1. Der Hirsch
»Ein Hirsch? Oh Gott, Sergeant, ich bitte Sie! Wie hätte das ein Hirsch anrichten können? Bei allem Respekt vor den Fähigkeiten unserer tierischen Freunde – ich habe bisher noch keinen Hirsch kennengelernt, der an der Waffe ausgebildet wurde. Ich wünschte die Lösung wäre so einfach.«
Sergeant Milton blickte betreten zu Boden. Er war erst seit vier Tagen bei der Wache Süd. Die Wache Süd war eine der größten Wachen überhaupt. Außerdem gab es hier einen der »Überlebenden« als Ermittler im aktiven Dienst. Normalerweise waren die »Überlebenden« eher in hohen, führenden Positionen zu finden. Sergeant Milton hatte schwer für diesen Posten geschuftet. Es war schon seit Kindertagen sein Wunsch gewesen, in der Wache Süd seinen Dienst zu tun.
Seine Freunde hatten ihn gewarnt: »Das wird nicht leicht!«, hatten sie gesagt, »Der Chief-Sergeant ist sehr – nun – eigentümlich.«
»Was wollt ihr?«, hatte er entgegnet, »mit rund dreihundert Jahren wäre wohl jeder ein bisschen – eigentümlich.«
Diese Gespräche gingen ihm jetzt durch den Kopf, und er fühlte sich schrecklich dumm und klein. Wie hatte er nur glauben können, dass ausgerechnet er dazu befähigt sei, an ihrer Seite Dienst zu tun? Was für eine blöde Bemerkung mit dem Hirsch, wieso hatte er nicht den Mund gehalten?
»Sergeant Milton ...?«, die Stimme seiner Chefin Anne Reeve holte ihn zurück. Zurück zum Tatort, zurück zu dem Toten vor ihm, zurück zu der peinlichen Hirsch-Theorie. »Sehen wir uns den Tatort genauer an, sagen Sie mir, was Sie sehen.«
Sergeant Milton blickte voll Abscheu auf die übel zugerichtete Leiche: »Ein Mann, ordentlich gekleidet, schwere Verletzungen ...«
Der Sergeant stockte. Noch nie hatte er so etwas Unmenschliches und Schreckliches gesehen. Die ganze Grausamkeit, über die er in Büchern gelesen hatte und zum Teil auch aus den alten Aufzeichnungen kannte, kamen ihm harmlos vor, im Vergleich zu dem Leid, das er jetzt vor sich sah.
Mit belegter Stimme fuhr er fort: »Er hat stark geblutet, er hat Wunden, anscheinend Schusswunden ... und es war Selbstmord.« Der Sergeant brach ab.
Anne war wütend: »Und wieso geht jemand auf eine Waldlichtung, um sich umzubringen? Ist jemand überhaupt in der Lage, sich in den Kopf und dann anschließend in die Brust zu schießen oder umgekehrt? Unser Selbstmörder war also ein Naturliebhaber mit besonderen körperlichen Fähigkeiten? Aber davon abgesehen, verraten Sie mir, womit er sich die Wunden zugefügt hat? Ich sehe hier nämlich keine Waffe. Und sagen Sie jetzt nicht, dass ein Hirsch vorbeikam und ihm eine Schrotflinte geliehen hat!«
Sergeant Milton war in schlechter Verfassung, sein Puls ging schnell und er wollte unbedingt etwas richtig machen. Also stammelte er: »Aber wenn er es nicht selbst getan hat ...«
Mechanisch zählte er die Möglichkeiten, so, wie er es in der Akademie gelernt hatte, auf: »Bei einem Tötungsdelikt hätten wir entweder jemanden, der aus Notwehr gehandelt hat, neben der Leiche sitzen. Für ihn hätte es keinen Grund gegeben, sich vom Tatort zu entfernen. Oder es handelt sich bei dem Täter um einen ›gemeinen Mörder‹, dann würden wir dessen Überreste direkt neben dem Toten finden. Weitere Möglichkeiten gibt es nicht, ansonsten wäre es ja Mord ohne ...«
»Genau, Sergeant«, unterbrach ihn Anne.
In diesem Moment kam Doktor Masters − wie es sich gehörte − in einer kleinen Pferdekutsche an. Er war fast sechzig Jahre alt und ein Mediziner, der, wie die meisten Menschen der Neuen Welt, seine Arbeit als Berufung sah. Ungelenk wuchtete er seinen feisten Leib vom Kutschbock.
Doktor Masters war ein Freund der reichhaltigen Küche und ein Anhänger der These, dass nur ein gesunder Appetit Geist und Körper zusammenhalten würde. Er trat auf Anne zu. Sie kannte ihn schon, als er noch ein junger Student gewesen war. Über die Jahre hatte sich eine echte Freundschaft entwickelt. Sie war Gast bei seiner Hochzeit und bei diversen Geburtstagsfeiern seiner Kinder gewesen. Er war ein unglaublich kluger Kopf. Deshalb war er nicht nur als Mediziner, sondern auch als Mitglied der Forschungsmannschaft tätig. Als er Anne jetzt gegenüberstand, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte.
»Es ist etwas Furchtbares passiert!«, sagte sie.
Doktor Masters blickte an ihr und Sergeant Milton vorbei. Er bewegte sich auf den Leichnam zu und fing wortlos an, seine Untersuchungen vorzunehmen. Er war sehr gründlich.
Als er sich wieder erhob, sah er besorgt aus: »Ihr habt also keine Überreste des Täters gefunden?«
Angst flackerte in seinen Augen auf, als er diese Frage an Anne richtete. Anne schüttelte den Kopf und ihr Gesicht spiegelte eine solche Enttäuschung wider, dass Doktor Masters sie wortlos in den Arm nahm.
Nach einem kurzen Moment löste sich Anne von Doktor Masters und sagte: »Ich muss Frank verständigen.«
Ungeduldig warteten sie im Büro des Obersten Sheriffs. Sie, das waren Sergeant Milton, immer noch ein wenig blass um die Nase, der gutbeleibte Doktor Masters und Chief-Sergeant Anne Reeve. Das Büro des Obersten Sheriffs strahlte eine unglaubliche Gediegenheit aus. Anne fühlte sich hier immer wohl, obwohl sie meist nicht mit Lob überschüttet wurde, wenn sie in einem der antiken Chippendale-Sessel saß. Der Oberste Sheriff, Frank Wall, war auch ein Überlebender. Er war damals Mitte fünfzig gewesen, als die Traurige Zeit zu Ende ging.
Anne dachte an Frank Wall und ihre erste Begegnung. Oh Gott, das war vor 260 Jahren! Bei diesem Gedanken musste sie unwillkürlich lächeln. Frank hatte sich seit dieser Zeit kein bisschen verändert. Alle waren von ihm ein wenig eingeschüchtert. Er betrat einen Raum, wie ein Schuldirektor ein Klassenzimmer betreten würde. Alle Anwesenden verstummten dann sofort und gingen gedanklich ihre Verfehlungen durch. Man fühlte sich immer ein wenig schuldig in seiner Nähe, außerdem wusste man nie, ob er einen mochte oder nur höflich war. Frank Wall, der Hüter von Recht und Ordnung; es hätte keinen Besseren für die Position des Obersten Sheriffs geben können. 260 Jahre, das war eine lange Zeit. Anne war damals 43 Jahre alt gewesen, als die Traurige Zeit – wie die Zeitrechnung bis zum 31.12.2018 genannt wurde – endete.
»Die Traurige Zeit«, dachte Anne, »warum wurde sie nochmal so genannt?«
Sie und die anderen Überlebenden hatten eigentlich nie davon gesprochen, dass die Zeit traurig gewesen wäre. Ach ja! Jetzt fiel es ihr wieder ein. Es war ein Neugeborener, der diesen Ausdruck in einem Gedicht verwendet hatte. Offensichtlich konnten sich die Kinder der Neuen Welt damit gut identifizieren. Sie kannten die Alte Welt nur aus Erzählungen, Büchern und alten Aufzeichnungen. Um sie zu verstehen, verglichen sie sie mit der Neuen Welt und empfanden dadurch die Alte als traurig.
»Eigenartig, wie unterschiedlich die Menschen die gleiche Situation empfinden,« grübelte Anne.
Das war typisch für sie, sie grübelte gern und fing dann an die Dinge zu hinterfragen. Ihre Mutter hatte immer gesagt, dass sie als Kind schon eine richtige Nervensäge gewesen war, weil sie immer alles wissen musste und ständig bohrende Fragen gestellt hatte. Jetzt fühlte sich Anne doch traurig. Sie hatte ihre Familie schon bei der ersten großen Gewaltwelle, den Straßenschlachten im Juni 2018, verloren. Ihre große Liebe war dabei ums Leben gekommen, als er sie vor dem bewaffneten Mob schützen wollte.
2018 hatte alles angefangen − oder alles geendet. Das war eine Frage der Betrachtung. Nachdem sich weltweit die Besitzstände verschoben und sich die Armut und die Ungerechtigkeit weiter ausgebreitet hatten, hatten es die Menschen tatsächlich geschafft, die Welt herunterzuwirtschaften. Man könnte auch sagen, dass die Welt damals wie das Zimmer eines ungezogenen Kindes ausgesehen hatte: dreckig, unordentlich und lieblos behandelt, ohne Scham demoliert und missbraucht. Die Natur war so gut wie nicht mehr vorhanden, die Erde geplündert, die Luft verseucht.
Die Wirtschaft am Boden, eine Währungskrise war der anderen gefolgt, bis viele Bürger verarmt und häufig in die Obdachlosigkeit gezwungen worden waren. Unglaublich viele Arme und sehr wenige unglaublich Reiche. Im Zeitalter der Technologie waren Kinder, die am Hungertod starben, akzeptierte Begleiterscheinungen gewesen. Und da man schon mit der eigenen Art kein Erbarmen gehabt hatte, waren die Bedingungen für andere Lebewesen nicht besser gewesen. Fleischproduktion war ein grausames Folterhandwerk geworden.
Im Namen des Volkes war die Welt zum Tode verurteilt worden. Die Werte der Zivilisation waren »Geld, Geld und Geld«, Korruption und Lüge waren die einzigen Bestandteile von Parteiprogrammen gewesen. Grundgesetze und Verfassungen waren mit Notverordnungen ausgehebelt, Menschenrechte waren mit Füßen getreten worden. Das Schlimmste aber war, dass das alles ganz offiziell geschehen war. Keine fiesen Deals hinter verschlossenen Türen. Nein, die Welt war sehenden Auges, wie eine Herde in Stampede, auf den Abgrund zugelaufen.
Und als die Machthaber den Bogen weiter überspannt hatten, war – wie zu erwarten gewesen – die Sehne gerissen. Die Armut war mittlerweile extrem groß geworden und die Kluft zwischen Arm und Reich hätte man in Lichtjahren messen können. Das hatte dazu geführt, dass Gewalt plötzlich eine Option gewesen war. Die ersten Straßenschlachten hatten begonnen, und es hatten regelrechte Massaker stattgefunden. Aber die Menschen hatten verlernt, solidarisch zu sein. Idealismus und der Kampf für eine gemeinsame Sache waren nicht die Triebfedern des Aufstandes gewesen. Es war nicht die Wut auf vorhandene Strukturen gewesen, die die Menschen angetrieben hatte, nein, sie hatten lediglich innerhalb der Strukturen einen besseren Platz gewollt: »Nicht meinen Nachbar will ich retten, nein, nur mich«.
Letztendlich hatte es keinen Kampf für die Menschlichkeit gegeben, sondern einen Kampf um Ämter und Vorteile für Einzelne. Das gleiche Spiel, nur mit Waffen und mehr Mitspielern. Wieder waren das einzelne Leben und sein Schutz nebensächlich gewesen.
Anne schüttelte den Kopf und dachte: »Wir haben alle zugesehen und es geschehen lassen, vielleicht war genau das das Traurige an dieser Zeit.«
Sie hatte als Einzige ihrer Familie die Kämpfe überlebt. Schnell schüttelte sie diese Gedanken ab. Die Kämpfe hatte sie überlebt, wie viele andere auch, aber was danach gekommen war ... Als hätten sich Himmel und Hölle verbündet und einen gemeinsamen Großputz veranstaltet. Mit vereinten Kräften waren sie durch die Welt gefegt. Und ihre Besen hatten harte Borsten gehabt. Die Härtesten, die es gegeben hatte, und sie hatten den Tod gebracht – einen Tod, der kein Pardon gekannt hatte. Brutal hatte er zugeschlagen, unerbittlich und ohne Gnade.
Es hatte alle getroffen. Alle, die diese Zeit so »traurig« gemacht hatten. Alle, die ihre Macht und ihre Positionen ausgenutzt, die kein Mitleid und keine Gnade gekannt hatten. Die sich selbst bereichert und sich die Bäuche gefüllt hatten, während andere vor Hunger gestorben waren. Es hatte die getroffen, die den Hals nicht voll bekommen konnten. Es hatte die getroffen, die anderen Leid zugefügt hatten. Die Besen hatten alle Verursacher von Schmerz und Leid erfasst. Sie hatten ihr Urteil gesprochen und vollstreckt. Es hatte nur einen Richterspruch gegeben, und das war der Tod gewesen.
Am 20.12.2018 hatten die Aschentage begonnen. Plötzlich waren die Menschen innerhalb von Sekunden gestorben. Es hatte sie eine Art Feuer erfasst, das wie eine spontane Selbstentzündung ausgesehen hatte. Diese Selbstentzündungen waren in politischen Sitzungen, auf der Straße, in Autos passiert. Ein Fingerschnippen, plötzlich war nur noch ein etwa fünfzig Zentimeter hohes Aschenhäufchen zurückgeblieben. Manchmal hatte noch die Brieftasche daneben gelegen, das hatte dann die Identifizierung leichter gemacht.
Am ersten Tag hatten die Besen nur mal grob die Ecken ausgekehrt. Hier ein Präsident, da ein Minister, ein Konzernchef, ein Anwalt, ein Banken- oder Versicherungsvorstand, doch dann war es Zeit für die Feinarbeit gewesen und das Sterben hatte begonnen. Es waren Milliarden, in allen Schichten und Altersstufen, gestorben.
Die Aschentage hatten am 31.12.2018 geendet. Und zurück waren die Überlebenden und die Kinder geblieben. Tag 1 der Neuen Welt hatte begonnen.
Anne seufzte. »Wo blieb nur Frank?«, dachte sie. Nach 260 Jahren fiel ihr das Warten immer noch schwer.
Im Vorzimmer schob Mildred ihre Brille zurecht, als sie die Tür hörte und aufblickte.
Gehetzt erschien der Oberste Sheriff: »Sind sie schon da, Mildred? Oh, entschuldigen Sie meine Unhöflichkeit, geht es Ihnen gut? Alles in Ordnung?«
Mildred nickte verständnisvoll.
»Sie haben nicht zufällig von den ...« Mildred gab ihm keine Antwort, sondern griff verschwörerisch in die unterste Schublade ihres Schreibtisches und überreichte Frank Wall mit einem Augenzwinkern ein kleines, verschnürtes Päckchen.
»Oh Mildred, Sie sind wirklich die Beste. Ach, und während der Besprechung, wenn möglich, bitte keine Störungen.«
»Geht klar, Mister Wall«, antwortete Mildred und schmunzelte.
Das war typisch für Frank Wall, einen der größten Männer der Geschichte – für Mildred war er ein richtiger Held – hatte Knieflattern, wenn Anne Reeve ins Büro kam. Und dabei kannten sie sich bereits 260 Jahre. Trotzdem hing für ihn dann alles davon ab, dass die − zugegeben weltbesten − kleinen Blätterteigteilchen vom Bäckermeister Beigel für Anne bereitstanden. Und während Normalsterbliche höchstens eines verdrücken konnten, da die Teilchen so fett und schwerverdaulich waren, aß Anne gleich drei davon. Natürlich wusste sie nicht, dass diese Teilchen nur ihretwegen besorgt wurden, was bedeutete, eine Meisterleistung zu vollbringen.
Die Teilchen bei Bäcker Beigel waren stets ausverkauft, eigentlich erhielt man nur welche auf Vorbestellung. Und da Anne Reeve gerne kurzfristig reinplatzte, musste Mildred fast schon zaubern, um an die begehrten Stückchen zu kommen. Wahrscheinlich hätte sie auch ein normales Stück Kuchen verdrückt, aber irgendwie war Frank Wall davon überzeugt, dass dieses Ritual ihn und Anne auf eine besondere Weise miteinander verbinden würde.
Mildred mochte Anne. Von ihrem ersten Kennenlernen an hatte Mildred für sie eine Art mütterliche Zuneigung empfunden. Und das, obwohl sie damals gerade erst zwölf Jahre alt gewesen war. Das war vor circa 48 Jahren gewesen. Anfang des Jahres hatte Mildred ihren 60. Geburtstag gefeiert. Sie wollte keinen Tag ihres Arbeitslebens missen. Für Frank Wall zu arbeiten und Teil der Wache Süd zu sein, das war ein Teil ihres Lebens. Sie war stolz auf das, was sie war und wo sie war.
In der Schule hatten sie über die Arbeitswelt in der Traurigen Zeit gesprochen und darüber, dass Menschen durch ihre Arbeit krank geworden waren. Sie hatte damals den Begriff »Burnout« gehört und war in Panik geraten. Wenn nun ihren Vater eine solche Krankheit heimsuchen würde? Burnout, war das nicht diese schreckliche Sache, die die Menschen zusammenschmolz und dann war nur noch ein Aschenhäufchen von ihnen übrig?
Als sie an diesem Tag nach der Schule nach Haus gekommen war, hatte sie ihre Mutter fast nicht beruhigen können, so groß war die Angst und Sorge um den Vater gewesen. Die Mutter hatte keinen anderen Rat gewusst und war daher mit ihrer Tochter einfach schnurstracks zur Wache Süd gefahren. Ihr Vater war damals Sergeant gewesen. Als Mildred dann zum ersten Mal die große Halle der Wache Süd betreten hatte, war sie zwar schwer beeindruckt, aber noch nicht davon überzeugt gewesen, dass es dem Vater hier auch gutgehen würde.
Mitten in diese düsteren Gedanken hinein hatte sich damals die Tür bewegt, und ein Eichhörnchen war in die Halle gesaust. Hinter ihm her, über Tische und Bänke, hatte eine Frau mit dunkelblonden Locken, und mit ihr Mildreds Vater und seine Kollegen, versucht, das arme Tierchen wieder einzufangen. Das völlig aufgedrehte Eichhörnchen hatte sich dann bei seiner waghalsigen Flucht in den Haaren der lockigen Frau verfangen und dabei eigentümliche Pfiffe ausgestoßen. Erst drei weitere Sergeants und eine Sekretärin mit Schere hatten das arme Tier befreien können. Als dann die lockige Frau das Tier in den Armen gehalten und beruhigt hatte, war das Tierchen so entspannt gewesen, dass es daraufhin geräuschvoll seine Gedärme entlüftet hatte.
Der Lockenkopf hatte das mit einem: »Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, Kumpel!« quittiert und das Gesicht zu einer eigentümlichen Grimasse verzogen, die irgendwie dem Tier geähnelt hatte.
Sogleich war es um jegliche Ernsthaftigkeit geschehen gewesen, und die Halle war von einem ohrenbetäubenden Gegröle erfüllt worden. Es war ein richtiger kollektiver Lachanfall gewesen, und Mildred hatte ihren Vater gesehen, wie auch er gelacht hatte und ihm dicke, große Tränen über das Gesicht gelaufen waren.
Mildred hatte in diesem Moment sofort zwei Dinge gewusst: »Erstens: mein Vater wird hier nie eine der schrecklichen Krankheiten bekommen, und zweitens: die Frau mit den Locken, deren Name Anne Reeve war, würde immer einen Platz in Mildreds Herz haben. Mildreds Vater hatte ihr damals die ganze Geschichte erzählt, als er am Abend nach Hause gekommen war.
Das Tier war unbeweglich auf der Straße gelegen. Kinder hatten es in der Wache abgegeben. Die Tierbetreuer sollten das arme Geschöpf abholen und versorgen, das Tierchen war allerdings schnell und sehr lebendig zu sich gekommen. Den Rest der Geschichte hatte Mildred selbst miterlebt. Außerdem hatte ihr Vater Mildred noch erklärt, dass Burnout eine Krankheit war, die es schon seit über zweihundert Jahren nicht mehr gegeben hatte. Sie war eine Folge von Erschöpfung und Überarbeitung. Die Menschen waren ausgebrannt gewesen, aber – so hatte er gemeint – nicht im wörtlichen Sinn.
Die Einäscherung war etwas, das den Menschen widerfuhr, die anderen Leid zufügten. Dann hatte er kurz gezögert, ihr einen Kuss auf die Stirn gegeben und gesagt, dass sie ein sehr schlaues kleines Mädchen sei und ihn auf eine Idee gebracht hätte.
Die Tür ging auf und Frank Wall betrat sein Büro. Während Doktor Masters und Sergeant Milton sofort Haltung annahmen, quatschte Anne einfach los: »Mein Gott, Frank, äh, Sir – Sheriff! Wo waren Sie denn so lange, wir müssen unbedingt überlegen, was zu tun ist, ich habe gewusst, dass das eines Tages passieren wird. Es ist furchtbar.«
Frank Wall hob nur seine rechte Augenbraue, was Anne sofort verstummen ließ. »Nun meine Lieben, erst einmal einen schönen guten Tag. Doktor Masters, Sergeant Milton. Misses Reeve ...«
Frank Wall bat seine Besucher zum Tisch in der Mitte des Zimmers, während er an der großen Fensterfront vorbeiging und nicht umhin kam kurz hinauszublicken. Sein Büro war im obersten Stock der Wache Süd, sodass man einen wunderschönen Ausblick auf die Umgebung hatte. Anne hatte ihm einmal gesagt, dass sie in seinem Büro immer Hunger bekäme.
Er hatte sie verständnislos angesehen, und sie hatte ihm damals erklärt: »Na ja, von hier oben hat man den Eindruck, auf einen gedeckten Tisch zu blicken. Unten die Marktstände mit den vielen bunten Waren, das ist, als wäre ein Obstkorb mit viel Liebe zusammengestellt worden. Die Gebirgskette im Norden sieht aus wie ein aufgeschnittener Nusszopf, und wenn wir Schnee da oben haben, dann ist es ein Nusszopf mit Zuckerguss. Tja, und dann am Horizont das Meer. Manchmal blau, dann wieder grau oder grün. Das erinnert mich an einen missglückten Cocktail. Schmeckt super, aber die Farbe lässt zu wünschen übrig.
Frank Walls Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück. Er bot seinen Besuchern Getränke an und stellte den Karton mit den Blätterteigteilchen auf den Tisch.
Anne nahm sich sofort eines mit dem Kommentar: »Ich bin so nervös, ich muss was essen!«
Frank Wall blätterte die dünne Akte durch, die ihm Anne mitgebracht hatte. Als er aufblickte, sprach er Doktor Masters an: »Doktor, was meinen Sie?«
Doktor Masters war aufgeregt, so, als ob er sich in ein unüberlegtes Abenteuer stürzen würde: »Ehrlich gesagt, halte ich die Sache für äußerst merkwürdig.«
»Sag ich doch«, wandte Anne mit vollem Mund ein.
Was ihr eine erneute hochgezogene Augenbraue von Frank Wall einbrachte. »Doktor, bitte fahren Sie fort!«
»Sehen Sie, Sheriff, die Leiche lässt sich nicht leicht identifizieren. Das Gesicht ist nicht mehr zu erkennen. Eigentlich hätten wir aber Papiere bei dem Mann finden müssen. Ich würde gerne weitere Untersuchungen vornehmen, auch wenn Obduktionen dieser Art schon seit über zweihundert Jahren nicht mehr gemacht wurden.«
Frank Wall sah nun Anne an: »Was meinen Sie, Chief-Sergeant?«
Anne explodierte geradezu: »Mein Gott, was ist das für eine Frage? Ich habe keine Ahnung, was ich dazu meinen soll. Das ist ein reales Verbrechen. So, wie es aussieht, handelt es sich auch noch um einen Mord. Alles spricht dafür. Kein Aschenhäufchen, keine Anhaltspunkte für Notwehr. Das ist ein Mord, und ich habe keine Ahnung, was wir machen sollen, ich ...«
»Stopp!« fuhr Frank Wall dazwischen. Seine Stimme war schärfer als ein Skalpell, jetzt war er richtig sauer. »Meine Herrn, würden Sie mich und den Chief-Sergeant bitte kurz alleine lassen? Geben Sie uns dreißig Minuten.«
Die beiden Männer verließen verdutzt, allerdings auch ein wenig erleichtert, den Raum. Auseinandersetzungen zwischen Frank Wall und Anne Reeve waren sowohl berühmt als auch berüchtigt. Es war auf jeden Fall besser, nicht anwesend zu sein. Mildred nickte ihnen beim Betreten des Vorzimmers wissend und verständnisvoll zu.
»Das reicht jetzt Anne, Herrgott nochmal, was ist denn das für ein Geschwätz? Und dann noch vor deinem Sergeant. Du sollst die jungen Leute ermutigen und nicht verunsichern. Du machst den Job seit 260 Jahren, was soll denn dieser Auftritt?«
Anne war außer sich: »Sag mal, hast du mir eigentlich zugehört? Wir haben es mit Mord zu tun. Woher soll ich wissen, wie man in einem Mordfall ermittelt? Diese Behörde, die ganze Welt, hatte seit dem 31.12.2018 keinen Mord aufzuklären. Sämtliche Delikte dieser Art wurden umgehend geklärt, weil entweder jemand, der aus Notwehr gehandelt hatte, am Tatort angetroffen wurde. Oder der Täter als Aschenhäufchen neben dem Opfer zurück blieb. Du hättest mich heute am Tatort sehen sollen. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, was ich da tun sollte. Wenn ich nicht einmal eine Affäre mit einem Jäger gehabt hätte, und wohlgemerkt, das ist jetzt über 280 Jahre her, hätte ich die Wunden nicht einmal als Schusswunden erkannt. Ich weise dich außerdem ganz offiziell darauf hin, dass meine Erfahrungen in einer Mordermittlung einzig aus alten Fernsehserien stammen. Dieses Mal hat das System nicht funktioniert. Und du verlangst von mir, ich solle meinen Job machen. Mein Job ist es, über die Toten der Aschentage Untersuchungen anzustellen. Wir klären, warum Menschen eingeäschert wurden, indem wir Aufzeichnungen, Computer, Bankverbindungen, Firmenunterlagen, einfach alles durchstöbern. Bis wir feststellen, dass der oder die Eingeäscherte ein Mittel gegen Krebs in der Schublade hatte, das man bereits 2001 hätte auf den Markt bringen können. Millionen wären gerettet worden. Aber nein, die Führungsmannschaft eines Pharmakonzerns beschloss, lieber die Schubladen zu verschließen und Geld damit zu verdienen, weitere zwanzig Jahre unnütze Mittel zur Schmerzlinderung zu verkaufen. Bingo, und schon kann ich dir erklären, warum am 21.12.2018 hundert Menschen zusammenschmolzen und als Aschenhäufchen die Welt beglückten. Ich kann dir sagen, warum es den biederen Familienvater getroffen hat, der sich nichts zu Schulden kommen ließ, außer der Misshandlung seiner fünf Kinder. Seine Einäscherung fand am 23.12.2018 statt, zusammen mit seiner Frau, die jahrelang zusah, wie ihr eigen Fleisch und Blut gefoltert wurde.
Ich habe Aktenschränke voll mit Antworten, die ich dir geben kann, Frank. Ich kann dir auch die Einäscherungen erklären, die nach 2018 passiert sind, und wir wissen beide, wie gering diese Zahl ist. Das, Frank, ist mein Job.
Und wie kam ich zu meinem Job? Ich war erstens eine der wenigen, die ihn wollte, und zweitens hielten du und die anderen mich für besonders geeignet. Ach, und warum war ich nochmal so geeignet? Sag du es mir, Frank …
Richtig! Ich hatte ja vor den Aschentagen beim Finanzamt gearbeitet. Das hat es mir vielleicht leichter gemacht, in alten Unterlagen zu ermitteln, aber ich bitte dich, meine Gegner waren Buchungssätze und Bilanzen. Ich war noch nicht einmal im Außendienst. Sicher hatte ich es mit vielen Arschlöchern zu tun, aber Ermittlungen in einem Mordfall? Frank, siehst du nicht, was hier vorgeht? Wenn wir hier einen echten Mord haben, dann heißt das, dass nichts mehr funktioniert und das heißt, dass wir bald die alten, schlimmen Zeiten zurückhaben werden!« Anne war vor Wut und Verzweiflung den Tränen nahe.
»Anne, bitte, wir hatten immer schon Vorkommnisse, bei denen der Täter nicht eingeäschert wurde. Wir wissen bis heute nicht genau, wie die Auswahl funktioniert.«
»Ich bitte dich Frank, wir wissen genau, dass die Bösen bestraft werden, jedenfalls bisher. Je ausgeprägter die Boshaftigkeit, die Habgier und der Sadismus, desto eindeutiger. Gut, wir verstehen noch nicht alles, aber ein kaltblütiger Mord erfüllt nach meinem Empfinden alle Voraussetzungen für eine Einäscherung. Ein Schuss ins Gesicht und einer in die Brust sind keine Liebesbekundungen.«
Frank Wall wusste, dass Anne schreckliche Angst davor hatte, dass sich die Welt ändern würde.
Sie hatte ihm einmal gesagt: »Ich habe damals die Fehler gesehen, und ich konnte sie nicht berichtigen, so will ich mich nie wieder fühlen!«
Frank sah sie eindringlich an: »Anne, du bist die beste Ermittlerin, die ich habe. Du hast eine Spürnase und einen guten Instinkt. Wir haben nun mal keine ausgebildeten Mordermittler. Aber wie du immer zu sagen pflegst: Man muss mit dem arbeiten, was man hat. Wir haben hier gute Leute, wir sind ein gutes Team, und du bist hier der Chief-Sergeant. Bloß weil wir selten aktuelle Verbrechen verfolgen ...« Er hob die Hand, um Annes Einwände von vornherein beiseite zu schieben. »Ich weiß was du sagen willst. Meistens sind das kleine Geschichten: ein Diebstahl, eine Rauferei, die auch keine Einäscherung zur Folge haben, und ich weiß auch, dass unsere Arbeit darin besteht, insbesondere die Einäscherungen aus der Traurigen Zeit aufzuklären – um den Forschern Daten zu liefern. Aber bloß, weil wir bisher keinen Mordfall hatten, bedeutet das nicht, dass wir nicht in der Lage sind, gegebenenfalls einen zu untersuchen. Und genau das werden wir jetzt machen! Also fang an zu denken, Anne.«
Anne sah ihn mit offenem Mund an. Und wie so oft, half ihr Franks Rüffel, ihr Gehirn zu zünden, denn plötzlich schoss ihr eine Idee durch den Kopf, und ihre Stimme überschlug sich fast, als sie sagte: »Könnte es nicht sein, dass der Tote den Tod vielleicht verdient hatte? Sagen wir mal, er war ein schlechter, böser Mensch. Er hatte vor, Unheil anzurichten und jemand hat ihn aufgehalten.«
Annes Gesicht hellte sich auf: »Ja! Jemand, der vielleicht wusste, dass unser Toter etwas Böses tun wollte und ...«
»... Und wusste, dass der Tote seine Tat auf jeden Fall begangen hätte, auch wenn er dafür eingeäschert worden wäre!«, beendete Frank den Satz.
Anne war aufgeregt: »Das muss es sein, wir müssen sofort mit Doktor Masters sprechen!«
Als Doktor Masters und Sergeant Milton nach dreißig Minuten zurück in das Büro des Obersten Sheriffs kamen, bemerkten sie sofort, dass sich die Stimmung geändert hatte. Die zornige Anspannung war einer kindlichen Euphorie gewichen. Anne erklärte den beiden ihre Theorie.
Doktor Masters kniff die Augen zusammen. Wieder stellte sich bei ihm dieses Gefühl ein, sich in ein großes Abenteuer zu stürzen. »Seltsam«, dachte er sich, »sollte ich auf meine alten Tage noch Geschichte schreiben?«
Seit 260 Jahren gelang es den Forschern nicht, das Geheimnis der Einäscherung vollständig zu entschlüsseln. Für die meisten war die Einäscherung eine Folge unglaublichen Fehlverhaltens. Die Gefahr, eingeäschert zu werden, war daher der Antrieb der meisten Menschen, gut zu sein. Im Prinzip ein perfektes System um eine schwache Mehrheit vor einer starken Minderheit zu schützen. Nur die Angst um das eigene Leben schaffte genügend Motivation, die Ethik und die Moral zur Basis des eigenen Handelns werden zu lassen. Der eigene Vorteil wurde nicht mehr zum Lebensinhalt, da er letztendlich den Tod zur Folge haben könnte. Man handelte zwar nicht zum Wohle aller, aber zumindest handelte man so, dass das Wohl der anderen nicht in Gefahr war. Doktor Masters hatte im Laufe seines Lebens viel über diesen Punkt nachgedacht. Er hatte die Traurige Zeit studiert. Noch heute las er die alten Geschichtsbücher, ebenso wie er die Aschentagebücher verfolgte. Dieses enzyklopädische Werk enthielt alle aufgeklärten Einäscherungen der Aschentage. Es wuchs jedes Jahr, je mehr die Ermittler der verschiedenen Wachen aufdeckten.
Doktor Masters dachte an seine Arbeit innerhalb der Forschungsmannschaft. Die Forschungsmannschaft setzte sich aus Wissenschaftlern der gesamten Welt zusammen. Diese kamen aus allen möglichen Bereichen und waren sowohl Überlebende als auch Neugeborene. Die Gebäude, die Forschungszentrale, in denen die Forscher und ihre Labore untergebracht waren, hatten die Ausmaße einer kleinen Stadt. Der Gedanke war, alles Wissen an einem Ort zu bündeln. Die Forschungsmannschaft hatte vorrangig die Aufgabe herauszufinden, was die Einäscherungen auslöste und wie es zu den Aschentagen gekommen war.
Doktor Masters war stolz darauf, in diesen Kreis aufgenommen worden zu sein. Die Arbeit war für ihn sehr befriedigend, aber dieser Fall war irgendwie anders. Seine Forscherseele sagte ihm, dass ganz in der Nähe Antworten zu finden waren.
Als er auf Annes Theorie einging, war seiner Stimme die Aufregung deutlich anzumerken: »Du glaubst also, dass der Täter, also der Schütze, im guten Glauben gehandelt hat? Das wiederum hat ihn, laut deiner Theorie, selbst vor der Einäscherung bewahrt. Das ist natürlich eine gewagte These ... Gut, sehen wir uns an, wie wir uns bisher die Einäscherungen erklärt haben.«
Anne stöhnte auf, dieses wissenschaftliche Geschwätz hatte sie immer schon furchtbar langweilig gefunden, denn eine richtige Antwort hatte sie noch nie bekommen.
Doktor Masters winkte ab: »Keine Sorge, ich mache es einmal ganz unwissenschaftlich. Also, wir wissen, dass jeder Mensch durch seine Gene definiert wird. Sie sind der Bauplan. Völlig einleuchtend ist für uns, daraus zum Beispiel die Augen- oder Haarfarbe abzuleiten. Schwieriger wird es, wenn wir uns vorstellen sollen, dass auch unser Charakter in speziellen Genen, wir nennen sie ›Charaktergene‹, hinterlegt ist. Die Frage ist nun, ob sich die Charaktergene im Laufe unseres Lebens durch unser Handeln verändern können. Die Antwortet lautet ›Ja‹, genau davon gehen wir heute aus.
Aber was löst nun die Einäscherung aus? Wir vermuten, dass ›böse‹ Handlungen eine ›böse‹ Genkombination zur Folge haben, die eine chemische Reaktion im Körper auslöst.
Bei extrem bösen Handlungen findet diese Genveränderung sehr schnell statt und die Einäscherung erfolgt sofort. Bei einem stetigen schlechten Handeln an der Grenze der Menschlichkeit verändern sich die Gene langsamer, aber das Ergebnis ist das gleiche. Die Folge ist immer die Einäscherung! Es scheint so, dass die Natur sich ab dem 20.12.2018 geweigert hat, Menschen mit einer ›bösen‹ Genkombinationen weiter zu akzeptieren – warum auch immer.
Soweit die einzige und damit auch aktuellste Theorie, die wir zu diesem Phänomen haben. Was wir genau wissen, und was alle Untersuchungen der letzten 260 Jahre bestätigt haben, ist, dass die Einäscherung die Folge unmenschlichen Verhaltens gegenüber anderen ist. Denn um es mit deinen Worten zu sagen, Anne: Es hat immer die Richtigen getroffen. Wenn du mich jetzt also fragst, ob es möglich ist, dass ein Mensch einen anderen kaltblütig erschießt, um ein furchtbares Verbrechen zu verhindern und dabei selbst nicht eingeäschert wird, dann sage ich dir, dass die Wissenschaft, nach ihrem heutigen Kenntnisstand, diese Frage nicht beantworten kann. Dennoch könnte es möglich sein.
»Es könnte möglich sein!« echote Anne.
»Aber...«, Sergeant Milton war dieses »Aber« entschlüpft, und er bereute es sofort.
»Aber was?« zischte Anne und erntete von Frank Wall ihre dritte hochgezogene Augenbraue an diesem Tag. »Tut mir leid«, sagte sie kleinlaut, »fahren Sie fort, Sergeant, meine Theorie ist mehr als wackelig. Einwände sind daher berechtigt.«
Sergeant Milton hatte einen Puls von circa 200, als er zögerlich sein »Aber« ausführte. »Na ja, ein vorsorglicher Mord würde sich aber schon ziemlich außerhalb unseres Rechtsverständnisses bewegen. Ich meine, wenn unser Toter bei einer Gewalttat erwischt worden wäre und ein Dritter hätte das durch einen Schuss verhindert – in Ordnung, ein klarer Fall von Notwehr. Aber diese Art der Selbstjustiz und dann die Art und Weise des Tötens ... Doktor, Sie sprachen von zwei Schüssen mit einer Schrotflinte. Die Leiche wurde mit dem Schuss in das Gesicht unkenntlich gemacht, das war meiner Meinung nach sehr überlegt. Allerdings kam der Schütze nicht auf die Idee, uns zu informieren. Warum erschießt jemand einen potenziellen Straftäter auf einer Waldlichtung, anstatt sich mit der Wache in Verbindung zu setzen? Genauso merkwürdig finde ich, dass wir kein Pferd in der Nähe der Leiche gefunden haben. Wie ist das Opfer auf die Waldlichtung gekommen?«
Anne lehnte sich stöhnend mit dem Kopf gegen die Fensterfront. Sehr zum Ärger von Frank, der jetzt schon wusste, dass sie Abdrücke auf der frisch geputzten Scheibe hinterlassen würde.
»Anne, du bist dran«, sagte Frank, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür und eine blasse Mildred stand im Türrahmen.
»Sir, es gibt noch einen Toten.« Sie schluckte schwer. »Ein Bote hat die Nachricht gebracht.«
»Wo, Mildred?« fragte Frank Wall behutsam. Mildred gab Frank Wall die Depesche.
Keiner der Anwesenden wagte zu atmen, Anne flüsterte nur »Wo?«
Frank sah von einem zum anderen, dann antwortete er: »In der Spielwelt, in der Spielwelt ...«