18. Entscheidungen

 

Schweigend standen sie in Mildreds Arbeitszimmer. Die Tür zum Sheriff-Büro, in dem jetzt nur noch das Aschenhäufchen von Mildred Grey lag, hatten sie zugezogen. Nigel hatte ein Fenster geöffnet. Aber es half nichts. Der Geruch der Einäscherung klebte förmlich in ihren Nasen.

Doktor Masters suchte Annes Blick, er musste unbedingt mit ihr sprechen. Anne beachtete ihn nicht. Stattdessen zog sie das Foto, das sie in Maries Wohnung gefunden hatten, aus der Tasche und drehte es hin und her.

Als sie sprach, klang es, als würde sie ein Selbstgespräch führen: »Paul hat es für mich hinterlegt. Aber vielleicht hat ihm das Notariat auch als Versteck gedient. Er hätte selbst jeder Zeit bequem Zugriff auf das Foto gehabt. Einen ›Letzten Brief‹ bekommt sein Verfasser immer wieder vom Notar ausgehändigt.«

Der Sergeant trat näher an sie heran. Auch er betrachtete das Foto: »Was bedeutet diese Weltkugel mit den Kreuzen?«

Anne zuckte mit den Schultern. Es fiel allen schwer, Mildred im Nebenzimmer nicht zu erwähnen. Gleichzeitig fehlten den Anwesenden dafür aber auch die Worte.

Nigel nahm Anne das Foto aus der Hand: »Das ist die Frage: unwichtige Kritzelei oder etwas von Bedeutung?«

Anne sah Nigel an. Sie war wütend auf ihn. Diese Geheimniskrämerei mochte sie nicht. Allerdings hatte sie nicht die geringste Lust, mit ihm zu streiten. Das Thema Marie White war für sie erledigt. Dafür schien es Sheriff Rose zu interessieren. Sie hatte ihre erste Einäscherung gesehen und war geschockt. Es war etwas anderes, es zu sehen, als davon zu lesen. Ihr wurde übel, wenn sie nur daran dachte. Allerdings wollte sie keinesfalls die Fassung verlieren. Die anderen schienen alle so abgebrüht. Sie riss sich zusammen. Frank Wall hatte ihr schon das Naheliegendste abgenommen. Er war in das nächste Büro gegangen und hatte die Entfernung des Aschenhäufchens veranlasst. Außerdem hatte er einen Sergeant zu den Büros des Großen Rates geschickt. Der sollte das Dienstbuch einsehen.

Sheriff Rose hatte ein schlechtes Gewissen, Frank Wall war immer noch krank. Er lief schlecht und stützte sich auf einen Stock. Eigentlich müsste er zurück ins Krankenhaus. Sie musste sich zusammenreißen und ihre Aufgaben übernehmen. Das war das Mindeste, was sie tun konnte.

Mit fester Stimme stellte sie deshalb ihre Frage: »Wer hat denn nun in Marie Whites Wohnung alles so inszeniert, dass es nach Mord aussah?«

Sergeant Milton und Anne antworteten ihr nicht.

Nigel sah von einem zum anderen, dann blickte er zu Sheriff Rose: »Das war ich.«

Sheriff Rose war so überrascht, dass sie ihn einfach mit offenem Mund anstarrte. Dann fiel ihr auf, wie unprofessionell sie wirken musste. Aber Nigel schien das nicht zu beachten. Er räusperte sich und gab seine Erklärung ab. Er ging noch nicht einmal in eine Verteidigungsposition.

Nein, er erstattete lediglich Bericht: »Als ich früh morgens in der Spielwelt ankam, fand ich Marie auf der Straße. Die Rosestreet ist eine abgelegene Ecke, deshalb hatte wohl vor mir noch niemand Marie entdeckt. Sie war tot, und das war ein Schock für mich. Ich hatte dafür nur eine Erklärung, und das war Selbstmord. Marie war wie ein Kind. Sie war in vielen Dingen naiv. Dann dachte ich an den Brief, den sie mir geschickt hatte. Sie hatte einen Mann erwähnt. Einen Mann, den sie liebte. Ich befürchtete, dass er ihr das Herz gebrochen und sie sich deswegen das Leben genommen hatte. Ich ließ den Leichnam von Marie auf der Straße zurück, ging in ihre Wohnung und fand den Abschiedsbrief. Ich verfluchte dieses Schwein. Wie hatte er ihr das antun können? Er sollte keinesfalls ungestraft davonkommen.

Deshalb kam ich auf die Idee den vermeintlichen Selbstmord zu vertuschen. Damit wäre es unklar gewesen, wie Marie sich von ihrem Balkon hätte stürzen können. Ich dachte damals nicht daran, dass ich eine Morduntersuchung auslösen würde. Ich wollte lediglich, dass es überhaupt eine Untersuchung geben würde. Idealerweise wäre man dabei auf ihren Liebhaber gestoßen. Derjenige, der Marie so behandelt hatte, hätte sich erklären müssen. Er wäre mit ihrem Tod konfrontiert worden. Und vor allem, er wäre mit mir konfrontiert worden. Also vernichtete ich ihren Abschiedsbrief und arrangierte den Balkon so, dass ein Selbstmord als Todesursache ausschied. Über mögliche Konsequenzen habe ich nicht weiter nachgedacht, und später gab es keinen richtigen Zeitpunkt mehr, die Dinge klarzustellen.

Dann wartete ich ab. Ich habe mich erst gegen Mittag im Hotel eingemietet und so getan, als wäre ich eben erst angekommen. Unglücklicherweise waren die Sergeants vor Ort, die Marie nach mir fanden, nicht in der Lage, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Sie blieben bei Selbstmord oder Unfall. Ich hatte mich bereits damit abgefunden, als ich die Radiodurchsage hörte. Die Meldung von Karl Hobnitz und der verspäteten Einäscherung stellte eine Möglichkeit dar, Maries Tod doch noch untersuchen zu lassen. Deshalb ging ich zur Wache Süd, um mit Anne zu sprechen. Ich behauptete, ich wäre am Vortag gegen Mittag angekommen und so weiter ...«

Er sah zu Anne, und sie erwiderte seinen Blick. »Es war nicht richtig, aber wäre ich an diesem Abend nicht in die Wache gekommen, hättet ihr die Ermittlungen vielleicht eingestellt und nie erfahren, was wirklich mit den Lordens passiert ist. Die Verbindung von Marie zu Dave Lorden wäre unentdeckt geblieben, und Maries Tod wäre ebenfalls nicht aufgeklärt worden ….«

Dann zögerte er. »Und ich hätte dich nie getroffen ...«

»Oh, Nigel!«

Diese Reaktion kam nicht, wie erwartet, von Anne, sondern von Sergeant Milton, der die Hände in die Hüften stemmte und sich kopfschüttelnd vor seinem Freund aufbaute.

Die Stimme des Sergeants ließ eine Spur von Humor vermuten, als er sprach: »Wie kann man nur so kompliziert sein?«

Sowohl Doktor Masters als auch Madeleine Rose mussten schmunzeln. Die Szene hatte wirklich etwas Komisches, denn die zwei Männer wirkten für einen Moment wie ein Pärchen. Sheriff Rose sagte, was alle dachten: »Mister O’Brian, Sie hätten das sagen müssen! Sie können doch nicht einfach unsere Ermittlungen manipulieren, um ihrem persönlichen Verlangen nach Vergeltung, das ich, nebenbei gesagt, durchaus verstehen kann, Ausdruck zu verleihen.«

Dann blickte sie auf seine gerade heilende Nase: »Ich wäre an Ihrer Stelle künftig etwas vorsichtiger mit solchen Unternehmungen.«

Natürlich war das Verhalten von Nigel O’Brian unentschuldbar, aber in Anbetracht dessen, was sie die letzten Stunden erfahren hatte, schien jedes weitere Wort der Maßregelung übertrieben. Madeleine war sich ziemlich sicher, dass Frank Wall die Sache ähnlich sehen würde.

Sheriff Rose beschäftigte noch eine andere Frage: »Und wer hat die Akten zum ›Bäcker-Fall‹ vernichtet? Ich meine, wenn Rabea das gemacht hat, warum hat sie dann vor 48 Jahren das Exemplar für die Enzyklopädien unterschlagen, im Computer die Akte aber erst jetzt gelöscht? Und wann hat sie dann die Papierakte vernichtet?«

Anne sah nervös zu Sheriff Rose. Darauf hatte sie sich noch keine Antwort überlegt. Nigel, der noch von seinem schlechten Gewissen geplagt war, beobachtete Anne. Er bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. Anne hatte sich gut im Griff, ihre Reaktion hätte man allenfalls als Unschlüssigkeit deuten können, aber Sergeant Milton war erkennbar in Panik.

Nigel kniff die Augen zusammen und dachte: »Sieh an, sieh an, die beiden haben etwas zu verbergen.«

Annes Antwort bestätigte ihm das zusätzlich: »So etwas ist im Nachhinein immer schwer zu sagen«, war ihr ganzer Kommentar.

Jetzt wusste Nigel, dass irgendetwas im Argen lag. Anne begnügte sich nie mit solchen Antworten. Er blickte wieder zu seinem Freund, dem Sergeant. Der arme Thomas Milton blickte verlegen zu Boden. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Nigel hätte wahrscheinlich innerhalb von zwei Minuten die Wahrheit aus ihm herausgelockt. Der Sergeant hätte es nicht fertiggebracht, zu lügen.

Nigel O’Brian lehnte sich entspannt zurück. Er wollte gar nicht mehr wissen, was es mit dem Verschwinden dieser »Bäcker-Akte« auf sich hatte. Er war kein Narr und hatte eine leise Ahnung. Sollten die beiden ihr Geheimnis für sich behalten, wenn er es recht bedachte, war das sogar ein Glück für ihn. Anne würde jetzt sicher nicht mehr allzu hart mit ihm wegen der Sache mit Marie ins Gericht gehen. Er würde sie nicht nach der Akte fragen, und sie würde ihm dafür keine Vorwürfe machen. Auf Nigel O’Brians Gesicht zeichnete sich ein breites Grinsen ab. Er sah zu Anne, die offensichtlich seine Gedanken lesen konnte. Sein Grinsen wurde noch unverschämter, und er zwinkerte ihr zu, worauf sie ihm einen »Übertreibe es nicht«-Blick zu warf.

Sheriff Rose hatte nicht auf Nigel geachtet und schloss das Thema ab, indem sie sagte: »Gut, letztendlich ist das auch nicht mehr wichtig.«

Sergeant Milton atmete hörbar aus.

Wieder wollte sich Doktor Masters an Anne wenden, wurde dieses Mal aber von Frank Wall unterbrochen, der die Tür öffnete und atemlos ins Zimmer kam: »Bux, es war Heribert Bux.«

Doktor Masters stieß einen Pfiff aus, um sich gleich darauf die Hand vor den Mund zu halten, da er wusste, dass die Pfeiferei Frank Wall nervte.

Der Sergeant sprach als Nächster: »Dann hat er die Mitteilung von Mildred zurückgehalten in der Hoffnung, Rabea würde etwas zustoßen und ihr Amt stände dann zur Verfügung. Deshalb wurde kein Alarm ausgelöst. Deshalb erschien niemand auf der Waldlichtung. Damit erklärt sich auch das Verhalten von Mister Bux bei der Anhörung. Er wollte den Chief-Sergeant verurteilen lassen und Rabea sollte abgesetzt werden. Jetzt wird auch klar, warum er eingeäschert wurde. Es war nicht allein sein Ausbruch bei der Verhandlung. Nein, der hat lediglich das Fass zum Überlaufen gebracht. Erst verhindert er den Alarm und geht damit das Risiko ein, dass Menschen zu Schaden kommen. Und dann, trotz der tragischen Ereignisse, die daraufhin folgen, hält er an seinem Ziel fest, Präsident zu werden. Er hat es mit seiner Machtgier und seinem rücksichtslosen Egoismus übertrieben. Wie hatten Sie noch gesagt, Doktor? Durch stetiges Handeln an der Grenze der Menschlichkeit wird irgendwann die ›böse‹ Genkombination erreicht, die zur Einäscherung führt. Bei Heribert Bux war dieser Zeitpunkt während der Anhörung gekommen ...«

Der Sergeant brach ab und Doktor Masters nickte zustimmend.

Annes Stimme klang eigenartig, als sie jetzt sprach. Man merkte ihr an, dass sie der Tod von Mildred schwer getroffen hatte: »Bei Bux hat das System funktioniert. Bei Rabea hat es versagt und bei Mildred ... Wieso wurde Mildred eingeäschert?«

Sie blickte in Doktor Masters Richtung.

Der hatte sich selbst schon diese Frage gestellt und eine ungefähre Idee: »Ich denke das Gegenmittel funktioniert nicht einwandfrei. Wenn ich mich richtig erinnere, dann hat sich Rabea das Gegenmittel gespritzt, bevor das Virus freigesetzt wurde. Mildred hat es in Form einer Kapsel zu sich genommen, und zwar 260 Jahre, nachdem das Virus die Welt infiziert hat. Das ist eine lange Zeit. In dieser Zeit kann so einiges passieren – mit dem Virus und dem Gegenmittel. Rabea war sozusagen schon immun, bevor sie mit dem Virus in Berührung kam. Wer weiß, vielleicht war ihr Gegenmittel anders zusammengesetzt als das von Mildred. Eine gewisse Wirkung scheint aber auch die Kapsel gehabt zu haben. Und die Haltbarkeit ist wirklich erstaunlich. Unglaublich, welchen wissenschaftlichen Vorsprung das Militär damals hatte. Vielleicht werden wir mehr wissen, wenn wir die Leiche von Rabea untersucht haben. Anne, könnten wir ...«

Wieder wurde der Doktor von Frank Wall unterbrochen. Ihm war offensichtlich noch etwas eingefallen: »Denkst du, Paul hätte damals tatsächlich die Ermittlungen gegen Rabea eingestellt? Was hätte er getan, wenn er mehr Zeit gehabt hätte?«

Anne sah zu Frank. Sie sah ihm an, dass es ihm nicht gut ging. Neben den körperlichen Schmerzen gab es nun auch noch einige seelische Wunden, die heilen mussten: »Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob ich Rabea das mit Pauls Unfall abkaufe ...«

Anne lächelte hilflos. »Und was die möglichen Pläne von Paul betreffen, ich habe keine Ahnung. Ich könnte mir aber vorstellen, dass dieser ›Letzte Brief‹ an mich, den ich nach Mildreds Tod erhalten sollte, wirklich für den Fall gedacht war, dass alle anderen Pläne von Paul schiefgehen würden.«

Frank zog die Augenbrauen hoch: »Wie meinst du denn das?«

Anne versuchte, ihre Gedanken in Worte zu fassen: »Na ja, er hat mit mir nicht über den Fall gesprochen, sondern mir nur den ›Letzten Brief‹ als Notfallplan hinterlassen. Das heißt aber nicht zwangsläufig, dass er nicht vorhatte, selbst etwas zu unternehmen. Ich stelle mir die Situation so vor: Paul geht zu Rabea und zeigt ihr das Dossier. Er glaubt vielleicht, sie weiß selbst nicht, was ihr Vater beim Militär gemacht hat. Er will mit ihr sprechen und erhofft sich von ihr weitere Informationen. Aber Rabea wird wütend und bedroht ihn und seine Familie, anstatt sich kooperativ zu zeigen. Sie möchte nicht, dass jemand erfährt, was ihr Vater war und was er getan hat, aber viel größere Angst hat sie noch davor, dass die Menschen erfahren, wie es zur Freisetzung des Virus kam. Also verlangt sie, dass Paul die Unterlagen an sie übergibt und schweigt. Paul ist hin und hergerissen. Er ist Ermittler und fühlt sich der Wahrheit verpflichtet. Er ist aber auch Vater und Ehemann und damit seiner Familie gegenüber verantwortlich. Paul Grey ist ein Neugeborener. Er kann mit Hinterhältigkeit und Bedrohung nicht umgehen.

Rabea hingegen ist durchaus in der Lage, ihre Position und die damit verbundene Macht zu ihrem Vorteil zu nutzen. Paul weiß nicht, welche Möglichkeiten Rabea hat, ihm oder seiner Familie zu schaden, daher kann er ihre Drohungen nicht einfach ignorieren. Also ist er vorsichtig. Er übergibt ihr die Unterlagen bis auf das Foto und die Kapseln, um sie erst einmal in Sicherheit zu wiegen. Paul muss in einer schrecklichen Situation gewesen sein. Er hinterlegt für mich den Brief und eine Kapsel für den Fall, dass es ihm nicht gelingt, etwas zu Lebzeiten zu unternehmen. Gleichzeitig sorgt er dafür, dass Mildred nicht in Gefahr gerät, indem er mit der Zustellung bis nach deren Tod wartet. Hätte er sich doch nur jemandem anvertraut.«

Der Sergeant steckte seine Hände in die Hosentaschen und wippte nervös hin und her: »Aber vielleicht hat er das ja?«

Die anderen sahen ihn mit großen Augen an, was den Sergeant dazu veranlasste, seine Gedanken weiter auszuführen: »Wir wissen, dass er mit den sechs Kapseln beim Archivar war. Der hat ihn zu Calliditas geschickt. Wer sagt uns denn, dass Paul Grey nicht bei Calliditas war? Was, wenn er mit Doktor Calliditas gesprochen hat? Und wir wissen nicht, was mit den restlichen fünf Kapseln passiert ist!«

Anne überlegte: »Das wäre natürlich möglich. Vielleicht hat sich Paul in Doktor Calliditas einen Verbündeten erhofft. Er hätte die Sicherheit seiner Familie wahrscheinlich nicht nur vom guten Willen Rabeas abhängig gemacht. Und Rabea? Umgekehrt war Paul auch eine Bedrohung für sie. Rabea konnte nicht einfach davon ausgehen, dass er schweigen würde. Nachdem sie die Unterlagen hatte, fing sie ihn im Wald ab. Aber wollte sie wirklich nur mit ihm reden, oder hatte sie vor, ihn zu töten? Falls es Mord war, wurde Paul vielleicht erst auf seinem Sterbebett bewusst, zu was Rabea fähig war. Verständlich, dass er Mildred als Kind daher zum Schweigen verpflichtet hat. Alles, was blieb, war der Hinweis in seinem ›Letzten Brief‹. Leider werden wir nie erfahren, ob Paul tatsächlich mit Doktor Calliditas gesprochen hat und ob es weitere Ermittlungen gab. Genauso wenig werden wir erfahren, warum Rabea so an dem Umschlag von Dave Lorden interessiert war. Selbst nach ihrem Verhör hat sie mich noch einmal danach gefragt. Was hat sie darin vermutet? Wahrscheinlich ging es dabei nicht nur um das Foto. Reine Neugier schließe ich aus.«

Sergeant Milton nahm Annes Gedanken auf: »Befürchtete sie vielleicht weitere Hinweise auf ihre Vergangenheit? Irgendetwas, das nicht offensichtlich war, aber ihr zu einem späteren Zeitpunkt gefährlich werden könnte ...«

»Entweder das, oder sie suchte nach etwas«, antwortete Anne.

»Glauben Sie, dass sie nach den ›Antiburnout-Kapseln‹ gesucht hat?« Sergeant Milton schien der Gedanke nicht zu gefallen.

»Möglich wäre es«, erwiderte Anne, »Vielleicht wusste sie von den Kapseln. Paul könnte ihr davon erzählt haben. Er hat ihr vielleicht gesagt, dass er sie vernichtet hat. Plötzlich taucht ein Foto und dann ein mysteriöser Umschlag auf. Vielleicht nahm sie an, dass sich die Kapseln darin befanden und Paul über deren Vernichtung gelogen hat. Es könnte doch sein, dass sie annahm, die Lordens wären nicht nur auf das Foto gestoßen.«

»Aber was hätte sie damit anfangen können? Sie war ja bereits gegen die Einäscherung immun.«

»Stimmt, aber sie war eben auch Wissenschaftlerin. Wer weiß, was sie sich davon versprochen hat. Eigentlich spielt das jetzt auch keine Rolle mehr, ich mag nur keine offenen Fragen«, sagte Anne nachdenklich.

»Apropos offene Fragen«, meldete sich Madeleine Rose zu Wort, »Wir wissen immer noch nicht, wer der oder die Verantwortliche für die Anschläge auf Sie, Misses Reeve, auf Sergeant Milton und auf den Sheriff ist. Und das spielt eine Rolle!« Sheriff Rose hatte Anne aufmerksam zugehört und fand ihre Gedankengänge nachvollziehbar, allerdings wollte sie endlich wissen, wer hinter den Anschlägen steckte. Sowohl Rabea als auch Mildred hatten bestritten, damit etwas zu tun zu haben.

Frank Wall schaltete sich in das Gespräch ein: »Ich habe mir die ganze Zeit die Frage gestellt, wo man mich hätte vergiften können. Ich habe mittags mit den anderen gegessen und sonst ...?«

Doktor Masters blickte zu Frank Wall, dann sah er zu Mildreds Schreibtisch. Er hörte den anderen nicht mehr zu. Irgendetwas gab es da, irgendetwas war in seinem Kopf, er musste es nur fassen. Was hatte Frank Wall gesagt, was hatte ihm Mildred erzählt? Dann erschien etwas vor dem geistigen Auge des Doktors. Erst verschwommen, dann immer klarer. Das Herz des Doktors machte einen Satz – das war es, das war das letzte Puzzlestück, das war die Lösung. Dieses Mal ließ er sich nicht unterbrechen.

Erst schrie er: »Die Herbstzeitlose!«

Dann sprang er auf: »Anne!« Seine Stimme war laut und panisch. »Los, komm!« Damit zog er sie grob am Arm durch die Tür auf den Gang. Dann lehnte er seinen Körper gegen die Tür, so, als wollte er sie mit seinem Gewicht blockieren. Er sprach schnell und ohne Umschweife. Anne konnte nicht glauben, was sie da hörte. Aber auch sie hatte plötzlich eine Erinnerung. Sie dachte an ihren Angreifer vor dem Krankenhaus. Sie dachte daran, dass da etwas gewesen war, das ihr bekannt vorgekommen war. Jetzt wusste sie es. Es war ein Duft gewesen – Lavendel! Das bestätigte alles, was ihr Doktor Masters gerade erzählt hatte. Sie sahen sich schweigend an. Anne kämpfte mit den Tränen der Verzweiflung. Wie würde sie ihm diese Nachricht überbringen können?

Die anderen waren von dem sonderbaren Verhalten des Doktors beunruhigt und versuchten, die Tür zum Gang zu öffnen. Doktor Masters trat zur Seite und die Gruppe kam mit fragenden Gesichtern aus Mildreds Büro.

Anne sah ihren Sergeant an, und als sie sagte »Wir müssen in die Spielwelt!« konnte sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.

 

»Die Herbstzeitlose!« Das war das Einzige, an das Sergeant Milton während dem Ritt in die Spielwelt denken konnte. Warum ging ihm dieser Name nicht mehr aus dem Kopf? Er war wie betäubt. Weiterhin hoffte er auf einen Irrtum. Er hatte heftig reagiert, als ihm Anne Reeve ihren Verdacht mitgeteilt hatte. Nur mühsam hatte er sich gegenüber Doktor Masters zurückhalten können. Am liebsten hätte er ihn geschlagen. Noch niemals hatte er einem Menschen gegenüber solche Gefühle gehabt.

Jetzt ritt er wie von Sinnen Richtung Spielwelt. Die anderen folgten ihm. Er wusste nicht, wie nah sie bei ihm waren, aber es war ihm vollkommen egal. Dann tauchte ein anderer Name in seinem Kopf auf: Colchizin. Das war ein Gift. Wahrscheinlich das Gift, mit dem man Frank Wall hatte töten wollen. Es war das Gift der Herbstzeitlosen. Diese kleine unschuldige rosa Pflanze, die bei Mildred auf dem Schreibtisch gestanden hatte. Dieser harmlose Strauß Blumen, den ihr Sebastian geschenkt hatte. Es musste sich um einen Irrtum handeln. Wie konnte er überhaupt zweifeln? Aber er zweifelte, und das machte die Sache noch schlimmer. Er zweifelte an ihr, an Katie. An der Liebe seines Lebens. Endlich war der Gedanke zu Ende gedacht.

Automatisch zog er sanft am Zügel und ließ sein Pferd in einen leichten Galopp zurückfallen. Was machte es für einen Sinn, die Dinge zu leugnen? Wie konnte es sich um einen Irrtum handeln? Doktor Masters hatte nach dem Verhör von Rabea mit dem behandelnden Arzt von Katie gesprochen. Der hatte unten am Empfang gewartet, nachdem ihn Doktor Masters per Depesche um ein Treffen gebeten hatte. Der Arzt versicherte Doktor Masters, dass Katie niemals schwanger gewesen war, leider musste er ihm sogar mitteilen, dass sie niemals in der Lage sein würde, ein Kind zu bekommen. Die Tests hatten das einwandfrei ergeben. Der Traum des Sergeants vom Glück schien wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen. Nigel hatte ihn trösten wollen, aber er hatte das nicht zugelassen. Anne hatte ihn an den Duft in der Felsenbucht erinnert, den er wahrgenommen hatte.

Unerbittlich hatte sie weitergesprochen: »Lavendel, Sergeant, es war Lavendel. Das haben Sie mir damals erzählt, als Sie mich in der Zelle besucht haben. Der gleiche Duft, den ich in ihrem Krankenzimmer wahrgenommen habe, als Katie bei Ihnen war, der gleiche Duft, der mich umgeben hat, als ich angegriffen wurde.«

Anne Reeve hatte recht. Katie liebte Lavendel. Sie hatte sich selbst ein Duftwasser daraus hergestellt. Er hätte jedoch niemals diese Verbindung gesehen. Sie kannte sich mit Pflanzen sowieso gut aus. Sie wusste sicher von dieser Herbstzeitlosen und ihrem Gift. Der Sheriff hatte ihn fast nicht ansehen können, als er bestätigte, dass Katie den Salat an jenem Mittag zubereitet hatte.

Fast flüsternd hatte Frank Wall hinzugefügt: »Jeder hatte einen eigenen Teller bekommen, keine gemeinsame Schüssel.«

Der Sergeant konnte kaum sehen, wohin er ritt, Tränen standen ihm in den Augen. Er bemerkte, dass sich auf fast gleicher Höhe ein Pferd befand. Der Reiter sagte nichts. Vermutlich war es Nigel, der ihm still beistand. Dann fügte sich der Sergeant dem Unvermeidlichen. Er dachte an die letzten Tage und Katies Verhalten. Da war dieser schreckliche Streit am Vorabend des Anschlags in der Felsenbucht.

Sein Gefühl verfolgt zu werden, als er an diesem Abend das Haus verlassen hatte, um Anne die Nachricht zu hinterlassen. Die Haustür, die er mitten in der Nacht gehört hatte. Bisher aber angenommen hatte, dass es ein Traum gewesen war. Die Wutausbrüche, die Katie gehabt hatte und der Hass, den sie plötzlich gegen den Sheriff und Anne Reeve entwickelt hatte. Und dann das Baby. Das Baby, das es nie gegeben hatte und nie geben würde. Warum hatte sie nicht mit ihm gesprochen? Was hatte er nur falsch gemacht? Wie unglücklich musste sie die ganze Zeit gewesen sein?

Doktor Masters hatte versucht es ihm zu erklären: »Sie ist nicht Herr ihrer Sinne, sie weiß nicht, was sie tut. Offensichtlich hat sie die Tatsache, keine Kinder bekommen zu können, in eine tiefe Depression gestürzt. Ihre psychischen Störungen müssen innerhalb kürzester Zeit immer schlimmer geworden sein. Sie hat Erinnerungslücken und starke Stimmungsschwankungen, die sie manchmal gewalttätig werden lassen. Es tut mir leid, Thomas, aber ich habe das auch nicht erkannt.«

»Aber warum will sie Menschen töten? So ist Katie nicht!«

Der Arzt hatte versucht, ihn zu beruhigen: »Sie ist nicht mehr sie selbst. Sie sucht Schuldige für ihre Situation, damit sie besser damit fertig wird.«

Der Sergeant hatte den Doktor beschimpft und war wütend zu den Stallungen gerannt. Seither hatte er sich nicht mehr umgedreht. Jetzt war er fast am Ziel – oder war es das Ende? Hinten in der Straße sah er das Haus von Sebastian und Peter. Sein Herz klopfte, als eine weitere Erinnerung ihn schmerzlich traf. Wenn Katie die Attentäterin gewesen war, dann hatte er hinter dem Krankenhaus auf sie geschossen. Der bloße Gedanke daran raubte ihm fast den Verstand. Was, wenn er getroffen hätte?

 

Sergeant Milton kümmerte sich nicht um die anderen. Ohne zu klopfen betrat er als Erster das Haus. Sebastian wollte ihn freundlich begrüßen, auch Peter kam aus der Küche. Als sie das Gesicht des Sergeants erblickten, wussten sie sofort, dass eine Begrüßung unnötig war. Der Sergeant rief nach Katie. Sebastian deutete mit der Hand nach hinten in den Wohnraum. Der Sergeant sah weder nach links noch nach rechts. Als er ins Wohnzimmer kam, stand Katie an der anderen Seite des Raumes.

Sie lächelte und sah unglaublich glücklich aus: »Du willst das Baby besuchen, das ist schön.«

Dann veränderte sich ihr Gesichtsausdruck und sie legte den Kopf schräg: »Oder geht es nur wieder um deine Arbeit?«

Der Sergeant schluckte schwer, er wusste nicht, was er sagen sollte, vorsichtig wagte er einen Versuch: »Katie, ich habe mit dem Arzt gesprochen.«

Hinter sich hörte er Schritte, weitere Personen betraten das Zimmer.

Katie wurde wütend. Sie warf ihm zornige Blicke zu: »Du hast was? Wie konntest du? Und was will sie hier?«

Sie deutete mit dem Kinn in Richtung Anne. Katie wirkte nicht nur aufgebracht, man hatte den Eindruck, sie würde gleich explodieren.

Der Sergeant dachte daran, was der Doktor wegen der Einäscherung gesagt hatte: »Ihr Geisteszustand verhindert, dass in ihrem Körper die chemischen Reaktionen ablaufen, die normalerweise bei einem Menschen ablaufen würden, der solche Taten begeht. In Katies Welt gibt es keine Schuld. Sie weiß noch nicht einmal, was sie tut. Man kann von einer gespaltenen Persönlichkeit sprechen. In so einem Fall bleibt die Einäscherung aus. Sie müssen der Tatsache ins Auge sehen, dass Katie geisteskrank ist.«

Sergeant Milton dachte an Karl Hobnitz. Ihm hatte man zuerst auch eine Geisteskrankheit unterstellt. Allerdings hatte sich das später als falsch erwiesen. Was vor allem aber daran gelegen hatte, dass er die ihm vorgeworfenen Taten, die Morde an den Lorden-Brüdern, nicht begangen hatte. War das bei Katie auch so? Wurde sie ebenfalls zu Unrecht beschuldigt? Vielleicht war die Diagnose auch in Katies Fall nicht richtig? In seinem Innersten wusste der Sergeant, dass er darauf nicht hoffen konnte.

Er setzte noch einmal an: »Katie, bitte, lass dir doch helfen.«

Alles, was der Sergeant sagte, machte Katie noch rasender. Keiner hatte bisher Notiz von Misses Wong genommen. Sie stand etwas seitlich zwischen dem Sergeant und Katie. Misses Wong mochte die junge Frau und hatte Mitleid mit ihr. Sie schob Katies heftige Reaktionen auf die Schwangerschaft.

Hilfsbereit wollte sie Katie beistehen und lief auf sie zu: »Meine Liebe, du darfst dich nicht so aufregen, denk doch an das Baby.«

Anne, die schräg hinter dem Sergeant stand, hätte die Frau am liebsten geschüttelt. Offensichtlich hatte die Gute nicht die geringste Ahnung, was hier gerade passierte. Sie wollte Misses Wong schon zurückrufen, als sich die Ereignisse überschlugen. Katie griff zornig nach der korpulenten Frau Wong.

Sie hielt sie an der Schulter und drehte sie blitzschnell um, sodass die anderen in das Gesicht von Misses Wong blicken konnten. Keiner hatte gesehen, wo Katie das Messer versteckt hatte, das sie jetzt Misses Wong an den Hals hielt: »Bleibt weg von mir, ihr alle!«, schrie Katie hysterisch.

Misses Wong jammerte, und als irgendwer einen Schritt nach vorne machte, führte Katie das Messer noch dichter an den Hals von Misses Wong und fügte ihr einen kleinen Schnitt zu, sodass man einen Blutstropfen erkennen konnte. Anne sah zu Sergeant Milton und bekam einen Schock. Der Sergeant hatte seine Waffe gezogen und richtete sie auf Katie.

Er sprach leise, wie unter Schmerzen: »Ich werde nicht zusehen, wie du einen Menschen tötest, das kannst du nicht von mir verlangen.«

Dann richtete der Sergeant seine Waffe gegen sich selbst. Er führte die Mündung an seine Schläfe.

Sergeant Milton lächelte, er wirkte erleichtert, so, als wäre eine schwere Entscheidung endlich getroffen worden: »Ich liebe dich, Katie.«

Dann drückte er ab. Es war ein Schrei der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit, den sie alle hörten. Er ging ihnen bis ins Mark.

Es war Katie, sie schrie erneut und rief den Namen ihres Mannes: »Thomas, nein!«

Der Sergeant war auf die Knie gefallen. Er hielt immer noch die Waffe. In seinen Augen lag etwas wie Ungläubigkeit – der Schuss hatte sich nicht gelöst. Er blickte immer noch zu Katie. Diese stieß Misses Wong von sich weg. Katie suchte den Blick ihres Mannes, dann ging sie selbst in die Knie. Sie schien völlig klar.

Ihre Stimme war sanft, als sie sprach: »Thomas, das habe ich nicht gewollt, verzeih mir!«

Dann setzte sie das Messer an ihren Hals und fuhr mit der Klinge schnell von links nach rechts. Das Blut strömte aus der Wunde, und ganz langsam glitt Katie zu Boden.

 

Anne hatte nie zuvor einen Moment voll so unglaublicher Liebe und gleichzeitig so großen Schmerzes erlebt. Es dauerte ein paar Sekunden, dann löste sich die Starre im Raum. Es war Nigel, der dem Sergeant die Waffe aus der Hand riss und von ihm weghielt. Gerade noch rechtzeitig, denn in der nächsten Sekunde löste sich plötzlich der Schuss, und die Kugel traf die gegenüberliegende Wand. Der Sergeant rutschte über den Boden zu Katie. Das Blut floss unaufhörlich. Doktor Masters und Anne versuchten, die Blutung zu stillen. Vergeblich. Katie war tot. Nigel blieb bei seinem Freund, bis der Leichnam von Katie abgeholt wurde. Sie hatten sie zugedeckt.