür hatte sie ihm in der Felsenbucht aufgelauert und ihn niedergeschlagen. Dann hatte es Frank Wall gegeben, den sie dafür verantwortlich gemacht hatte, dass ihr Mann so viel arbeiten musste. Der Sheriff hatte ihrer Meinung nach Thomas in ständige Gefahr gebracht, also hatte sie versucht, ihn zu vergiften. Die Ärzte hatten später die Colchizin-Vergiftung bestätigt. Allerdings erst, nachdem sie gewusst hatten, nach welchem Gift sie hatten suchen müssen.

Dann war da noch Anne selbst gewesen. Katie hatte in ihr eine Bedrohung gesehen, da sie ständig Zeit mit Sergeant Milton verbracht hatte. Vermutlich hatte Katie spät abends die Spielwelt verlassen, um ihren Mann zu beobachten. Für sie unerwartet, hatte sich Sergeant Milton dann nach Mitternacht auf den Weg gemacht, um Frank Walls Wohnung zu durchsuchen. Sie war ihm gefolgt und hatte ihn dann sicher später auch, gemeinsam mit Anne, das Krankenhaus betreten sehen. Als Anne alleine aus dem Fenster an der Rückseite wieder herausgeklettert war, hatte sich Katie eine Gelegenheit geboten, die unliebsame Rivalin zu beseitigen.

Ja, Katies Gewissen hatte sich nicht normal entwickelt. Das war eine Erklärung, die Anne zwar traurig machte, aber die auch zu allem anderen passte, was Anne über das Gewissen wusste. Und das würde auch den Theorien von Doktor Masters nicht widersprechen. Auch er war der Meinung, dass Katie die Realität zeitweise nicht wie eine gesunde Erwachsene wahrnehmen konnte. Eine Krankheit, die vielleicht schon lange in ihr geschlummert hatte und dann durch den Schock über die Kinderlosigkeit ausgebrochen war. Katies Handeln war irrational geworden. Es war ihr nicht mehr gelungen, richtig und falsch auseinander zu halten. Anne war um Sergeant Miltons Willen dankbar dafür, dass Katies Mordversuche gescheitert waren. Das würde es ihm leichter machen, seinen Frieden zu finden.

Anne grübelte weiter. Seit es die Menschheit gab, gab es Motive wie Rache und Angst, die die Menschen einen Mord begehen ließen. Wann geschah ein Mord? Wenn die Boshaftigkeit über das Gewissen siegte? Hatte so das System vor den Aschentagen funktioniert? Die Einäscherungen hatten das aufgehalten. Das Burnout-Virus hatte das ermöglicht.

Anne dachte an die Worte von Rabea. Sie hatte von einem Katalysator gesprochen, der den Burnout-Virus verstärkt hatte. Anne hatte sich auch damals schon gefragt, ob das die Boshaftigkeit hätte sein können. Wäre es möglich, dass beide Theorien nebeneinander bestehen konnten? Anne hatte das für sich schon längst entschieden. Für sie standen ihr Glaube an das Gewissenswesen und die Boshaftigkeit nicht im Widerspruch zu der wissenschaftlichen Erklärung der Einäscherungen, deren Ursache das Burnout-Virus war. Viel mehr ergänzten sich beide Theorien.

Anne seufzte. Frank Wall hatte noch am gleichen Tag, an dem die drei Frauen ihren Tod fanden, abends eine Radiodurchsage gemacht. Die Menschen in aller Welt waren überrascht gewesen, eine neue Stimme zu hören. Darauf war der Schock gefolgt. Die Bewohner der Neuen Welt waren mit der schrecklichen Wahrheit konfrontiert worden. Es hatte kein langes Überlegen gegeben. Es sollten keine Informationen zurückgehalten werden. Die Menschen hatten alles erfahren müssen.

Kurze Zeit hatte es so ausgesehen, als wäre die Welt gelähmt. Dann war das geschehen, vor dem Anne sich am meisten gefürchtet hatte. Die Zahl der Einäscherungen hatte in den nächsten drei Wochen rapide zugenommen. Sowohl Überlebende als auch Neugeborene schienen eine Art Sehnsucht nach bösen Taten gehabt zu haben. Offensichtlich hatten sie angenommen, dass die Einäscherung nicht mehr funktionieren würde. In dieser Zeit hatte Anne ihren Glauben an die Menschheit verloren. Eine Wunde, die nur langsam verheilte. Es war also so einfach: Der Mensch konnte nur unter Zwang ein guter Mensch sein. Ohne den Zwang, ohne die Einäscherung, hatte der Mensch keinerlei Moralempfinden.

Nigel hatte sie damals auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, indem er gefragt hatte: »Hast du denn geglaubt, alle Menschen sind gut?«

Er hatte natürlich recht gehabt. Wie auch damals bei ihrem Streit im Krankenhaus, als er gesagt hatte, dass man keinen Reset-Knopf drücken kann, um die Welt neu zu starten.

Dieses Mal hatte er aber auch noch – ganz gegen seine Gewohnheiten, die Dinge eher pessimistisch zu sehen – etwas anderes zu ihr gesagt: »Anne, sieh dir die Welt genau an, und sag mir, wie viele Menschen sind wirklich schlecht?«

Und auch damit hatte er recht gehabt. Denn viele der Menschen, vor allem aber die Neugeborenen, sahen die jüngsten Ereignisse als Bestätigung dafür, ihren bisherigen Lebensstil weiterzuführen. Für sie war die logische Konsequenz der ganzen Tragödie, künftig noch mehr an die guten Werte zu glauben, danach zu leben und daran festzuhalten.

Frank hatte es in einer seiner Radiodurchsagen so beschreiben: »Die Neue Welt ist verletzt worden, aber die Wunden werden heilen. Wir haben eine schlimme Erfahrung gemacht, aber das gehört zum Erwachsenwerden dazu.«

Das machte Anne zwar Mut, aber die Skepsis blieb. Zu sehen, dass die Einäscherungen weiterhin funktionierten, brachte etwas Sicherheit, aber die Tatsache, dass die Welt ohne diese in ihre alten Muster zurückfallen würde, schmerzte. Konnten die Menschen denn überhaupt dazulernen? In diesem Zusammenhang trugen die fehlenden fünf Kapseln nicht gerade zur Entwarnung bei. Zwar war es gut möglich, dass Paul Grey sie vernichtet hatte, aber dafür hatten sie nun mal keine Bestätigung gefunden.

Und dann das Verschwinden von Rabeas Leichnam. Die Ermittler hatten keine Spuren gefunden. Die einzige Erklärung war, dass irgendein getreuer Gefolgsmann vom Schlage eines Karl Hobnitz Rabeas Körper an diesem Abend aus dem Forschungszentrum gestohlen hatte. Der Dieb war jedenfalls nicht eingeäschert worden. Vielleicht, weil er nur im guten Glauben gehandelt hatte. Wie schlimm konnte es sein, Rabea ein ordentliches Begräbnis zu ermöglichen, abseits von Skalpellen, Mikroskopen und Laboren?

Anne und die anderen hofften inständig darauf, dass es sich um solch eine arme Seele gehandelt hatte, die durch die Verehrung für Rabea blind für die Realität geworden war. Der Eindringling hatte das Chaos, das an diesem Tage geherrscht hatte, ausgenutzt und war so unbemerkt in die Wache Süd eingedrungen. Es wäre zumindest eine Erklärung gewesen. Doktor Masters hatte getobt, als die Leiche von Rabea verschwunden war, er hatte so große Pläne für seine Forschungen gehabt. Aber daran konnte man jetzt nichts mehr ändern. Der Sergeant, der anfangs noch gemeint hatte, dass er Rabea selbst dabei gesehen hätte, wie sie aus der Wache Süd heraus marschiert wäre, hatte seine Aussage zurückgezogen. Er war sich mittlerweile sicher, dass er den Tag verwechselt hatte. Anne hatte trotzdem ein ungutes Gefühl. Vielleicht würde ihr der räumliche Abstand helfen, ein wenig zur Ruhe zu kommen und nicht mehr überall Gespenster zu sehen.

Sie hatte sich auch lange mit Frank Wall unterhalten. Dieser Abschied war besonders schwer gewesen. So viele Jahre hatten sie sich fast täglich gesehen. Frank Wall, der sich noch während der Traurigen Zeit so grundlegend geändert hatte. Der noch vor den Aschentagen sein Gewissen wiedergefunden hatte. Er hatte eine zweite Chance bekommen und genutzt. Und er würde auch die »dritte Chance«, wie er ihr beim Abschied zugeflüstert hatte, nutzen.

Sergeant Milton hatte Franks alten Pass längst verbrannt, sodass dieses Kapitel für immer abgeschlossen war. Als sie und Frank sich ein letztes Mal umarmt hatten, war zwischen ihnen eine ganz besondere Nähe gewesen. Sie würde ihn und die anderen vermissen. Anne dachte an Sheriff Rose, die ihre Aufgaben ganz wunderbar erfüllte und an Sergeant Milton.

Der bemerkenswerte Thomas Milton. Es gab wirklich keinen Menschen, dem Anne mehr Achtung und Respekt gegenüber empfand als Thomas Milton, und deshalb hoffte sie inständig, er würde sein Glück finden. Sie hatte nie mit ihm über den Tag in Sebastians und Peters Haus gesprochen. Der Tag, an dem er bereit gewesen war, sich das Leben zu nehmen. Der Tag, an dem Katie gestorben war. Nigel und Angus hatten die Waffe von Sergeant Milton untersucht. Sie hatten keine Erklärung dafür, dass sich der Schuss erst später gelöst hatte.

Der alte Archivar hatte mit den Tränen gekämpft, als ihm Nigel erzählt hatte, was passiert war: »Siehst du, ich wusste, dass diese Waffe den Jungen beschützen würde!«

Dann hatte ihm seine Stimme den Dienst versagt. Sergeant Milton war bereits zu Lebzeiten eine Legende. Das lag nicht nur daran, dass er als einziger Neugeborener zu einem Überlebenden geworden war, sondern vor allem an seinen Taten. Anne hoffte sehr, dass seine Uneigennützigkeit und vor allem auch seine Ehrlichkeit vielen jungen Neugeborenen als Vorbild dienen würden.

Sie kannte keinen einzigen Überlebenden, der ihm das Wasser hätte reichen können. Sergeant Milton würde ein hervorragender Chief-Sergeant sein. Viel besser, als Anne es jemals hätte werden können.

Ob sie je wieder als Ermittler arbeiten wollte, das wusste Anne nicht. Man musste abwarten, was die Zukunft bringen würde. Anne sah zu Nigel und war glücklich.

 

Als Chief-Sergeant Milton an diesem Morgen in sein Büro kam, blickte er überrascht auf seinen Schreibtisch. Sein neuer Sergeant, es war der Sergeant, der damals Wache vor Annes Zelle gehalten hatte, begrüßte ihn aufgeregt: »Das Paket ist vom Chief-Sergeant, also vom ehemaligen Chief-Sergeant.«

Chief-Sergeant Milton musste lächeln. Anne hatte sich für den Mann eingesetzt, sie hatte seine Loyalität damals im Zellentrakt nicht vergessen, und Thomas Milton freute sich darauf, mit dem Mann zusammenzuarbeiten. Dann näherte er sich dem Paket.

Es war in dunkles Papier eingewickelt, ziemlich groß, und darauf lag ein Zettel: »Lieber Thomas, alles Gute als neuer Chief-Sergeant! Anne«. Darunter hatte Anne ein grinsendes Gesicht gemalt.

Thomas Milton öffnete vorsichtig das Papier. Als er das geschnitzte, hölzerne Ungetüm vor sich sah, stutzte er kurz, dann fing er an zu lachen. Sein Sergeant trat näher an den Tisch heran. Erst schaute er auf Chief-Sergeant Milton, dann auf die Holzfigur. Offensichtlich schien sich Thomas Milton sehr über das Geschenk zu freuen. Er wurde jetzt von einem regelrechten Lachkrampf geschüttelt, und dicke Tränen kullerten ihm über die Wangen. Der Sergeant freute sich für seinen neuen Vorgesetzten. Alle auf der Wache Süd wussten, dass Thomas Milton schwere Zeiten hinter sich hatte. Trotzdem, was für ein eigenartiges Geschenk …

Er sah erneut zu Chief-Sergeant Milton und konnte seine Verwunderung nicht länger verbergen, als er ungläubig fragte: »Ein Hirsch?«

 

 

ENDE